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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Deutsche Wirtschaft Jetzt geht's bergab
Deutschland ist das einzige Land unter den großen Industrienationen, dessen Wirtschaft aus dem Tritt geraten ist. Woran das liegt – und welche fatalen Folgen das hat.
Deutschlands Top-Ökonomen schlagen Alarm. Gleich zwei wichtige Wirtschaftsforschungsinstitute haben ihre Prognosen für die kommenden Monate veröffentlicht. Und die sehen finster aus.
Was schon seit einigen Wochen klar ist: Deutschland ist die einzige große Industrienation der Welt, deren Wirtschaft in diesem Jahr schrumpft. Während es mit der Konjunktur fast überall sonst bergauf geht, schlittert die Volkswirtschaft hierzulande in die Rezession. t-online erklärt, woran sich dieser Abschwung zeigt – und welche Folgen er für Sie hat.
1. Der Wohlstand schrumpft
Betrachtet man die Zahlen für sich genommen, sieht es schon nicht gut aus – im Vergleich mit denen anderer Länder aber wirken sie umso dramatischer: Das deutsche Bruttoinlandsprodukt, also der Wert aller hierzulande hergestellten Waren und Dienstleistungen, sinkt in diesem Jahr, während es in fast allen anderen großen Industrieländern wie etwa den USA, Frankreich oder Italien wächst.
Das Münchner Ifo-Institut geht von einem Minus in Höhe von 0,4 Prozent aus, das Kieler Institut für Weltwirtschaft erwartet einen Rückgang über 0,5 Prozent. Zum Vergleich: Im Nachbarland Frankreich prognostiziert der Internationale Währungsfonds einen Zuwachs um 0,8 Prozent, in den USA sogar um 1,8 Prozent.
Ifo-Konjunkturchef Timo Wollmershäuser sagte zu den Zahlen am Mittwoch: "Deutschland steht mit am schlechtesten da im internationalen Vergleich. Die Konjunkturschocks der Welt treffen Deutschland besonders stark." Das Problem dabei: Eine baldige Erholung der Wirtschaft ist nicht in Sicht, im zweiten Halbjahr geht es eher weiter bergab. Erst fürs kommende Jahr 2024 rechnen Wollmershäuser und seine Kollegen wieder mit einem Mini-Plus beim BIP in Höhe von 1,4 Prozent.
Das heißt: Fürs Erste sinkt der Wohlstand, der sprichwörtliche Volkswirtschaftskuchen wird kleiner, die Stücke, die sich verteilen lassen, werden schmaler – und die Deutschen relativ zu anderen Völkern ärmer.
2. Die Inflation sinkt nur langsam
Dazu trägt auch die starke Inflation bei, die den Alltag immer weiter verteuert. Zwar ist sie im Vergleich zu den Vorjahresraten deutlich zurückgegangen, viel länger aber als ursprünglich angenommen verweilt sie nun weiter auf einem immer noch sehr hohen Niveau.
Die Ifo-Forscher gehen davon aus, dass die Inflationsrate erst im nächsten Jahr wieder auf ein halbwegs normales Maß von 2,6 Prozent im Jahresschnitt sinken wird. Wollmershäuser sagt: "Für das laufende Jahr rechnen wir mit einer durchschnittlichen Rate von 6,0 Prozent." Immerhin, die Preise für Strom und Gas dürften zu Beginn des neuen Jahres unter die Schwelle der staatlichen Preisbremsen sinken, was die Gesamtinflation weiter drückt.
Problematisch bleibt aber die sogenannte Kerninflationsrate, die die Preise für Energie nicht berücksichtigt, dafür umso stärker jene für Dinge des täglichen Bedarfs abbildet, zum Beispiel Lebensmittel. "Sie dürfte im kommenden Jahr noch deutlich oberhalb der Gesamtinflation liegen", so Wollmershäuser. Und: "Wir erwarten aufgrund der gestiegenen Löhne noch eine kräftige Teuerung bei den Dienstleistern." (Hier lesen Sie mehr zum Unterschied zwischen Inflation und Kerninflation.)
Das heißt: Verbraucher müssen sich auf weitere Anstiege bei den Preisen einstellen, vor allem bei Lebensmitteln setzt sich der Auftrieb fort. Und viele Dienstleistungen, zum Beispiel jene von Friseuren, Hotels oder Restaurants, werden absehbar auch noch teurer.
