Bildungsreform G8-Wahnsinn: Stress und Druck statt Kindheit
Fit für den europäischen Wettbewerb sollten die deutschen Abiturienten werden, jünger bei Studienbeginn und Eintritt in das Berufsleben, das war das Anliegen der gymnasialen Reform, der Verkürzung der bisherigen neunjährigen Gymnasialzeit auf acht Jahre, das G8. Doch statt wettbewerbsfähig fühlen sich Eltern, Lehrer und Schüler überwiegend gehetzt im Wettlauf gegen Zeit und Lehrplan. Wie sieht ein ganz normales Schülerleben im G8 aus? Wir haben G8-Schüler beobachtet, für die eine Arbeitswoche weit mehr als 40 Stunden hat. Der Schulalltag der 14-jährigen Achtklässlerin Lena aus Hessen ist exemplarisch. Verändern die Bildungsreformen unser aller Leben mehr als wir denken?
G8: Der ganz normale Familien-Wahnsinn
Der Familienrat tagt: Soll Lena morgen am Schulturnier teilnehmen oder lieber die Mathe-Arbeit mitschreiben? Die Mädchen-Fußballmannschaft ist dünn besetzt, ohne Lena könnten sie gar nicht antreten. Aber Mathe ist nicht ihr stärkstes Fach, sie fühlt sich fit und hofft, die End-Note durch den Test verbessern zu können. Der Teamgeist siegt, Lenas Eltern schreiben eine Mail an den Mathe-Lehrer mit der Bitte, sie mündlich nachzuprüfen. Inzwischen ist es 21:30 Uhr - eigentlich viel zu spät, wenn man um 6 Uhr schon wieder aus dem Bett muss, aber nach neun Stunden Schule, nach Training, Lernen und Hausaufgaben, ist es eben so spät, und das fast jeden Tag. Lena will endlich ins Bett. Da ruft die Mutter ihrer Teamkollegin Sarah an: Ob Lena nach dem Turnier noch zur siebten und achten Stunde in die Schule geht? Lena reagiert empört: "Ich spinn doch nicht und setz mich verschwitzt dann auch noch zwei Stunden in Englisch und Französisch! Soll die Streberin das doch machen - ich nicht."
Stresstage - auch am Wochenende
Das sind echte Stresstage: vormittags Tests, nachmittags Unterricht, individuelle Vorbereitung auf den nächsten Test, kurzes Treffen in der großen Pause im Flur mit der Projektgruppe um das Plakat für die Präsentation fertig zu stellen, Vokabeln wiederholen. Und am Wochenende für die Tests lernen, mit Mama die Sprachen üben, mit Papa Mathe und Chemie pauken.
Wo bleibt das Hobby?
Doch ihr geliebtes Fußball-Training will sie keinesfalls aufgeben, da kann sie sich auspowern, auch wenn ein Lehrer neulich ihrer Mutter gegenüber meinte: "Dann muss man eben den Sport reduzieren, damit sich die Kinder besser auf die Schule konzentrieren können." Das Argument von Lenas Mutter, im Sport könnten die Kinder wenigstens ihre Aggressionen abbauen, wenn schon der Schulsport ständig ausfallen müsse, hinterließ keinen großen Eindruck.
Ein langer Arbeitstag für Schüler
Natürlich stimmt es, dass die folgenden Schultage nach den Trainingsabenden schwierig sind: Durch den gehäuften Nachmittagsunterricht rutschen die Trainingszeiten der Vereine nach hinten, die Kinder kommen aufgekratzt, hungrig, verschwitzt und spät heim. Bis sie satt, sauber und ruhig im Bett liegen, ist es weit später, als ihnen gut tut.
Gerade dann tut es aber auch gut, Mama und Papa ausführlich alles zu erzählen über Schule, Freunde, Fußball und sich dabei das gemeinsame Essen schmecken zu lassen. Denn in der Schule verzichtet Lena lieber auf das Mittagessen von ständig wechselnden Lieferanten, das in der so genannten Cafeteria serviert wird: Lieblos auf einem Schulflur hingewürfelte Tische und Stühle, direkt vor den Toiletten. Für die bereits geplante richtige Cafeteria wurden die Gelder nicht bewilligt.
Vereinen brechen die Mitglieder weg
Beim Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) beobachtet man die Schulentwicklung mit Skepsis. Der DOSB fürchtet, dass irgendwann eine Welle von Mitgliederschwund auf ihn zurollt: Geburtenschwächere Jahrgänge und weniger Zeit, das wird sich im Breitensport auswirken. "Die haben einen ganzen Arbeitstag hinter sich, die sind richtig eingespannt und schaffen es irgendwann nicht mehr, ihren geliebten Sport auszuüben", erklärt Boris Rump, der beim DOSB den Bereich Schulen betreut. Und wer hat dann noch Lust, am Wochenende auf Turniere zu fahren oder sich als Jugendtrainer zu engagieren? Bei den Eltern ist momentan eher die Haltung zu beobachten in den Bereichen Sport, Musik und Kunst Abstriche zu machen, als bei Nachhilfe oder Extra-Lernzeit für die Kinder.
