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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Der IQ ist nicht alles Hochbegabte Kinder brauchen viel Unterstützung
Tim brachte sich mit zweieinhalb Jahren das Lesen und mit vier Jahren selbst das Einmaleins bei. Der inzwischen siebenjährige Junge hat einen IQ von mehr als 130. Wenn bei Kindern wie Tim die Hochbegabung früh genug erkannt wird, kann die Schullaufbahn in richtige Bahnen gelenkt werden. Doch Experten warnen: Der IQ umfasst nur einen Teil der Begabung eines Kindes, viele Faktoren spielen hinein.
Von einem Tag auf den anderen fing Tim einfach an zu lesen. Er war zweieinhalb Jahre alt und schaute sich ein Bilderbuch mit kurzen Texten an. Plötzlich sagte er entrüstet: "Mama, da steht Hirsch, aber auf dem Bild ist doch ein Elch." Mit vier Jahren konnte Tim dann ohne Zutun seiner Eltern flüssig lesen. Er rechnete im Zahlenraum bis 1000 und fing an, Maßeinheiten umzurechnen.
Ab einem IQ von 130 gilt ein Mensch als hochbegabt
Tim gilt als hochbegabt und gehört damit zu den rund zwei bis drei Prozent unserer Bevölkerung, die einen IQ über 130 haben, denn so wird die intellektuelle Hochbegabung gemessen. Doch Wissenschaftler wissen inzwischen, dass der IQ allein nicht das Maß aller Intelligenz ist. Das Zusammenspiel von Leistungsmotivation und Frustrationsgrenze, Kreativität und Ausdauer, aber auch das soziale und familiäre Umfeld und viele andere Faktoren befähigen das Kind erst, sein Potential zu entfalten und auszuleben.
Wissenshunger und Perfektionismus
Als die Eltern von Tim das Ergebnis des Intelligenztests erfuhren, war es keine Überraschung. Sein unstillbarer Wissenshunger oder seine ausgeprägte Sensibilität sind nur einige von vielen Merkmalen für Hochbegabung. "Tim ist in bestimmten Dingen, die ihm wichtig sind, ein Perfektionist. Gelang früher etwas nicht exakt nach seiner Vorstellung, schlug der Tatendrang schnell in Wut um", erinnert sich Tims Mutter. Noch heute sortiert er gern Stifte nach Farben oder Dinge nach Arten und Größen.
Viele hochbegabte Kinder leiden unter ihrem ausgeprägten Perfektionismus. Oder sie merken, dass sie anders sind, tauchen in eigene Welten ein und können mit Gleichaltrigen wenig anfangen. Sie suchen den Kontakt mit Älteren. Auch Tim hatte am Anfang wenig Interesse an den anderen Kindern im Kindergarten, zu groß waren die Unterschiede. Inzwischen spielt er mit seinen Freunden aus der Nachbarschaft gern Playmobil, liebt Ballspiele oder geht zum Fußball, wie jeder andere Junge in seinem Alter auch.
Hochbegabung lässt sich nicht antrainieren
Nicht jedes hochbegabte Kind hat einen so geraden Weg wie Tim. Bei manchen fällt die Hochbegabung spät auf, bei vielen auch gar nicht. Man geht davon aus, dass nur jeder dritte Hochbegabte in Deutschland von seiner Anlage weiß, die sich nicht ausschließlich genetisch oder sozial erklären lässt. Man kann sie auch nicht durch eine frühkindliche Förderung oder ein Gehirnjogging antrainieren.
"Heute weiß man, dass sich die Vernetzung im Gehirn bereits im Babybauch entwickelt", erklärt Sabine Meier, die in ihrer Praxis in Ismaning bei München mit hochbegabten Kindern arbeitet, IQ-Tests und Elterncoaching anbietet. Sie war Leiterin eines Kindergartens für hochbegabte Kinder und studierte danach Pädagogik und Psychologie.
Entwicklungsphasen werden übersprungen
Für eine Einschätzung der Hochbegabung braucht sie ein Entwicklungsscreening. Dafür verfassen die Eltern einen Lebenslauf von ihrem Kind. Wie war die Geburt? War das Kind ein Schreibaby? Wie entwickelte es sich motorisch? Denn viele "fitte" Kinder, so umschreiben Experten gern Hochbegabung, überspringen Entwicklungsstufen.