3. Die Arbeitslosigkeit steigt
Einziger Lichtblick: Bislang blieb der große Schock am Arbeitsmarkt aus, und die gute Nachricht ist: Das wird wohl auch so bleiben. Dennoch gehen viele Ökonomen davon aus, dass wegen der Rezession trotz Fachkräftemangels die Arbeitslosigkeit steigt.
Nachdem sie 2022 im Schnitt bei 5,3 Prozent lag, erwarten sowohl das Ifo-Institut als auch das IfW für dieses Jahr eine Quote von 5,6 Prozent. Beide Institute rechnen zudem damit, dass die Arbeitslosigkeit erst 2025 wieder auf 5,3 Prozent sinken wird.
"Das ist ein Spiegelbild der Insolvenzen und Unternehmensabmeldungen, die wir beobachten konnten", erklärt Konjunkturexperte Wollmershäuser das Phänomen. Zugleich warnt er vor zu viel Euphorie für den Zweijahresausblick: "2025 ist das erste Jahr, in dem sich der demografische Wandel bemerkbar machen wird, das Erwerbspotenzial wird nicht weiter steigen."
Das heißt: In den kommenden Monaten ist zwar trotz Abschwung nicht mit Massenarbeitslosigkeit zu rechnen, wohl aber damit, dass mehr Menschen ihren Job verlieren, weil ihr Unternehmen den Betrieb einstellt. Die Folge: Mancher Betroffene wird sich umorientieren, womöglich einen gänzlich anderen Job antreten müssen.
4. Der Bau und die Industrie stecken in der Krise
Normalerweise sind sie das Rückgrat des Wohlstands made in Germany, doch gerade die zwei wichtigsten Wirtschaftszweige schwächeln in der aktuellen Krise besonders. Auf dem Bau läuft es nicht rund – und bei der Industrie vielerorts auch nicht.
"Die chemische Industrie, die einen sehr großen Anteil an der Produktion in Deutschland hat, hatte schwer mit den extrem hohen Energiepreisen zu kämpfen. Doch selbst jetzt, wo diese wieder gesunken sind, kommt sie nicht in den Tritt", erklärt Wollmershäuser. Seine Vermutung: Manche Firma hat den Betrieb gänzlich eingestellt und ist abgewandert.
Das Baugewerbe wiederum leidet vornehmlich unter den hohen Zinsen. Diese führen dazu, dass immer mehr Finanzierungen von Bauprojekten platzen, Aufträge storniert werden, der Neubau von Häusern stark abnimmt.
Das heißt: Deutschlands Industrie muss sich stärker noch als bislang wandeln, und das "strukturell", wie viele Experten betonen. Wer in der Chemie- und Pharmaindustrie arbeitet, ist damit umso stärker von Jobabbau bedroht. Eine weitere schlechte Nachricht für alle: Kommt der Bau nicht wieder in den Tritt, dürfte die Wohnungsknappheit in den großen Städten weiter zunehmen, die Mieten würden möglicherweise noch schneller steigen.
5. Steuern und Bürokratie erdrücken viele Unternehmen
Dass Deutschland ein Hochsteuerland ist, ist nichts Neues. In der Wirtschaftskrise aber werden die hohen Steuern und Abgaben, die Unternehmen in Deutschland leisten müssen, für viele Firmen umso belastender – zumal sie in anderen Ländern deutlich niedriger liegen, etwa in den USA.
Hinzu kommt das, was viele Firmenchefs "bürokratische Fesseln" nennen, zum Beispiel Genehmigungsverfahren für den Bau einer neuen Produktionsstätte, die sich leicht über ein Jahr hinziehen können. Andreas Peichl vom Ifo-Institut sagt dazu: "In der Summe wird der Standort Deutschland immer unattraktiver. Für den Standort wäre es gut, über eine grundlegende Unternehmenssteuerreform nachzudenken."
Das heißt: Will Deutschland die Kehrtwende schaffen, soll es hierzulande wieder richtig bergauf gehen, braucht es Impulse seitens der Politik. Die Ampelregierung versucht sich darin zwar, ob die geplanten Vorhaben beim Bürokratieabbau und die Steuererleichterungen aber wirklich zum Erfolg führen, ist noch offen.
- Pressekonferenz zur Ifo-Konjunkturprognose
- Pressemitteilung der IfW-Konjunkturprognose