Gemeinsame Projekte in Sportvereinen und Schulen
Doch man reagiert: Der DOSB führt schon jetzt Projekte mit Schulen gemeinsam durch, denn man geht langfristig von der Idee der Ganztagsschule aus. "Das Problem ist, dass wir nicht verlässlich planen können, denn die Bundesländer haben unterschiedliche Umsetzungen und ständig kommen Reformen der Reformen." Doch viele gute Ideen scheitern an der nötigen Infrastruktur, beispielsweise an Turnhallen und natürlich am Geld. Sportvereine alleine können das nicht leisten. Rump betont: "Wenn Kinder es noch schaffen, sich neben der Schule im Verein zu engagieren, dann ist das eine tolle Sache, denn Sport vermittelt informelle Bildung und Werte wie Freiwilligkeit, Teamgeist, Engagement. Das sind große Werte."
Keine Zeit für Bildung außerhalb der Schule
Lena hat jetzt mit dem Gitarren-Unterricht für ein Jahr ausgesetzt, selbst wenn sie irgendein gemeinsames Zeitfenster mit ihrem Lehrer gefunden hätte, sie hätte kaum Gelegenheit zum Üben gefunden. Lenas Eltern sind zwar traurig, dass gerade kreative Hobbys leiden, verstehen aber Lena und gewinnen dem auch etwas Positives ab: Immerhin sparen sie dadurch monatlich 80 Euro Musikschulgebühr, das tut der Familienkasse gut.
Die Mittelstufe trifft es am stärksten
In der jetzigen Mittelstufe kommt es knüppeldick: 36 Wochenstunden statt 30 wie früher in G9, zweimal Nachmittagsunterricht. Im G9 gab es erst in der Oberstufe auch noch nach 13 Uhr Unterricht, jetzt müssen schon die Sechstklässler sieben Stunden absitzen. Im G9 verteilten sich die Pflichtstunden bis zum Abitur besser, für das G8 wurde nicht der Stoff eines Schuljahres gekappt, sondern nur so viel wie in ein Halbjahr passt.
In der neunten Klasse wird es für Lena noch heftiger. Nachhilfe gehört schon jetzt für viele ihrer Mitschüler dazu, nicht nur für die versetzungsgefährdeten. "Das ist doch systemimmanent", sagte eine ihrer Lehrerinnen, "wir Lehrer können den Stoff gar nicht vermitteln." Ein Armutszeugnis für die Lehrer oder bittere Wahrheit?
Lena hat das Gefühl, in diesem Schuljahr passiert alles auf einmal: Ski-Freizeit, England-Austausch und Konfirmations-Vorbereitung mit mehrtägiger Schulbefreiung. Eigentlich toll, aber muss es so geballt sein?
Wird der Samstag angetastet?
Der Musikschulverband ist schon lange auf dem Plan. "Man muss vielleicht auch mal an die heilige Kuh Samstag ran, um den Unterricht zu entzerren", prophezeit Matthias Pannes, Bundesgeschäftsführer der deutschen Musikschulen "Was wir bieten ist nicht nur reines Hobby, das sind Bildungsangebote, die Schulen gar nicht leisten können, das müssen Politik und Schulen erkennen." Er fordert ein Zusammenspiel der Akteure aus Kunst, Musik, Sport, Schule und Politik. "Wenn man Schule nur als reinen Lernort versteht, dann enthält man Kindern und Jugendlichen Entfaltungsmöglichkeiten vor." Eigentlich müsste man die Schulen völlig neu aufstellen, meint Pannes, denn "unsere Gesellschaft braucht künftig nicht nur funktionierende Menschen, die Sprachen und Technik beherrschen, sie benötigt dringend auch kreatives Potential. 'Ausschnittsmenschen' werden die Zukunft nicht ausreichend gestalten können."
Es gibt auch gute Seiten an G8
Dabei sieht Pannes durchaus Potenzial für seine Ideen im G8, falls dies als Ganztagsmodell angelegt ist. Dann wäre an Nachmittagen Zeit für Angebote wie Chor, Orchester, Band. In Lenas Schule beispielsweise gibt es kaum Musik-Wahlangebote, Schulinstrumente sind kaputt, für Reparaturen und Neuanschaffungen ist kein Geld vorhanden.
