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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Eine Gewissensfrage Sollte man Bettlern Geld geben?
Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, auf bettelnde Menschen zu reagieren: Ignorieren, geben, übersehen. Doch wie reagiert man richtig? t-online.de hat sich mit dieser Frage auseinandergesetzt.
Eine Fahrt mit der U8 in Berlin. Die Fahrgäste sind bunt gemischt: Arbeiter, Büroangestellte, Jugendliche, Touristen, Eltern mit ihren Kindern und ältere Menschen. Alle Hautfarben und Kulturen fahren gemeinsam in der Bahn. Auch an Bord: obdachlose und bettelnde Menschen.
"Hallo zusammen! Es tut mir leid, dass ich euch kurz stören muss. Nur ganz kurz. Ich bin Dennis, 19 Jahre alt und ich lebe schon seit drei Monaten auf der Straße. Ich will wieder von der Straße wegkommen und habe sogar eine Sozialarbeiterin, die mir hilft, einen Platz in einer WG zu finden. Vielleicht hat jemand etwas Kleingeld übrig, oder etwas zu trinken oder zu essen und kann mich so unterstützen." Wer regelmäßig die U-Bahn nimmt, wird Dennis wiedersehen. Er erzählt dieselbe Geschichte jedes Mal.
Es ist nur eine von vielen Schilderungen, die man hören kann, wenn man sich nicht mit seinen Kopfhörern oder dem gezielten Blick auf sein Smartphone von der Außenwelt abschottet.
Lässt man die Menschen und ihre Schicksale an sich heran, wird man unweigerlich mit Fragen konfrontiert. "Sollte ich etwas geben – oder versäuft er das nur?", "Warum geht er nicht arbeiten?", "Wie ist er auf der Straße gelandet?", "Warum macht der Staat nichts?" Oder auch: "Stimmt die Geschichte überhaupt?"
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Die Zahl der Wohnungslosen steigt sprunghaft an
Genaue Zahlen darüber, wie viele Menschen in Deutschland auf der Straße wohnen, gibt es nicht. Das liegt unter anderem daran, dass es keine bundesweite Obdachlosenstatistik gibt. Nach aktuellen Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) ist die Zahl der Menschen ohne Wohnung in Deutschland deutlich angestiegen. Im Jahr 2016 gab es geschätzt rund 422.000 Wohnungslose. Zwei Jahre zuvor waren es rund 335.000 Menschen. Sie leben zumeist in Sammelunterkünften und nicht auf der Straße. Die Zahl der Obdachlosen ohne Unterkunft schätzt die BAGW auf 52.000.
Dazu kamen 2016 rund 436.000 anerkannte Flüchtlinge, die ohne eigene Bleibe in Gemeinschaftsunterkünften leben. Zusammengenommen ergibt das geschätzte 860.000 Menschen in Deutschland, die wohnungslos sind.
Armut hat viele Geschichten
Sozialarbeiter und Armutsverbände beobachten, dass die Obdachlosen immer jünger, weiblicher und internationaler werden. Dabei wollen viele Obdachlose nicht auffallen und leben an unauffälligen Orten wie im Wald oder in Parks.
Doch wieso landen Menschen auf der Straße? Dieter Puhl von der Berliner Bahnhofsmission macht generell drei Gründe dafür aus, wenn auch jedes Schicksal ganz individuell ist. Er nennt psychische Erkrankungen, das Aufeinandertreffen von mehreren schweren Schicksalsschlägen, die er "biografische Katastrophen" nennt, oder Missbrauchs- und Gewalterfahrung in der Kindheit, die nicht verwunden werden können.
Die Betroffenen haben oft kein soziales Netz wie Familie, Freunde oder aufmerksame Nachbarn, die sich sich vor dem Verlust der Wohnung um sie kümmern. "Menschen werden dann obdachlos, wenn sie keinen Platz mehr in der Gesellschaft finden", sagt Puhl.
