Hat Corona doch gewonnen? "Wir sehen eine schweigende Kapitulation vor dem Virus"
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Schleichend ändert die Regierung ihren Kurs im Umgang mit dem Coronavirus. Wohin führt das? Und warum wird dieser Strategiewechsel nicht klar benannt? Ein Experte gibt seine Einschätzung ab.
Heute vor zwei Jahren wurde der erste Corona-Fall in Deutschland nachgewiesen. Vieles, was seitdem als ultimatives Mittel zur Viruseindämmung galt, wird unter der sehr viel ansteckenderen Omikron-Variante weitgehend aufgegeben. t-online fragte den Immunologen Andreas Radbruch nach seiner Einschätzung: Hat uns Corona doch besiegt?
t-online: Herr Radbruch, die Kontaktnachverfolgung wird weitgehend aufgegeben. PCR-Tests gibt es nur noch für die vulnerablen Gruppen. Was sehen wir hier gerade? Das ist ein Strategiewechsel, oder?
Andreas Radbruch: Letztlich sehen wir eine schweigende Kapitulation vor dem Virus, einen Rückzug. Wenn wir uns ansehen, dass wir vor einem Jahr noch mit Strategiepapieren konfrontiert wurden, in denen es um Grenzwerte für Inzidenzen von 10, 35 oder 50 ging, sind wir heute bei Inzidenzen von über 1.000. Offenbar hat ein interner Strategiewechsel stattgefunden, der aber so nicht kommuniziert wird. Wie so oft wird das, um was es wirklich geht, gar nicht mitgeteilt.
Es wird nicht gesagt, dass es letztlich immer um die Ungeimpften geht?
Ja, sie sind der Dreh- und Angelpunkt. Alles, was wir den Impfwilligen zumuten, ist zum Schutz derjenigen, die die Impfung verweigern oder nicht geimpft werden können.
Dr. Andreas Radbruch ist Immunologe und Wissenschaftlicher Direktor des Deutschen Rheuma-Forschungszentrums Berlin.
Rein wissenschaftlich: Wie haltbar ist es, dass der Bundestag sich über die RKI-Empfehlung hinwegsetzt, dass Genesene drei Monate als geschützt gelten, und die Frist auf sechs Monate hochsetzt?
Die Kürzung des "Genesenenstatus" auf drei Monate war ein Paradebeispiel katastrophaler Kommunikation: Das eigentliche Ziel wurde nicht klar kommuniziert, es geht um die Senkung der Omikron-Last. Natürlich bleiben die Genesenen weiter "genesen". Aber sie als "nicht mehr immun" einzustufen, geht gar nicht.
Rein wissenschaftlich ist es so: Wir wissen, dass Genesene eine sehr lange Immunität bekommen. Man kann das im Knochenmark nachweisen. Dort sitzen die Zellen, die die Antikörper produzieren, die vor einem schweren Krankheitsverlauf schützen, auch wenn das Virus längst verschwunden ist. Und die sind bei SARS-CoV-2 – nach amerikanischen Studien aus dem Sommer letzten Jahres, veröffentlicht in der renommierten Zeitschrift "Nature" – nach sechs Monaten nachweisbar und in gleicher Zahl auch nach elf Monaten. Ein untrügliches Zeichen von langanhaltendem Schutz vor schwerer Erkrankung durch Antikörper.
Sie sind ungefähr so zahlreich wie Zellen, die Antikörper gegen Tetanus produzieren. Eine stabile Immunität: Das Virus kann im Körper keinen großen Schaden mehr anrichten, es wird im Blut abgefangen. Inzwischen ist das durch die gleiche Arbeitsgruppe übrigens auch für Geimpfte nachgewiesen.
Aber was steckt dann hinter der RKI-Aussage, Genesene müssen sich jetzt nach drei Monaten nachimpfen lassen?
Wie so oft geht es hier um die Ungeimpften. Es ist der Versuch, die allgemeine Viruslast in der Bevölkerung zu senken, auch in der Omikron-Welle. Denn wir wissen ja auch: Genesene können sich trotzdem relativ leicht mit der Omikron-Variante anstecken, sich infizieren, und dann vermutlich das Virus auch weitergeben.
Durch die Impfung Genesener wird diese Wahrscheinlichkeit signifikant niedriger, zumindest für eine gewisse Zeit. Man muss es klar sagen: Die Infektion und die Impfstoffe schützen nach einiger Zeit nicht mehr sehr gut vor Ansteckung, aber sie verhindern über lange Zeiträume eine schwere Erkrankung.
Das heißt aber nicht, dass die Impfungen nichts taugen?
Nein, auf keinen Fall. Die Frage ist, was man durch die Impfung erreichen will. Einen dauerhaften Schutz vor Infektion werden wir wohl nicht für alle erreichen, aber wir verhindern eine Überlastung des Gesundheitssystems und insbesondere Todesfälle. Schutz vor Infektion und Schutz vor schweren Krankheitsverläufen sind eben nicht dasselbe. Warum übrigens der Schutz der Schleimhäute der Atemwege nicht so langfristig ist, ist eine ungeklärte Frage der Wissenschaft, daran arbeiten wir und auch andere.
Also auch unter Omikron sind unsere Impfstoffe wirksam, was die Vermeidung von schweren Krankheitsverläufen angeht?
Ja. Die Impfstoffe stimulieren unser Immunsystem, und die Reaktion ist ein echtes Feuerwerk. Unsere Abwehr schickt Antikörper ins Rennen, die die Viren binden und verklumpen. Fresszellen schalten sie dann aus.
