Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Wahl in der Türkei Jetzt greift er nach der Macht
Bei der Türkei-Wahl hat Kemal Kılıçdaroğlu realistische Chancen, Recep Tayyip Erdoğan als Präsident abzulösen. Aber würde der Langzeitherrscher eine Niederlage akzeptieren? Ein Gastbeitrag von Walter Glos.
Am 14. Mai 2023 wählt die Türkei ein neues Parlament sowie einen Präsidenten. Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan wird von CHP-Politiker Kemal Kılıçdaroğlu herausgefordert. Die Spitzenkandidaten werden neben ihren Parteien von politischen Bündnissen unterstützt. Der sogenannte Sechsertisch der Opposition integriert ein breites politisches Spektrum.
Das als Nationalallianz formierte Bündnis hat zum Ziel, das 2018 durch die Einführung des Präsidialsystems geschwächte Parlament wieder zu stärken. Dazu kritisiert es scharf die Migrations- und Wirtschaftspolitik der aktuellen Regierung. Der Präsident wird seinerseits durch die Volksallianz unterstützt. Ein ebenfalls heterogenes Bündnis, bei dem vor allem die radikalen Parteien auffallen. Überschattet wird der Wahlkampf auch noch durch die schweren Erdbeben, die im Februar den Südosten der Türkei erschüttert haben.
Auch wenn von den möglichen Kandidaten aus den Reihen der Opposition Kılıçdaroğlu nicht die höchsten Zustimmungswerte hatte, hat er sich als Präsidentschaftskandidat behauptet und sich unter anderem gegen den Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu durchgesetzt. Häufig genannter Grund ist, dass nur Kılıçdaroğlu in der Lage sei, die ideologischen Unterschiede des oppositionellen Bündnisses zu überbrücken. Echte Begeisterung für den CHP-Politiker kommt indes nicht auf.
Ein knappes Rennen
Dennoch hält das Bündnis und bringt sein gesamtes politisches Kapital gegen Erdogan am 14. Mai auf die Waage. Damit stehen die Chancen der Opposition, einen Sieg bei der Wahl zu erringen, besser als in den letzten zwei Wahlen. Ob es reicht, wird sich allerdings erst nach dem Wahltag zeigen. Denn alle seriösen Umfragen zeigen nach wie vor ein knappes Rennen, mit beiden Kandidaten Kopf an Kopf.
Walter Glos leitet das Auslandsbüro der Konrad-Adenauer-Stiftung in der Türkei.
Die Umfragen sind in der Türkei ein heiß diskutiertes Thema. Sind sie verlässlich oder stehen sie im Interesse einer Partei? Hinzu kommt, dass die verbreitete Frustration nicht automatisch zur Unterstützung der Opposition führt. Das Ergebnis wird knapp ausfallen. Angesichts der insgesamt vier aufgestellten Kandidaten ist es jedoch unwahrscheinlich, dass Erdogan oder Kılıçdaroğlu die absolute Mehrheit der Stimmen im ersten Wahlgang erhalten. In diesem Fall kommt es am 28. Mai zur Stichwahl. In den zwei Wochen kann der amtierende Präsident zusätzliche Gründe liefern, ihn zu wählen.
Kılıçdaroğlu ist trotz vieler Niederlagen bemüht, seine Person in möglichst großem Kontrast zum jetzigen Präsidenten zu inszenieren. Videobotschaften aus seiner privaten Küche zeigen einen einfachen Mann aus dem Volk. Gerechtigkeit und Verlässlichkeit sind seine Kernbotschaften. Ob die türkische Wählerschaft sich von dieser Erzählung angesprochen fühlt, wird sich zeigen. Denn Erdoğan ist in der Türkei nicht zuletzt deshalb beliebt, weil er bereit ist, die Interessen der Türkei gegebenenfalls auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen.
Parteien mobilisieren mit Flüchtlingsfrage
Kılıçdaroğlus Partei, die CHP, ist traditionell westlich orientiert. Die Nähe zu Europa wird betont. Kılıçdaroğlu will einen Neustart mit der EU anstreben. Da die Mitgliedschaft in weite Ferne gerückt ist, kann es zunächst nur um eine Visa-Liberalisierung und eine Erneuerung der Zollunion gehen. Was vielen in der EU jedoch nicht schmeckt: Kılıçdaroğlu will den Flüchtlingsdeal mit Brüssel neu verhandeln.
