Junckers düsteres Fazit "Die EU befindet sich in einer existentiellen Krise"
Zwei Tage vor dem Treffen der EU-Staaten in Bratislava hat Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker eine Rede zur Lage der Union gehalten. Sein düsteres Fazit: "Die Europäische Union befindet sich in einer existenziellen Krise."
Die Rede war mit Spannung erwartet worden, gibt es doch viele Themen, die die EU derzeit spalten. Die Europaabgeordneten erwarteten deshalb nicht weniger als klare Signale für Wege aus der Krise. Juncker wiederum nahm die Mitgliedsstaaten in die Pflicht.
Diese sprächen zu oft nur von ihren eigenen nationalen Interessen, mahnte Juncker im Europaparlament in Straßburg. "Die Zahl der Bereiche, in denen wir solidarisch zusammenarbeiten, ist zu klein."
"Populismus löst keine Probleme"
Der Kommissionspräsident warf den EU-Regierungen vor, zu oft nationalen Interessen Vorfahrt einzuräumen und warnte davor, Populisten in die Hand zu spielen. "Populismus löst keine Probleme - im Gegenteil: Populismus schafft Probleme." Bei dem Gipfel der Staats- und Regierungschefs zur Zukunft der Union am Freitag verlangte Juncker eine "ehrliche Bestandsaufnahme" und auch mehr Anstrengungen gegen Arbeitslosigkeit und für ein sozialeres Europa.
Brexit ist Symptom der Krise
Den Brexit sieht Juncker als ein Symptom der derzeitigen Krise, denn die derzeit noch 28 Staaten seien darüber tief zerstritten, wie Wirtschaftsflaute, Flüchtlingskrise und Terror überwunden werden können.
Der EU-Austritt Großbritanniens ist für Juncker aber nicht der Beginn eines Auflösungsprozesses Europas. Die EU bedauere die Entscheidung der Briten, "aber die Europäische Union ist in ihrem Bestand nicht gefährdet", versicherte er.
Mit Blick auf die Austrittsverhandlungen mit Großbritannien bekräftigte der Kommissionspräsident, dass London "keinen Binnenmarkt à la Carte" bekommen könne. In den anstehenden Verhandlungen über die künftigen Beziehungen werde es ungehinderten Zugang zum europäischen Wirtschaftsraum nur geben, wenn die britische Regierung die Freizügigkeit für EU-Bürger akzeptiere.
Kehrtwende bei Flüchtlingsquoten signalisiert
In der Frage fester Flüchtlingsquoten deutete der Kommissionspräsident eine Kehrtwende an. Solidarität könne Mitgliedstaaten nicht auferlegt werden, so Juncker. "Solidarität muss freiwillig sein, muss von Herzen kommen", erklärte er. Zugleich rief er die EU-Staaten auf, ihren "fairen Anteil" zu übernehmen, Flüchtlinge umzusiedeln oder auch beispielsweise aus der Türkei aufzunehmen.
Zuvor hatte Junckers Kommission ein verpflichtendes Schema zur Verteilung von 160.000 Flüchtlingen in Griechenland, Italien und anderen überforderten Staaten innerhalb von zwei Jahren aufgestellt. Die Slowakei, die gegenwärtig den EU-Ratsvorsitz innehat, und andere Staaten weigerten sich allerdings, dem Plan zu folgen. Ungarn leitete sogar juristische Schritte ein. Innerhalb eines Jahres wurden weniger als 5000 Flüchtlinge gemäß des Verteilungsplans verlegt.
Juncker-Plan verdoppeln
Zur Ankurbelung der Wirtschaft kündigte Juncker an, sein 2014 gestartetes Investitionsprogramm zu verdoppeln: Statt 315 Milliarden Euro binnen drei Jahren sollen nun 630 Milliarden bis 2020 erreicht werden.
Der sogenannte Juncker-Plan soll mit einem kleinen Anteil öffentlicher Gelder vor allem private Investitionen anstoßen. Die Finanzierung der Verdoppelung des Programms in Volumen und Dauer ist allerdings noch nicht geklärt. Als gesichert gilt nach Junckers Worten nur ein Gesamtvolumen von 500 Milliarden Euro bis 2020. Nötig sind darüber hinaus weitere Mittel aus dem EU-Haushalt wie auch von den Mitgliedsstaaten.
Keine Nachverhandlungen bei Ceta
Nachverhandlungen mit Kanada über das Freihandelsabkommen Ceta schloss Juncker aus. "Die Garantien, die wir brauchen, können in den Parlamenten präzisiert und ausverhandelt werden". sagte er. "Aber Nachverhandlungen kann es nicht geben." Ceta sei das "beste und fortschrittlichste" Handelsabkommen, das die Europäische Union je abgeschlossen habe.
Der Handelsvertrag ist in den Mitgliedstaaten umstritten. Kritisiert wird insbesondere die vorgesehene Einrichtung von Schiedsgerichten für die Lösung von Konflikten.
Neuausrichtung in Bratislava?
Am Freitag kommen die Staats- und Regierungschefs der anderen 27 EU-Länder in der slowakischen Hauptstadt Bratislava zusammen, um die Weichen für eine Neuausrichtung der EU zu stellen. Schwerpunkte sollen laut EU-Ratspräsident Donald Tusk insbesondere Sicherheitsfragen und Grenzschutz sein.