Andere Zellen des Immunsystems töten gezielt die Zellen ab, in denen sich das Virus gerade vermehrt. Und dann gibt es noch die Antikörper, die verhindern, dass die Viren sich überhaupt an unsere Zellen binden können.
Diese konzertierte Immunreaktion schützt uns vor einer schweren Erkrankung. Aber nur die Antikörper, die verhindern, dass das Virus an unsere Zellen binden kann, schützen uns vor einer Infektion als solcher. Und dazu müssen sie aus dem Blut in die Schleimhäute der Atemwege transportiert werden, und das können nur bestimmte Antikörper.
Nun verwundert es, dass Daten aus Israel zeigen, dass die vierte Impfung eigentlich nicht sehr wirksam ist. Der Staat empfiehlt sie dennoch.
Was hinter der Empfehlung steht, kann ich nicht beurteilen. Fest steht: Die vierte Impfung erhöht die Zahl der Antikörper nur gering, etwa um das Fünffache. Und dieser Anstieg verschwindet dann schnell wieder. Und das wissen wir als Immunologen seit vielen Jahren aus der Erfahrung mit vielen Impfstoffen: Das Immunsystem passt sich der dauernden Boosterei an und reagiert am Ende gar nicht mehr.
Wenn man immer wieder mit dem gleichen Impfstoff in der gleichen Dosis nachimpft, wird bald nichts mehr passieren. Die neuen Impfstoffe sind prima, da passiert schon beim vierten Mal nicht mehr viel, und ich sage mal voraus: Beim fünften Mal passiert nichts mehr. Das heißt, dass unser immunologisches Gedächtnis schon nach dreimaliger Impfung mit den mRNA Impfstoffen "gesättigt" ist. Prima!
Was würde ein Omikron-Impfstoff bringen?
Man kann einem Virus nicht hinterherimpfen. Fest steht: Omikron wird nicht die letzte Variante sein, mit der wir es zu tun haben und wir sollten besser abwarten, wie es im kommenden Winter aussieht. Eine Impfung mit einem auf Omikron modifizierten Impfstoff macht dann keinen Sinn, wenn die Omikron-Welle eigentlich vorbei ist. Eher in den Ländern, denen die Omikron-Welle noch bevorsteht.
Nun warnen ja Ihre Kollegen immer wieder vor neuen, gefährlicheren Varianten. Lauterbach trifft Vorkehrungen für noch verheerendere Viren. Christian Drosten warnt vor einer Paarung der Delta- und der Omikron-Variante. Was ist Ihre Einschätzung?
Ich verstehe ehrlich gesagt nicht, warum diese plakativen Katastrophen-Szenarien jetzt ausgepackt werden. Alles möglich, aber man kann das alles auch optimistischer sehen. Die Impfungen bieten eine gute Grundimmunität. Sie schützen nicht so langfristig vor Infektion. Aber sie verhindern sehr gut einen schweren Krankheitsverlauf bei Infektionen mit den bisher bekannten Varianten.
Wir nennen das eine "breite" Immunität, die uns auch vor vielen Varianten schützen sollte, die es noch gar nicht gibt. Natürlich ist es immer möglich, dass eine Variante auftaucht, die einen speziellen Trick gefunden hat, diese breite Immunität auszuhebeln. Dann müsste man mit einem angepassten Impfstoff impfen. Solche Impfstoffe lassen sich ja sehr schnell entwickeln, zu Beginn der Welle, ähnlich wie das bei der Grippeimpfung seit Langem praktiziert wird.
Nun sind aber 16 Millionen Deutsche immer noch ungeimpft. Sind Sie für die allgemeine Impfpflicht?
Ich war lange dafür, aber habe inzwischen meine Meinung geändert. Ich denke, es wäre wichtig, wie diese Verpflichtung ausgestaltet ist. Spielt der Immunstatus eine Rolle, das Alter, wie viele Impfungen und welche Impfstoffe sind zugelassen?
Wer bestimmt das, wie wird wissenschaftliche Expertise eingebunden, ist das Ziel eine regionale, nationale oder europäische Lösung? Wie ist es mit der Flexibilität der Impfprotokolle und Kombinationsimpfungen? Sind die Impfintervalle lang genug, um dem Immunsystem genug Zeit zu geben, eine breite Immunität durch Affinitätsreifung zu entwickeln. Werden Personen ausgenommen, von denen man weiß, dass sie nicht auf die Impfung reagieren, zum Beispiel Patienten mit Organtransplantaten, deren Immunsystem unterdrückt werden muss?
Das sind alles noch ungelöste Fragen. Hier haben mich einige der handelnden Akteure im letzten Jahr nicht überzeugt. Zu inkompetent, zu dogmatisch, wissenschaftlich nicht solide informiert. Deshalb wäre ich jetzt gegen eine allgemeine Impfpflicht.
Eine Impfpflicht dann vielleicht doch nur für die Älteren?
Eine Impfpflicht für die über 60-Jährigen wäre vielleicht ein Mittelweg. Denn um die etwa drei Millionen Menschen dieser Altersgruppe, die noch nicht geimpft sind, geht es im Kern. Eine Dreifach-Impfung mit mRNA- Impfstoffen oder Kombinationsimpfungen mit anderen Impfstoffen zum Erreichen einer "breiten" Immunität wäre ein großer Schritt, um die schweren Erkrankungen und Todesfälle in dieser empfindlichen Altersgruppe entscheidend zu senken.
Herr Radbruch, wir danken Ihnen für dieses Gespräch!
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
- Interview mit Andreas Radbruch
- Eigene Recherche