Förderschule contra Regelschule Ist die Inklusion ein Schreckgespenst?
"Das Kind gehört auf die Sonderschule", hieß es früher, wenn eines nicht mitkam, dauernd störte oder eine Behinderung hatte. Wer einmal dort war, kam selten wieder weg. Ob das heute anders ist, darüber wird heftig diskutiert.
Die einen sprechen von Aussortieren, Wegsperren und Ausgrenzen, die anderen von optimaler Förderung mit Mitteln, die Regelschulen nicht zur Verfügung stehen. Wobei das "Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen" der Vereinten Nationen Eltern einen deutlich größeren Handlungsspielraum verschafft.
Vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich. Das bedeutet, behinderte und nichtbehinderte Kinder gehören von Anfang an zusammen, sollen voneinander lernen. Wird bei einem Kind ein besonderer Förderbedarf festgestellt, dann kommt es nicht mehr automatisch auf eine Förderschule. Stattdessen gilt es herauszufinden, welche Schulform die richtige ist. Denn seit einigen Jahren steht es allen Kindern zu, eine Regelschule zu besuchen.
Das Recht auf Regelschule ist einklagbar
Es muss also entschieden werden, was den Bedürfnissen des Kindes am ehesten entspricht. Dabei gehört auch in die Waagschale, was den Eltern selbst wichtig ist. "Integration war eine Gnade, Inklusion aber ist ein Recht", bringt es Hans Wocken vom Unesco-Expertenkreis "Inklusive Bildung" auf den Punkt. "Früher mussten die Eltern bitten, dann haben die Schulen Nein gesagt und damit war das Ende der Fahnenstange erreicht. Heute kann man das Recht seines Kindes, eine Regelschule zu besuchen, einklagen. Das aber wollen die Schulen nicht so gerne wahrhaben. Sie beraten die Eltern einfach weg." Hin zu den Förderschulen.
Förderschulen gibt es für verschiedenste Bedürfnisse
Die Förderschulen, auch Förderzentren oder Schulen mit sonderpädagogischem Förderschwerpunkt genannt, sind aufgeteilt nach dem jeweiligen Bedarf. Denn der kann für ein Kind, das sozial-emotionale Schwierigkeiten oder eine schwere körperliche Behinderung hat, ganz anders aussehen als für ein geistig behindertes, ein gehörloses Kind oder ein solches, das aufgrund einer langen Krankheit nicht mehr mitkommt.
Der Bildungsauftrag an sich ist erst einmal der gleiche wie an der Regelschule. Die Kinder sollen aber individuell unterstützt, betreut und gezielt gefördert werden. Von Sonderpädagogen, die sensibilisiert sind für die speziellen Bedürfnisse und Anforderungen dieser Schüler.
Deutschland bewegt sich nur langsam
In Deutschland wurden aktuell 3,2 Prozent aller Schulanfänger in einer Förderschule eingeschult. Mehr als 3000 Einrichtungen gibt es derzeit, rund 350.000 Kinder und Jugendliche erhalten dort Unterricht, etwa 70 Prozent davon sind Jungs. Soweit die Zahlen. Übersetzt heißt das, dass Deutschland, im Gegensatz zu anderen Pisa-Ländern, nicht gerade eine Vorreiterrolle übernimmt, wenn es darum geht, Kinder mit erhöhtem Förderbedarf ins reguläre Schulsystem zu integrieren.
Wocken ist sich sicher, dass sogar die herausgegebenen Zahlen etwas beschönigen sollen, was so gar nicht stattfindet. Der Erziehungswissenschaftler und Sonderpädagoge hat festgestellt, dass zum Beispiel in Bayern die Zahl der Förderschüler gestiegen ist, parallel dazu aber auch die Inklusionsquote an den Regelschulen - was sich widerspricht. "Die Kinder werden einfach nur umetikettiert, aus vormals schwierigen Kindern werden jetzt welche mit Inklusionsbedarf. So ist das Problem gelöst, man steht gut da und in vielen Fällen wird das Ganze noch bezuschusst."
Regelschulen fehlt es oft an den Mitteln
Theoretisch könnte man selbst Kinder mit schwerster Behinderung integrieren. Vorausgesetzt, der Unterricht wird angepasst, die notwendigen Lern- und Lehrmittel sind vorhanden, die Zugänglichkeit des Gebäudes ist sichergestellt und eine entsprechende Unterstützung der Lehrkräfte durch speziell ausgebildete Sonderpädagogen ist gegeben. Doch all das kostet viel Geld, und es braucht den guten Willen. Denn, so Wocken, was nütze es, wenn die Kinder zwar integrationsfähig, das Umfeld aber nicht integrationsbereit sei?
