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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Perfider Plan Putin nimmt die Ärmsten ins Visier
Höherer Sold und mehr Geld für die Familie im Todesfall: Putin will die Lücken in seiner Armee offenbar mit Geld stopfen. Damit nimmt er die Ärmsten ins Visier.
Der russische Präsident Wladimir Putin hat ein Problem. Sein Angriffskrieg gegen die benachbarte Ukraine zieht sich mittlerweile seit mehr als 530 Tagen – und das ist teuer.
Westliche Wirtschaftssanktionen erschweren den Handel, die daraufhin gestoppten Energieexporte haben wichtige Geldflüsse versiegen und den Rubelwert abstürzen lassen (t-online berichtete). Auch der Nachschub an Waffen gestaltet sich schwierig.
Vor allem aber ist die wichtigste Ressource, kampfeswillige Soldaten, immer schwerer zu finden. Zu Beginn des Krieges hatte der Kreml verkündet, dass die "militärische Sonderoperation" mit Vertragssoldaten durchgeführt werde, doch schon kurze Zeit später reichte das nicht mehr aus, es folgte die "Teilmobilmachung".
Damals fürchteten viele Russen, dass eine allgemeine Mobilmachung folgen könnte. Dies blieb bislang aus – trotz großer Verluste der russischen Truppen. Dass Putin es dennoch schafft, die Lücken in der Armee zu füllen, führt der Ökonom und Kremlkritiker Wladislaw Inosemzew auf eine Mischung aus Propaganda und finanziellen Anreizen für junge Russen zurück. "Der Tod auf dem Schlachtfeld ist im heutigen Russland nicht nur ein 'ehrenvolles Schicksal', sondern auch ein lukrativer Einsatz des eigenen Lebens", schreibt er in einem Gastbeitrag für das in Litauen ansässige, russische Onlinemedium "Riddle".
Dreifache des Durchschnittsgehalts
Inosemzew legt dafür mehrere Beispielrechnungen vor, die zeigen: Für junge Männer kann der Fronteinsatz ein ganzes Berufsleben ersetzen, ihr Tod versorgt ihre Familien im Zweifelsfall besser als sie es lebend könnten. Eine perfide Rechnung, die für Putin aufzugehen scheint.
So erhielten ungelernte Rekruten Ende 2022 noch einen Sold von mindestens 195.000 Rubel monatlich, was damals etwa 3.000 Euro entsprach (aktuell, durch den sinkenden Rubelkurs, eher 1.800 Euro), im Mai 2023 wurden auf Flugblättern sogar mit 220.000 Rubel geworben – also noch mal einem Plus von gut 12 Prozent.
Noch krasser sieht der Vergleich zur Soldhöhe bei Kriegsbeginn aus, mehr als 500 Prozent sind die Löhne seitdem gestiegen. Damals erhielt ein Vertragssoldat mit militärischer Erfahrung noch zwischen 38.000 und 42.000 Rubel, umgerechnet nach damaligem Rubelkurs etwa 500 bis 550 Euro.
Dabei muss man wissen: Das Durchschnittsgehalt in Russland liegt derzeit verschiedenen Berichten zufolge bei 63.000 Rubel monatlich und beträgt damit gerade einmal ein Drittel des neuen Soldatensalärs. In ärmeren Regionen des Landes ist die Diskrepanz noch deutlich größer.
Auch für den Todesfall eines Soldaten hat Putin die Zahlungen an die Familien deutlich angehoben. Anfang 2022 erhielten die Angehörigen noch drei Millionen Rubel, was etwa 40.000 Euro entsprach. Nur wenige Monate später bekamen Hinterbliebene die sogenannte "Einmalzahlung des Präsidenten" in Höhe von fünf Millionen Rubel (rund 50.000 Euro).
Nicht alle freuen die hohen Löhne
Was diese Zahlen für einen einzelnen jungen Russen bedeuten können, lässt sich am besten mit einem Beispiel verdeutlichen. Inosemzew rechnet vor, dass ein Soldat für einen fünfmonatigen Kriegsdienst aktuell monatlich zwischen 195.000 und 200.000 Rubel verdient und so bereits mit diesem Grundgehalt auf rund eine Million Rubel (knapp 10.000 Euro) für seinen Kampfeinsatz käme.