"Manche können bereits mit vier Monaten mit Daumen und Zeigefinger greifen." Diesen sogenannten Pipettengriff beherrschen in der Regel erst Einjährige. Die rasante Entwicklung kann zu Problemen führen: Lässt ein Kind zum Beispiel die Krabbelphase aus, wird es später kaum einen Pferdchensprung können. Voreilig wird es dann zum Ergotherapeuten geschickt.
Der IQ ist nur ein mathematisches Konstrukt
Nach dem Screening folgt der IQ-Test, der erst ab dem fünften Lebensalter Sinn hat. Nach exakten Anweisungen müssen die Kinder Muster nachlegen oder logische Bildkonzepte unter Zeitdruck erkennen. "Der Wortlaut der Fragen muss genau stimmen." Da der Durchschnitts-IQ der Gesamtbevölkerung stetig steigt, werden die Tests alle paar Jahre angepasst.
Meier sieht die Fokussierung auf den IQ sehr kritisch: "Die Lehrer sehen nur die Zahl, doch beim IQ geht es um eine reine kognitive Intelligenztestung. Es ist ein mathematisches Konstrukt." Der Blick auf das Kind sollte immer ausschlaggebend sein.
Hochbegabte müssen das Ausblenden von Reizen lernen
Ist die Hochbegabung nicht bekannt oder wird nicht darauf eingegangen, kann das in der Schulzeit zu Problemen wie häufiger Schulwechsel, Mobbing und Konflikten mit den Lehrern führen. Trotz guter Noten werden Desinteresse im Unterricht oder auffälliges Verhalten kritisiert. Manche Kinder sind so unruhig, dass voreilig die Diagnose ADHS gestellt wird. Viele haben einen langen Leidensweg von einer Therapie zur anderen hinter sich.
Es können unbewusste Verhaltensmuster wie Nagelkauen, Stampfen mit den Füßen oder Reiben mit den Händen entstehen. "Das Gehirn arbeitet ständig auf Hochtouren, die Spannung muss sich motorisch, körperlich oder emotional entladen", vermutet Meier. Viele Kinder sind zudem sehr hör- und geruchsempfindlich. "Diese Kinder müssen das Ausblenden erst mal lernen."
Unterforderung und Wiederholungen langweilen hochbegabte Kinder
Die Eltern haben viele Fragen, wenn es um die Schullaufbahn geht. Welche Schule bietet den richtigen Anreiz? Ist das Überspringen der Klassen wirklich die einzige Lösung? Und wo findet sich eine sinnvolle Förderung? Eine Herausforderung im Schulalltag ist das Wiederholen des Lernstoffs, denn Hochbegabte erfassen auf den ersten Blick und lernen schneller die Methodik. Sie langweilen sich, erledigen deshalb keine Hausaufgaben oder lassen sich gern ablenken.
Manche Kinder verrennen sich so im Detail, dass in Prüfungen die Zeit nicht reicht. Meier kennt diese Probleme aus eigener Erfahrung, sie hat zwei hochbegabte Töchter im Jugendalter. "Solche Kinder brauchen immer klare Vorgaben. Sie müssen auch lernen, Pflichten zu übernehmen."
Eine normale Schule ist oft die beste Entscheidung
Die Schulwahl ist ein großes Thema für Familien mit hochbegabten Kindern. Auch Tims Eltern überlegten lange, ob sie ihn in eine internationale Schule nach Augsburg schicken sollten, doch letztendlich entschieden sie sich für eine normale Grundschule in ihrer Heimat bei Augsburg. Tim wurde ein Jahr früher eingeschult. Er hat eine engagierte Klassenlehrerin, die dem Siebenjährigen das Gefühl vermittelt, nicht anders zu sein. Zudem hat Tim noch einen weiteren hochbegabten Klassenkameraden, so ist er nicht allein, wenn die Lehrerin ihm Sonderaufgaben gibt.