Betroffene Eltern bekommen nach wie vor zu hören, dass es den Regelschulen an der entsprechenden Ausstattung fehle. Ein Argument, das durchaus zählt, denn laut Wocken sind die Hilfen für die Schulen tatsächlich nur ein Tropfen auf den heißen Stein. "Regelschulen, die auf Inklusion setzen, und Förderschulen werden nicht gleich ausgestattet. Die einen haben kleine Klassen, Sonderpädagogen, Fahrdienste, normale Schulen dagegen werden systematisch unterfinanziert."
Inklusion: ja bitte, aber nicht bei uns
Stefan, Vater von drei Söhnen, sieht das auch so. Doch seiner Erfahrung nach fehlt es vor allem am Mut: "Unser jüngster Sohn hatte einen Gehirntumor und war an eine Art Rollator gebunden, er war geistig aber vollkommen fit, besuchte den Kindergarten im Ort." Noch heute erinnert er sich gerne daran, wie oft man ihm und seiner Frau bestätigte, dass der fröhliche und aufgeweckte Junge eine Bereicherung für alle sei. Trotzdem wollte ihn die Grundschule zunächst nicht nehmen, fand tausend Ausreden.
"Das ist alles schon einige Jahre her, aber wie ich mitbekomme, besteht das Problem nach wie vor. Nicht zuletzt, weil die Schulleitungen Angst vor der Reaktion der anderen Eltern haben." Die große Befürchtung: Ein Kind, das speziellen Förderbedarf hat, halte die anderen auf, der Unterricht werde gestört, der Lehrplan nicht erfüllt. Inklusion ja, aber bitte nicht auf Kosten der anderen Schüler. Diese Argumente kommen vor allem dann, wenn es um Verhaltensauffälligkeiten geht.
Doch die Angst, dass sich Inklusion auf die anderen Kinder negativ auswirke, ist laut Wocken wissenschaftlich betrachtet völlig unbegründet. "Trotzdem muss man sie ernst nehmen. Wir brauchen anschauliche Modelle, die bei der Überzeugungsarbeit helfen. Inklusion ist nicht immer einfach und sie braucht fachliche Beratung und Begleitung." Doch genau hier liegt das Problem. Es fehlt an allen Ecken und Enden.
"Die Eltern rennen uns die Bude ein"
"Niemand darf benachteiligt werden, es darf aber auch nichts kosten. Natürlich haben die Eltern auf dem Papier das Recht, ihr Kind in eine Regelschule zu geben. Die Schulen bekommen aber quasi keine Unterstützung. Dabei gibt es tausend Möglichkeiten, wie man Inklusion sinnvoll gestalten kann", so eine Sonderpädagogin an einer mittelfränkischen Förderschule. Sie setzt, zusammen mit einer Grundschullehrerin, eine dieser tausend Möglichkeiten um. Die beiden leiten eine Grundschulklasse, in der Regelschüler und geistig beeinträchtigte Kinder gemeinsam unterrichtet werden. Mit vollem Erfolg. "Die Kinder bekommen ganz schnell ein Gespür füreinander, wachsen zu einer Gemeinschaft zusammen. Die Eltern rennen uns die Bude ein."
Inklusion und Förderschule schließen sich nicht aus
Inklusionsbefürworter streben keineswegs eine totale Inklusion an. Sie fordern aber die konsequente Umsetzung der Behindertenrechtskonvention. Schließlich hat sich Deutschland bereit erklärt, ein inklusives Bildungssystem aufzubauen. Aber Inklusion hat nur dann Sinn, wenn das Recht auf Bildung auch gewährleistet wird und sich nicht als Sparpolitik auf Kosten der Kinder entpuppt.
Denn ein paar Wochenstunden sonderpädagogischer Förderunterricht sind nicht ausreichend. Selbst dann nicht, wenn bisherige Förderschulen zum Beratungszentrum umfunktioniert werden, um andere Schulen bei der Inklusion zu unterstützen. Die Konvention verbietet nämlich nicht die Förderschulen. Sie verbietet lediglich, ein Kind per Bescheid in eine solche Schule zu zwingen. Das ist ein kleiner, aber feiner Unterschied.