Verstirbt der Soldat dann, erhalten die Hinterbliebenen die "Einmalzahlung des Präsidenten" in Höhe von fünf Millionen Rubel (knapp 50.000 Euro). Hinzu kommen Versicherungsansprüche und die reguläre Entschädigung für den Tod eines an Kampfhandlungen beteiligten Militärangehörigen sowie Entschädigungszahlungen der regionalen Behörden. Insgesamt erhielte die Beispielfamilie so etwa 14,8 Millionen Rubel, was beim aktuellen Kurs rund 140.000 Euro entspricht.
Eine Summe, von der viele Russen nach lebenslanger Arbeit nur träumen können. In Regionen wie Oblast Iwanowo lag das Durchschnittsgehalt Ende 2022 bei 35.000 Rubel monatlich. In anderen Regionen, darunter Sibirien und der Nordkaukasus, verdienen die Menschen rund 40.000 Rubel monatlich.
Für die mehr als 14 Millionen Rubel muss ein Mensch hier gut 30 Jahre arbeiten. "Mit anderen Worten, Putins Regime heroisiert und glorifiziert den Tod nicht nur, es lässt ihn auch rational als eine gute Wahl erscheinen", sagt Inosemzew.
Doch nicht alle Soldaten sind erfreut über die höheren Löhne. Vor allem unter erfahrenen Soldaten ist der Unmut groß, ihre Gehälter wurden zwar teilweise angepasst, liegen aber dennoch oft unter dem, was ungelernte neue Rekruten erhalten sollen. Das berichtete etwa der desertierte Leutnant Dimitri Mischow in einem Interview mit der BBC. Er selbst habe demnach vor seiner Flucht aus Russland 90.000 Rubel monatlich erhalten, seine jungen Kollegen hingegen seien mit 204.000 Rubel eingestiegen.
Ob das Geld tatsächlich bei den Rekruten und ihren Familien ankommt, ist dabei allerdings unklar. Mehrere Ehefrauen von russischen Soldaten berichteten dem Rundfunkveranstalter "Radio Free Europe" davon, dass Löhne verspätet und teils gar nicht gezahlt wurden. Eine Untersuchung von Beiträgen in sozialen Netzwerken der unabhängigen Nachrichtenagentur Verstka kommt zu dem Schluss, dass dies aktuell häufig vorkommt.
Experte: Putin bereitet Zeit nach dem Krieg vor
Immerhin gehen Schätzungen davon aus, dass die Zahl der Einberufenen und der Vertragssoldaten mittlerweile bei 400.000 bis 450.000 Personen liegt. Damit beläuft sich allein die jährliche Besoldung auf mindestens eine Billion Rubel (etwa 10 Milliarden Euro). Hinzu komme laut Inosemzew noch einmal etwa die gleiche Summe in Form von Entschädigungszahlungen für verwundete und getötete Soldaten. Zwei Billionen Rubel entsprechen dabei knapp zehn Prozent der föderalen Staatsausgaben.
Russlands Führung scheint das nicht als Problem zu sehen. Stattdessen werden Militärangehörigen immer weitere Privilegien gewährt. So muss auf staatliche Zahlungen und Hilfsleistungen für Soldaten keine Einkommenssteuer mehr gezahlt werden und Kompensationszahlungen werden im Fall einer Insolvenz nicht in die Konkursmasse einbezogen. Inosemzew zieht daraus den Schluss: "Man hat das Land an den Tod gewöhnt und das Sterben wirtschaftlich attraktiv gemacht."
- Eigene Recherche
- ridl.io: "Путинская 'Cмертономика'" (russisch)
- dekoder.org: "Putins Ökonomie des Todes"
- bbc.com: "Dmitry Mishov, Russian airman who defected, gives BBC interview" (englisch)
- rferl.org: "'Empty Promises': Wives Of Russian Soldiers Fighting In Ukraine Say Pay Is Not What Was Promised" (englisch)
- businessinsider.com: "Moscow's promise of big payments to its troops is creating a new headache for the Russian military"