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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Let´s talk about Sex Experte fordert mehr Sex-Gespräche in deutschen Arztpraxen
Besuch in der Arztpraxis: Wir sprechen offen über Bauchschmerzen, Halskratzen und Rückenprobleme. Aber über Sex? Da schweigen wir lieber und schauen verlegen zu Boden. Nicht nur Patienten, auch Ärzte stehen immer wieder vor dieser Hemmschwelle. Zum Problem wird das spätestens dann, wenn aufgrund falscher Scham Fehldiagnosen gestellt werden.
"Redet endlich über Sex!", fordern die beiden Wissenschaftler Kurt April und Johannes Bitzer, die sich mit dem großen Schweigen in Schweizer Arztpraxen beschäftigt haben. Sie erwarten von ihren Kollegen mehr Offenheit gegenüber ihren Patienten. Nur wer gezielt frage – auch nach der Sexualität – könne die Gesundheit richtig einschätzen und Fehldiagnosen verhindern, so der Appell der Experten, die sich für den gemeinnützigen schweizerischen Ärzteverein "Dr. Sexual Health, Ärzte für sexuelle Gesundheit" engagieren. Und wie sieht es in Deutschland aus?
Auch in deutschen Praxen ist Sex oft tabu
Dass auch in deutschen Praxen zu oft geschwiegen wird, bestätigt Dipl.-Psychologe Steffen Taubert von der Deutschen AIDS-Hilfe. Unter dem Namen "Let´s talk about Sex" bietet er Ärztefortbildungen an, die mehr Offenheit gegenüber sexuellen Themen zum Ziel haben. Das Angebot stößt auf Interesse. "Viele Ärzte sind froh, Hilfestellung für diese besondere Art der Kommunikation zu bekommen", sagt Taubert. "Dennoch gibt es nach wie vor Bedarf an mehr Aufklärung in diese Richtung", so der Experte.
Falsche Scham kann Fehldiagnosen nach sich ziehen
Das Schweigen wird spätestens dann zum Problem, wenn der Arzt Gefahr läuft, aufgrund fehlender Informationen eine falsche Diagnose zu stellen. "Das Risiko einer Fehldiagnose ist ein relevantes Problem. Wenn ich mich nicht traue, offen über Symptome und Hintergründe zu sprechen, kann es passieren, dass die Diagnostik in eine ganz andere Richtung läuft", warnt Taubert. "Traut sich der Arzt ebenfalls nicht, gezielter nachzufragen, steigt die Gefahr einer falschen Einschätzung zusätzlich." So kann es passieren, dass vorhandene sexuelle Erkrankungen und Störungen nicht rechtzeitig erkannt und behandelt werden.
Patienten wollen ernst genommen werden
Dabei brauchen viele Patienten nur einen kleinen Anstoß, um sexuelle Themen anzusprechen, wie der Experte aus seiner Erfahrung weiß. "Hat der Arzt beispielsweise eine Schachtel Viagra auf dem Tisch, kann dies für einige Patienten schon eine Brücke für ein offenes Gespräch darstellen." Auch aufklärende Plakate in Wartezimmern machen vielen Patienten Mut, ihre Fragen zu stellen. "Hat der Patient das Gefühl, dass es in der Praxis keine Vorurteile gibt und das Personal offen mit Fragen der Sexualität und sexuellen Orientierung umgeht, kann dies sehr erleichternd sein."
Grenzen müssen eingehalten werden
Zudem muss sich der Arzt trauen, die richtigen Fragen zu stellen - ohne dabei rot zu werden. Denn seine Unsicherheit überträgt sich auch auf den Patienten, der dann ebenfalls zögert, peinliche Anliegen anzusprechen. Dabei geht es nicht um tabulose Kommunikation, sondern um ein einfühlsames Gespräch, bei dem Grenzen eingehalten werden.
Wie positiv sich ein offenes Wort auf die Arzt-Patient-Beziehung auswirkt, beweist das folgende Beispiel. Taubert berichtet von einem Arzt, der im Gespräch mit einer Patientin in den Wechseljahren das Thema Scheidentrockenheit aktiv ansprach und auf mögliche Lösungswege hinwies. Statt peinlich berührt zu sein, freute sich die Patientin über die Offenheit und das Interesse ihres Arztes, der die erste Brücke zu einem unangenehmen Thema geschlagen hatte. Sie berichtete offen über ihre Beschwerden und empfahl den Mediziner ihren Freundinnen weiter.
Beide Seiten profitieren von mehr Offenheit
Diese Schilderung steht stellvertretend für viele Situationen, in denen Patienten nur auf den richtigen Moment warten, um mit der Sprache herauszurücken. Das Ziel der Ärzte sollte also sein, diesen Anstoß zu geben: unaufdringlich, feinfühlig und ernsthaft.
Auf der anderen Seite muss sich auch der Patient bewusst machen, dass ihm nur geholfen werden kann, wenn er sich traut, Symptome, Erlebnisse und Sachverhalte zu schildern, die ihm unangenehm sind. Nur wenn beide offen sprechen, kann die Zusammenarbeit funktionieren.
Beratungsstellen bieten erste Orientierung
Wer sich als Patient so gar nicht traut, seinem Arzt in die Augen zu schauen, kann die Angebote verschiedener Beratungsstellen, darunter auch die Deutsche AIDS-Hilfe, wahrnehmen. Hier bekommt er eine erste Hilfestellung - auf Wunsch anonym - über das Telefon oder per E-Mail. "Auch wenn die Berater keine Ferndiagnosen stellen können und dürfen: Oft können sie helfen, Ängste bei Fragen zu Sexualität und Geschlechtskrankheiten abzubauen und verweisen im Bedarfsfall auf den richtigen Arzt", erklärt Taubert.
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.