EU-Gipfel in Brüssel Europas Reparatur muss warten
Im Sommer gingen Menschen für Europa auf die Straße – im Herbst machte die eurokritische AfD Furore. Mehr Europa oder weniger? Das treibt auch Angela Merkel und ihre Kollegen beim EU-Gipfel um. Denn einer drängelt.
Es war ein kühler Abend Ende September in Tallinn, man saß zusammen bei estnischem Black Angus Rind an Auberginenkaviar und Wacholdersauce und staunte – über Emmanuel Macron. Der junge französische Präsident machte mit seinen forschen Reformvorschlägen für Europa mächtig Wirbel beim Abendessen der 28 EU-Staats- und Regierungschefs in der estnischen Hauptstadt - und sorgte bei manchem wohl auch mächtig für Unbehagen. Mehr Europa? So viel mehr Europa? Ausgerechnet jetzt?
Merkel tritt auf die Bremse
So kam es, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel und die übrigen Chefs sanft auf die Bremse traten. EU-Ratspräsident Donald Tusk erhielt den Auftrag, bis zum EU-Gipfel Ende dieser Woche einen Fahrplan für konsensfähige Reparaturen am europäischen Haus vorzulegen, frei nach der Devise: Macrons Energie in die Bahnen des Machbaren lenken.
Tusk reiste kreuz und quer durch Europa und hechelte mit jedem Staatenlenker einzeln durch, was geht. Am späten Dienstagabend legte Tusk dann seine "Leader's Agenda" vor – ein dicht gepacktes, allerdings sehr realpolitisches Programm für die Zeit bis zur Europawahl im Juni 2019. Am Freitag wollen Merkel und ihre EU-Kollegen Tusks Plan in Brüssel beim Frühstück besprechen.
Nur eineinhalb Stunden eingeplant
Dass für das Riesenthema beim zweitägigen Gipfel im Reigen zwischen den Türkei-Beziehungen, der Cybersicherheit, Nordkorea und dem Brexit nur eineinhalb Stunden eingeplant sind, zeigt wohl auch: In den gut zwei Wochen seit jenem Abendessen in Tallinn haben sich die Gewichte in der EU weiter in Richtung der Bremser verschoben.
Nicht nur, dass die FDP in Deutschland Kanzlerin Merkel streng ermahnt hat, sich vor der Koalitionsbildung keinesfalls auf ambitionierte Europa-Reformen einzulassen: "Es dürfen keine Festlegungen getroffen werden", verlangte Parteichef Christian Lindner. Nicht nur, dass Spanien wegen Katalonien und Irland wegen des Brexits mit sich selbst beschäftigt sind.
Kurz wirbt für abgespeckte EU
Am Sonntag folgte dann auch noch der Rechtsruck bei der Wahl in Österreich. Der wahrscheinliche künftige Kanzler Sebastian Kurz bekennt sich klar zu Europa, wirbt aber für eine abgespeckte EU und eine Menge Kompetenzen für die Nationalstaaten. Damit rückt er näher an seine Nachbarn in Ungarn, Polen, Tschechien und der Slowakei.
Gerade diese jüngeren EU-Staaten im Osten sind ziemlich verschreckt durch die Pläne, die Macron kurz nach der Bundestagswahl in seinem europapolitischen Rundumschlag in der Pariser Sorbonne vorlegte. Mehr gemeinsame Verteidigung, mehr gemeinsamer Zivilschutz, eine Europäische Asylbehörde, eine Finanztransaktionssteuer, mehr Klimaschutz, eine Agrarreform, und nicht zuletzt: eine vertiefte Wirtschafts- und Währungsunion.
Das ist alles kaum vereinbar mit dem Wunsch, Macht aus Brüssel zurückzuholen in die europäischen Hauptstädte. Und Macrons Augenmerk auf eine schlagkräftige Währungsunion beunruhigt jene, die den Euro nicht haben, darunter Polen und Ungarn. Sie fürchten das Abseits in Macrons Europa – nicht zu unrecht, denn der französische Präsident hat eine klare Ansage gemacht: "Die Vorstellung, dass derjenige, der am wenigsten möchte, die Anderen blockieren kann, ist ein Irrglaube." Soll heißen: Dann gehen die Willigen eben alleine geschwind voran.
28 sehr unterschiedliche Länder mit sehr unterschiedlichen Interessen
Ratspräsident Tusk, selbst ehemaliger polnischer Regierungschef, steuert dagegen. Er sieht es ausdrücklich als Auftrag, alle 28 EU-Länder mitzunehmen. "Wir können uns den heutigen Unsicherheiten nur entgegenstellen, wenn wir im Einklang miteinander handeln, da einzelne Länder zu klein sind, damit fertig zu werden", schrieb Tusk im Begleitbrief zu seiner Agenda.
28 sehr unterschiedliche Länder mit sehr unterschiedlichen Interessen auf einen Reform-Nenner zu bringen, ist allerdings eine ungleich kleinteiligere Aufgabe als die großen Linien von Macron. Deshalb nimmt sich Tusk politische Projekte vor, die für alle EU-Staaten halbwegs akzeptabel sind und obendrein als bürgernah gelten: mehr Sicherheit, weniger Zuwanderung und etwas mehr Stabilität und Krisensicherheit für den Euro.
"Wir sollten uns auf praktische Lösungen für echte Probleme der EU-Bürger konzentrieren", schrieb er. "Das bedeutet Veränderungen – aber nicht um der Veränderung Willen, sondern um ein Gefühl der Stabilität, Sicherheit und Vorhersehbarkeit im Leben der Menschen wieder herzustellen und Zuversicht für die Zukunft." Im Zweifel, so Tusks Lösungsansatz, sollen sich die Staats- und Regierungschefs häufiger treffen und direkt schwierige Fragen selbst entscheiden.
Macron will eine "Neubegründung"
Der pragmatische Ansatz passt wohl den Skeptikern, die in Zeiten von AfD und Co Europa eher deckeln wollen. Und er passt den Realpolitikern wie Kanzlerin Merkel, die selbst fest zu Europa steht und auch gegen verschiedene Geschwindigkeiten nichts hat – aber bei Reformen weit weniger Ambitionen zeigt als Macron.
Nur der französische Präsident wird dem Kleinklein wohl wenig abgewinnen. "Das Europa, wie wir es kennen, ist zu schwach, zu langsam, zu ineffizient", sagte er in der Sorbonne. Nötig sei die "Neubegründung". Bei Tusk ist da wenig zu sehen. Ob es am Ende mit einer europäischen Bankensicherung getan ist, ob eine "Digitalagenda" reicht, die Bürger nach Europa zurückzuholen? Der Richtungsstreit ist eröffnet.