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Säuberungen in der russischen Armee: "Putin hat kaum eine Wahl"


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Militärexperte über russische Armee
"Dann wird es viele Überläufer geben"

InterviewVon Clara Lipkowski

Aktualisiert am 26.07.2023Lesedauer: 6 Min.
Putin (M.) mit seinem aktuellen Ukraine-Oberbefehlshaber Gerassimow (l.) und Verteidigungsminister Schoigu (r.).Vergrößern des Bildes
Putin (M.) mit seinem aktuellen Ukraine-Oberbefehlshaber Gerassimow (l.) und Verteidigungsminister Schoigu (r.). (Quelle: Sergei Savostyanov/Kremlin)

Der Wagner-Aufstand vor gut vier Wochen hat Russland erschüttert. Seither greift der Kreml in der Armee durch. Ein Militärexperte erklärt, wie es um Wagner-Chef Prigoschin und den verschwundenen General Surowikin steht.

Nach dem Wagner-Aufstand vor gut einem Monat ist die russische Armee weiter im Fokus des Kreml. Das Misstrauen ist groß, Kommandeure werden entlassen, zugleich ist der hochrangige General Sergej Surowikin weiter spurlos verschwunden.

Und obwohl Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin seit seinem abgebrochenen "Marsch auf Moskau" in Ungnade gefallen ist, scheint er sich unbeeindruckt weiter zwischen Russland und Belarus zu bewegen.

Wie es mit der russischen Militärelite weitergeht und warum die Armee so massive Probleme in der Ukraine hat, erklärt András Rácz, Militär- und Verteidigungsexperte bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Berlin.

t-online: Einen Monat ist der Aufstand von Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin jetzt her. Seither greift der Kreml in der russischen Armee rigoros durch. Wie geschwächt ist Putins Armee?

András Rácz: Die Rebellion hat im Grunde schon lange bestehende Probleme an die Oberfläche katapultiert. Unmittelbar danach wurden mindestens 15 Generäle verhaftet oder entlassen, General Sergej Surowikin, der seitdem verschwunden ist, eingeschlossen. Dass so etwas während eines laufenden Kriegs stattfindet, ist außerordentlich problematisch.

Noch dazu sind jüngst drei Militärs ums Leben gekommen, unter anderem der Stabschef der 35. Armee, der Kommandeur der russischen Operationen um Saporischschja. All das bringt die russische Armee noch weiter durcheinander.

Man hört regelmäßig Klagen russischer Soldaten über die schlechte Versorgung und Ausrüstung. Woher rühren die Probleme der Kreml-Truppen?

Die Zusammenarbeit zwischen den Teilstreitkräften ist schlecht. Die Kommunikation zwischen den Landstreitkräften und der Artillerie sowie zwischen den Landstreitkräften und der Luftwaffe ist teils katastrophal. Auch das ist ein Grund für die extrem hohen russischen Verluste im Gefecht.

András Rácz ist Senior Research Fellow bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, DGAP. Dort forscht er zu Russlands Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, zu den Beziehungen Russlands zu post-sowjetischen Ländern sowie Zentraleuropa und zur Außen- und Sicherheitspolitik von Belarus.

Wo hat sich das vor allem gezeigt?

Die Schlacht um Kiew zu Beginn des Kriegs hat alle Schwächen der Armee offengelegt: Der Krieg war wirklich schlecht geplant, die Geheimdienstarbeit mangelhaft, bis heute wird Putin mit geschönten Zahlen informiert. Dieser Angriff auf Kiew kam einem Himmelfahrtskommando gleich, absolut verrückt eigentlich. Und das Problem ist: Bis heute hat es die Armee nicht geschafft, diese Missstände zu beseitigen.

Der Kreml versucht es mit Neubesetzungen. Der Oberbefehlshaber in der Ukraine wurde bereits viermal getauscht. Auf Sergej Surowikin folgte zuletzt Waleri Gerassimow.

Dass die Zuständigkeiten häufig wechseln, zeigt auch ernsthafte strukturelle Probleme auf der Kommandeursebene. Surowikin blieb nur vier Monate. Im Januar kam Gerassimow. Surowikin wurde zu dessen Stellvertreter degradiert. Hinzu kam, dass zu Beginn des Kriegs etwa zehn Generäle im Gefecht getötet wurden. Auch das setzt der Effizienz der Einheiten zu.

Zu Beginn des Kriegs gab es außerdem keine einheitliche Kommandostruktur für die Ukraine. Es gab den westlichen Militärbezirk, der von westlichen Militäreinheiten kommandiert wurde. Genauso der südliche Bezirk. Erst in der zweiten Hälfte des letzten Jahres wurde eine übergeordnete Struktur geschaffen.

Surowikin war nach seiner Zeit in der Ukraine weiter ein einflussreicher General der Luftstreitkräfte. Er stellte sich als einer der Sympathisanten des "Marschs auf Moskau" heraus. Seither ist er verschwunden. Gibt es in Russland eine Zukunft für ihn?

Eine militärische Position halte ich für ausgeschlossen. In der Ukraine war er ein effizienter Kommandeur. Größere Fehler hat er nicht gemacht. Aber sollte er zurückkehren, dann nicht in die Armee. Womöglich als Abgeordneter im Parlament. Das ist in Russland nicht unüblich.

Auch der Kommandeur Iwan Popow musste zuletzt gehen. Er befehligte die 58. Armee, war beliebt und galt auch als militärisch erfolgreich.