Die Kommunen sind lediglich dazu verpflichtet, Schlafnotstellen und Wohnraum zur Vermeidung von Obdachlosigkeit zur Verfügung zu stellen. Was bürokratisch klingt, heißt konkret: Menschen, die sich selbst nicht mehr helfen können, landen auf der Straße.
Helfen oder nicht helfen?
Was heißt das jetzt fürs Betteln? Niemand muss etwas geben. "Das können Sie ganz entspannt selbst entscheiden", sagt Puhl. Eigentlich alles gut also. Doch was, wenn die innere Auseinandersetzung mit der Armut anderer ganz und gar nicht entspannt verläuft, sondern negative Gefühle oder ein schlechtes Gewissen verursacht?
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Man sollte sich auf keinen Fall gegen die Auslöser des schlechten Gewissens richten, gibt Puhl zu bedenken. "Ein obdachloser Mensch ist für Ihr Gewissen nicht verantwortlich, das sind Sie alleine. Es ist aber so, dass viele dann am liebsten sagen 'den möchte ich gar nicht sehen, weil ich möchte ja kein schlechtes Gewissen haben.'"
Auch wenn es als belastend empfunden werden kann, kann eine Auseinandersetzung mit den Lebenswelten anderer im Sinne der Solidarität nur gut sein.
Was können und wollen wir tun?
Ist jede Spende hilfreich oder verschlimmert man vielleicht die Situation? Etwa 70 Prozent der obdachlosen Menschen leiden an einer Suchterkrankung. Vielen Menschen ist die Vorstellung zuwider, einen etwaigen Alkoholkonsum durch ihre Spende zu finanzieren. Puhl sagt dazu: "Eine Alkoholerkrankung ist keine Befindlichkeit. Wenn es einen Schalter geben würde, der die Erkrankung stoppen könnte, würden die meisten diesen gerne umlegen."
Bei der Frage, ob die Spenden bei der "richtigen Person" ankommen, gibt es keine Objektivität. Wem Sie etwas geben, können Sie ganz frei entscheiden. Sympathie ist dabei ein valides Kriterium, wie bei anderen zwischenmenschlichen Beziehungen auch.
Puhl findet es falsch, aus Prinzip nicht zu helfen. "Sie brauchen unseren Beistand, sie brauchen unsere Solidarität, sie brauchen auch unsere 50 Cent, weil sie ansonsten Gefahr laufen, zu sterben."
Es gibt viele unterschiedliche Möglichkeiten zu helfen. Sie können sporadisch oder regelmäßig etwas Kleingeld geben, Sie können an soziale Einrichtungen spenden, die zum Beispiel suchterkrankten, obdachlosen Menschen helfen. Sie können aber auch den Kontakt zu denen suchen, die Ihnen tagtäglich begegnen. Ein freundliches "guten Morgen", was dem Menschen das Gefühl gibt, auch Teil der Gesellschaft zu sein, kann manchmal schon helfen. Oder aber, Sie fragen "Ihren" Dennis, ob er Ihre Unterstützung bei der Suche nach einem Wohnheimplatz möchte.
Organisationen, die sich für Obdachlose einsetzen:
Verein für Berliner Stadtmission
Berliner Stadtmission
Lehrter Str. 68
10557 Berlin
Tel. 030 - 690 333
E-Mail: info@berliner-stadtmission.de
Internet: www.berliner-stadtmission.de
Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V.
Boyenstraße 42
10115 Berlin
Telefon: 030 - 284 453 70
Internet: http://www.bagw.de
Caritasverband für das Erzbistum Berlin e.V.
Residenzstraße 90
13409 Berlin
Telefon: 030 - 666 330
E-Mail: info@caritas-berlin.de
www.caritas-berlin.de
Diakonie Deutschland – Evangelischer Bundesverband
Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung e.V.
Caroline-Michaelis-Str. 1
10115 Berlin
https://www.diakonie.de/landesverbaende/