Da die politische Türkei in westlichen Medien häufig in grellen Farben porträtiert wird, sind die mit einem Sieg der Opposition verbunden Hoffnungen zu überdenken. Während die Opposition im "Economist", im "Time Magazine" oder "Spiegel" wie die letzte Verteidigungslinie gegen die autokratischen Ambitionen der aktuellen Regierung erscheint, mobilisiert sie innerhalb der Türkei stark über das Migrationsthema. Seit Mitte 2021 haben Parteien des Oppositionsbündnisses das Potenzial einer Politisierung der syrischen und afghanischen Flüchtlinge erkannt. Seitdem hat sich die Tonlage stetig verschärft.
Mittlerweile hat auch die AKP Erdoğans Handlungsbedarf erkannt. Seit Beginn des Jahres kommt es zu einem kontinuierlichen Austausch zwischen Ankara und Damaskus. Maßgeblich durch Russland initiiert und gefördert. Doch bisher sind keine Durchbrüche zu verzeichnen. Nicht zuletzt, weil Assads Regime einen Abzug türkischer Truppen aus Nordsyrien zur Bedingung von Verhandlungsfortschritten gemacht hat. Dieser Forderung von türkischer Seite nachzugeben kollidiert jedoch mit der Prämisse des Militäreinsatzes in Nordsyrien: Ohne türkische Präsenz droht die gesamte Region in die Hände der YPG/PKK und der Überreste des Islamischen Staates zu fallen.
Akzeptiert Wahlverlierer das Ergebnis?
Damit wäre wiederum die nationale Sicherheit der Türkei bedroht. Diese Perspektive ist parteiübergreifender Konsens in der Türkei. Solange aber die türkische Seite keine Konzepte vorlegt, die eine Rückgabe der syrischen Territorien an Damaskus beinhaltet, wird Assad sich in Zurückhaltung üben. Somit ist es zugleich schwer, einen Deal zu erzielen, der eine Rückführung nennenswerter Kontingente syrischer Bürger enthält.
Doch weder Regierung noch Opposition verfügen über belastbare Konzepte, wie diese Situation grundlegend verändert werden könnte. So mag es ein politisches Anliegen sein, die Zahl der sich in der Türkei aufhaltenden Migranten und Flüchtlinge nach unten zu korrigieren. Jenseits populistischer Slogans gibt es aber so gut wie keine umfassenden Konzepte, wie genau das umgesetzt werden kann und soll.
Sofern es zu ein knappes Ergebnis wird, kommt viel auf den Umgang des Verlierers mit dem Resultat an. Dass Demokratien zum Zeitpunkt des Machtwechsels besonders verletzlich sind, haben andere Beispiele in den letzten Jahren gezeigt. Vor diesem Hintergrund kommen Fragen der Wahlsicherheit besondere Aufmerksamkeit zu. Kılıçdaroğlu forderte die türkischen Bürger jüngst dazu auf, am Wahlabend zu Hause zu bleiben, um gewaltsame Unruhen zu vermeiden.
Suche nach Stabilität
Der türkische Parlamentspräsident Mustafa Şentop (AKP) reagierte prompt: "Obwohl solche Äußerungen gut gemeint sein mögen, sind sie tatsächlich provozierend. Einerseits scheint es ein Aufruf zur Ruhe zu sein, aber die vorgetragenen Gründe enthalten eine eindeutige Provokation."
Wo der oppositionelle Ruf nach Stabilität die Regierungsseite derart reizt, hatte die politische Polarisierung eine Woche vor der Wahl ihren Gipfelpunkt erreicht. So wird es jetzt darauf ankommen, ob Erdoğans Selbsterzählung, nur er könne die mannigfaltigen Krisen der Türkei bewältigen, ausreichend zu mobilisieren vermag. Am vergangenen Wochenende besuchten immerhin 1,7 Millionen Menschen Wahlveranstaltungen der AKP.
Auf Wählerseite stellt sich hingegen die Frage, ob nach zwei Dekaden AKP eine letzte Amtszeit des Präsidenten die angesichts der Situation nötige Stabilität garantiert – oder ob die Mehrheit der türkischen Bevölkerung ihrem Wunsch nach Wechsel Ausdruck verleiht.
- Recherchen von Walter Glos