Popow ist ein erfahrener Kommandeur. Aber seinen "Ungehorsam" innerhalb der Befehlskette konnte Gerassimow nicht dulden. Popow hatte zunächst intern kritisiert, dass die Artillerie schlecht arbeite, dass es viel zu viele Tote auf russischer Seite gebe. Er drohte, sich direkt an Putin zu wenden, an seinen Vorgesetzten vorbei, sollte er nicht gehört werden. Gerassimow ließ ihn feuern. Danach nahm er diese Audionachricht mit seiner deutlichen Kritik auf.

Als Popow klar wurde, dass er mit seiner Kritik nicht durchkam, schickte er seinem guten Bekannten, dem Duma-Abgeordneten Andrej Guruljow, die Aufnahme, der sie durchstach. Doch geholfen hat es nicht. Popow wurde nach Syrien versetzt – und Gerassimow hat sich durchgesetzt.

Riskiert Putin nicht noch mehr Unmut in der Truppe, wenn er beliebte Leute wie Popow gehen lässt?

Das ist schwer zu sagen. Wir haben kaum Informationen aus den Reihen der Soldaten. Zwar hat die ukrainische Seite russische Soldaten gefangen genommen, veröffentlicht darüber aber kaum Details. Es gibt Videos unzufriedener, in der Regel desertierter Russen, die über die schlechten Zustände in der Armee klagen. Aber die paar Aussagen aus der unteren Ebene, die nach oben kritisieren, sind nicht repräsentativ.

Kann Putin denn Gerassimow und Verteidigungsminister Schoigu noch trauen?

Putin hat kaum eine Wahl. Aber Schoigu ist das dienstälteste Mitglied der russischen Regierung. Er ist seit 1993 in Regierungsämtern, fast ununterbrochen als Minister. Er ist extrem loyal und unpolitisch. Schoigu wollte nie höher als zum Minister aufsteigen. Selbst wenn Putin ihm jetzt misstrauen würde, sähen wir die personellen Konsequenzen erst deutlich später.

Das macht Putin meist so: Eine Ablösung erfolgt eigentlich nie unmittelbar nach einem Fehltritt. Denn das würde bedeuten, dass der Kreml mit der Ernennung dieser Person einen Fehler gemacht hätte, es würde bedeuten, Schuld zuzugeben. Und das ist im System Putin ausgeschlossen. Schoigu also wird erst einmal bleiben.

Und Generalstabschef Gerassimow?

Wenn Gerassimow gehen muss, dann ebenfalls in vielleicht drei, vier Monaten. Er wird sicher mindestens Berater bleiben. Aber auch Gerassimow hatte nie großartige politische Ambitionen. Er ist klassischer Panzersoldat. Mit seinen 67 Jahren könnte er auch in Rente gehen. Es ist insgesamt schwer, das Level an Vertrauen in Putins engstem Kreis zu bewerten, seit jeher gibt es darum Gerüchte, viel Geheimniskrämerei. Für Putin zählt aber auf jeden Fall langjährige Loyalität.

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Interessant dabei ist, dass Putin jetzt die Nationalgarde, die eigentlich für Inlandseinsätze zuständig ist, stärkt und mit mehr Waffen ausstattet. Damit sollen sie wohl für künftige Rebellionen gewappnet sein. Deren Befehlshaber ist Wiktor Solotow. Er war früher Leibwächter Putins, steht ihm bis heute sehr nahe und ist dem Präsidenten qua Amt direkt untergeordnet.

Wie geht es weiter mit Prigoschin? Er war früher auch Putins Vertrauter, ist nun aber Persona non grata …

Prigoschin hatte das klare Ziel, Schoigu und Generalstabschef Gerassimow abzusetzen. Er hatte also konkrete politische Ziele. Deswegen spreche ich von Putsch.

Er soll inzwischen in Belarus sein, wurde in St. Petersburg gesehen, traf Putin in Moskau. Kann dieser Mann einfach tun, was er will?

Blickt man in die russische Geschichte, hatte jeder, der jemals einen Putsch versucht hat und damit gescheitert ist, keine Zukunft im System. Prigoschin wird es nicht anders gehen. Sein Unternehmen wird jetzt abgewickelt und sein Vermögen umverteilt. Sein politischer Einfluss ist dahin.

Wird er mit seinen Einheiten wieder in der Ukraine kämpfen?

Das halte ich für nahezu ausgeschlossen. Seine Einheiten mussten alle Waffen an den russischen Staat abgeben. Prigoschin und seine Männer hätten nichts, womit sie kämpfen könnten. Und die russische Armee hat selbst ein eklatantes Problem mit Waffennachschub, dass sie also Waffen an Wagner abgibt, ist sehr unwahrscheinlich. Die Wagner-Einheiten hatten sehr hohe Verluste, sie sind erschöpft, und jetzt haben sie noch das Problem, dass ihr Chef in Ungnade gefallen ist und auch sie selbst entscheiden müssen, für wen sie eigentlich kämpfen wollen – Prigoschin oder den Kreml.

Das alles weiß Prigoschin auch, deswegen hat er seine Kämpfer bis August in die "Sommerferien" geschickt. Auch er muss die Dinge neu ordnen. Genauso wie der Kreml, der noch die Folgen des Putsches bewältigen muss. Aber sicher ist: Das verzeiht der Kreml ihm nicht.

Andererseits sind die Wagner-Kämpfer wichtig für den Kreml. Prigoschins Einheiten sind in rund 15 Ländern an Kriegen oder Konflikten beteiligt, in Syrien, in Afrika.

Die Frage ist, inwieweit Prigoschins Männer loyal bleiben. Macht der Kreml ein besseres Angebot, dann wird es viele Überläufer geben.

Herr Rácz, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit András Rácz am 20. Juli 2023
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