Ernüchterung vor EU-Gipfel "Koalition der Willigen" besteht nicht mehr
Noch vor dem Beginn des EU-Gipfels in Brüssel ist in Sachen Flüchtlingskrise Ernüchterung eingekehrt. Die "Koalition der Willigen", die bereit war, mit der Türkei über Aufnahmekontingente von Flüchtlingen zu sprechen, existiert nicht mehr. Dies ist zumindest die Ansicht des österreichischen Vizekanzlers Reinhold Mitterlehner.
"Es kann jeder ableiten, dass die Koalition der Willigen in der Form offensichtlich nicht mehr besteht", sagte der konservative Politiker unmittelbar vor dem Gipfel. Ursprünglich waren für Donnerstag Gespräche der "Koalition der Willigen" vorgesehen.
Diese sagte Österreichs Bundeskanzler Werner Faymann als Gastgeber am Mittwochabend aber ab, nachdem zuvor der türkische Regierungschef Ahmet Davutoglu nach dem Bombenanschlag von Ankara auf seine Reise nach Brüssel verzichtet hatte. Weil sich bisher nicht alle 28 EU-Staaten auf eine gemeinsame Linie einigen konnten, wollte die Gruppe mit der Türkei über eine mögliche Übernahme von Flüchtlingskontingenten verhandeln.
Österreich führt Tagesobergrenzen ein
Dies scheint nun nicht mehr zu gelten. Ausdruck der neuen Marschrichtung in Wien seien auch die Maßnahmen seines Landes, sagte Mitterlehner. Österreich hatte zuletzt Tagesobergrenzen für die Einreise und Aufnahme von Flüchtlingen beschlossen. Die Zahl der Asylanträge soll von Freitag an auf 80 pro Tag beschränkt werden.
Der ÖVP-Politiker sagte, diese Maßnahmen seien nötig, weil die EU die Außengrenzen weiter nicht wirksam schütze. "Solange das nicht ausreichend passiert, kann nicht alles auf Österreich abgeladen werden."
Verstoß gegen internationales Recht?
Wiens Pläne verstoßen nach Ansicht der EU-Kommission allerdings gegen internationales Recht. Die Begrenzung der Zahl von Asylanträgen sei nicht mit der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Genfer Konvention sowie mit Artikel 18 der EU-Grundrechtecharta vereinbar, schrieb EU-Flüchtlingskommissar Dimitris Avramopoulos in einem Brief an die österreichische Innenministerin Johanna Mikl-Leitner.
Er fordere, die Maßnahmen zu überdenken. "Österreich hat eine rechtliche Verpflichtung, jeden Asylantrag zu akzeptieren, der auf seinem Territorium oder an seiner Grenze gestellt wird", schrieb Avramopoulos.
"Wir bleiben dabei"
Faymann konterte die Kritik: "Es ist undenkbar, dass Österreich die Flüchtlinge ganz Europas aufnimmt." Die Juristen würden auf den Vorwurf der EU-Komission reagieren. "Politisch sage ich: Wir bleiben dabei." Faymann sagte auch, er habe mit EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker ein freundschaftliches Gespräch über das Thema geführt und bisher von anderen Staats- und Regierungschefs der EU keine Kritik gehört.
Der SPÖ-Politiker kündigte an, sich wie Bundeskanzlerin Angela Merkel weiter für eine europäische Lösung einzusetzen. "Ich werde sie voll unterstützen, zu einer Regelung mit der Türkei zu kommen. Nicht, weil ich so ein Illusionist bin, sondern weil sie Recht hat." Jeder Fortschritt, die illegale Migration aus der Türkei zu reduzieren, sei notwendig und richtig.
In Brüssel sind am frühen Abend die Staats- und Regierungschefs der EU zusammengekommen, um bei dem zweitägigen Gipfel über die Flüchtlingskrise und über die Abwendung eines britischen Austritts aus der Union zu verhandeln. Für den späteren Abend ist eine Pressekonferenz mit Kommissionspräsident Juncker und Ratspräsident Donald Tusk vorgesehen.