"Schule ist das beste auf der Welt", freut sich Tim. "Wenn wir in Heimat- und Sachkunde ein neues Thema anfangen, fragt mich gleich am Anfang die Lehrerin, was ich denn so weiß." Inzwischen besucht Tim die zweite Klasse und er hat bis jetzt in den Hauptfächern kaum etwas gelernt, was er vorher nicht wusste. "Er könnte problemlos noch ein Jahr überspringen, doch das wollen wir nicht, denn dann wäre er mindestens zwei Jahre jünger als seine Klassenkameraden. Zudem fühlt er sich in seiner Klasse sehr wohl."
Auch hochbegabte Kinder brauchen Lernstrategien
Nicht immer läuft es so glatt. Von einem hochbegabten Kind werden oft Bestnoten erwartet. Das ist ein Trugschluss. "Meist mit Beginn der zweiten Fremdsprache stellt sich der Erfolg nicht mehr bei jedem hochbegabten Kind mühelos ein. Es kann zum Abfall der Noten kommen, denn irgendwann reicht es nicht mehr, nur etwas durchzulesen", erklärt Barbara Saring vom bayerischen Regionalverband der Deutschen Gesellschaft für das hochbegabte Kind (DGhK). "Rund jedes zehnte hochbegabte Kind ist ein sogenannter Minderleister, es bleibt unter seinen intellektuellen Fähigkeiten und bewegt sich in der unteren Hälfte des Notenspiegels." Es hat keine richtige Lernstrategie entwickelt, sondern sich auf sein Potenzial verlassen.
Manche Eltern reagieren mit Angst und Unsicherheit
Die DGhK wurde Ende der 70er Jahre gegründet und hat inzwischen bundesweit rund 10.000 Mitglieder. Der Verband organisiert Elterngruppen, Beratungen, Kurse und Vorträge für Lehrer, Pädagogen, Eltern und hochbegabte Kinder. Auch Tims Eltern sind Mitglied.
Steht die Hochbegabung fest, empfinden einige Eltern das Testergebnis als Belastung, manche weinen sogar. Sie haben Angst davor, dass sich die Familiensituation ändert. Wie wird das Umfeld reagieren? Darf man es überhaupt erzählen? "Man sollte sehr sorgsam mit dem Thema umgehen", rät Saring. "Die wichtigste Frage sollte immer sein, ob mein Kind glücklich ist."
Tim braucht viel Aufmerksamkeit und wenig Schlaf
So sehr sich manche Eltern ein intelligentes Kind wünschen, der Alltag kann sehr anstrengend sein. "Tim hat die ganze Familie in Atem gehalten. Alle mussten ihm stundenlang vorlesen, mit ihm spielen und ihm ständig neue Anreize bieten. Er ist immer noch sehr fordernd", erzählt die 38-jährige Mutter. Und wie viele andere hochbegabte Kinder braucht Tim weniger Schlaf. Wenn er frühmorgens aufwacht und seine Eltern noch schlafen, besucht er einfach den Opa, der im selben Haus wohnt.
Auch sehr intelligente Kinder und Jugendliche müssen sich selbst finden. Hochbegabte werden nicht automatisch Topmanager oder Harvard-Professor. Studien belegen, dass die meisten Allerweltsberufe wählen, von der Krankenschwester bis zum Ingenieur. Der kleine Tim will "irgendwas mit Tieren" machen, wenn er mal groß ist. So wie viele Kinder in seinem Alter auch.
Weitere Infos für Eltern hochbegabter Kinder
- www.dghk.de: Die Deutsche Gesellschaft für das hochbegabte Kind bietet Erstberatungen, Austausch für Eltern, ein Kursprogramm für hochbegabte Kinder sowie Link- und Literaturlisten
- Broschüre "" des Bundesministeriums für Forschung
- www.lbfh.uni-erlangen.de: Beratungs- und Forschungsstelle für Hochbegabung der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg. Das Team von Professor Albert Ziegler bietet ein kleines Online-Screening, Individualberatungen, Diagnostik der Lernkompetenzen, verschiedene Trainings an.
- www.fachportal-hochbegabung.de: Das Fachportal der KARG-Stifung liefert erste Antworten auf häufige Fragen zu Hochbegabung. Online-Verzeichnis mit bundesweiten Beratungsstellen, die auch Tests und Diagnosen anbieten.
- Buchtipp: Webb, J.T., Meckstroth, E.A. und Tolan, S.S., "Hochbegabte Kinder - Ihre Eltern, ihre Lehrer", Verlag Hans Huber