Wochenende gehört nicht mehr der Familie
Freizeitsport und Musik rutschen nach hinten oder auf das Wochenende. Jedes Turnier am Wochenende bedeutet für Lena: Schon wieder früh aufstehen. Außerdem wird auch am Wochenende gelernt, Referat vorbereitet. Und hoffentlich bleibt ein bisschen Luft, um Freunde zu treffen. Einen Familien-Ausflug gab es schon lange nicht mehr.
Schule braucht einen neuen Rhythmus
"Schule hat sich total verändert, sie ist zum Lebensraum geworden, das hat positive und negative Seiten", erklärt der Vorsitzende des Deutschen Philologenverbandes Heinz-Peter Meidinger. Nachmittagsbetreuung, Wahlkurse, Mittagstisch, das gab es früher nicht. Partielle Ganztagsschule nennt er das. "Wir müssen die Übungsphasen in die Schule integrieren, wir müssen neu rhythmisieren", fordert er. Das bedeutet, nicht die soften Fächer wie Kunst, Musik und Sport auf den Nachmittag schieben, sondern Kernfächer, Übungsphasen, kreative Fächer und Sport über den Tag verteilt abwechselnd planen. "Wir haben noch kein neues Gleichgewicht gefunden", gibt Meidinger zu, selbst Direktor des Deggendorfer Robert-Koch-Gymnasiums. "Die Versprechen wurden nicht eingelöst, die Ganztagsschule wurde nur halbherzig umgesetzt. Es fehlen Geldmittel und Ausstattung. Das G8 funktioniert nicht wegen der Vorgaben der Politik, sondern trotzdem."
Krankheitsrate ist gesunken, der Frust gestiegen
Selbst in der Oberstufe ist die Krankheitsrate gesunken. Obwohl sich die volljährigen Schüler selbst befreien können, tun sie es nicht, aus Angst, zu viel zu versäumen. Die Lehrer leiden unter der Stoffverdichtung. "Es ist unbestritten, dass das G8 überstürzt eingeführt wurde, aber mit einer Rückkehr zum alten System wäre auch keinem gedient. Wir müssen wohl mit einem Niveauverlust leben."
Früher galt die Regel, ein Nachmittag der Woche bleibt für alle Jahrgangsstufen frei von Unterricht und Wahlfächern, dann ist Zeit für eigene Hobbys. Heute gilt das nicht mehr.
Viele Wege führen zum Abitur
Manchmal beneidet Lena ihren kleinen Bruder, der sich für die Gesamtschule entschieden hat, vor allem weil seine Freunde dort sind. Auch er will Abitur machen, aber erst nach neun Jahren weiterführender Schule, das ist in Hessen möglich. Er wird bis zur siebten Klasse nur eine Fremdsprache haben, Lena hatte schon in der fünften zwei.
Gerade hat sie eine Freundin aus der Grundschule getroffen, die vom Reiten zurückkam, als Lena erst mit ihrem Neun-Stunden-Tag durch war. Die hat nur 31 Wochenstunden in der selben Jahrgangsstufe, aber auf der Gesamtschule.
Auch Meidinger, selbst Direktor eines bayerischen Gymnasiums, gibt zu: "Es muss auch andere Wege zum Abitur geben als das Gymnasium, ohne frühe Selektion und Schubladendenken, eben Gesamtschulen, Stadtteilschulen, Fachoberschulen, Berufsgymnasien und andere. Das Alleinstellungsmerkmal der Gymnasien ist dann eben, dass sie in kürzerer Zeit zum selben Ziel führen."
Was bringt es wirklich?
Dabei ist das Abitur noch so weit weg. Soll sie sich wirklich schon jetzt Gedanken machen? Wird sie wohl auch mal vor dem Studium noch Vorbereitungskurse an der Uni belegen müssen? Wie ihr Cousin, einer der ersten Abiturienten des bayerischen G8, der nun im Doppel-Abiturjahrgang mit den G9-Kommilitonen konkurrieren muss. In diesen Kursen soll das nachgeholt werden, was im G8 zu kurz kam.
Manche ihrer Freundinnen haben schon jetzt genug vom Lernen und würden gerne nach dem Abi zur Polizei oder in eine Behörde gehen. Früher konnte man dort im zweiten Berufspraktikum in der Oberstufe schnuppern, aber das wurde im G8 gestrichen.
Freundschaften per Chat pflegen
Aber eigentlich ist es ganz normal. "Da müssen halt alle durch", sagt sich Lena. Vor dem Einschlafen wird sie noch mit ihren Freunde chatten: Fällt morgen was aus? Wer hat schon Infos für das Kunst-Projekt? Sind Eure Eltern auch so hysterisch wegen der Schule?
Ganz klar, das G8 hat die Medienkompetenz der Jugendlichen gestärkt, da sind sie Eltern und Lehrern meist haushoch überlegen: Die Recherche für das Referat passiert im Internet, die Präsentation wird hochgeladen und auf der digitalen Schultafel abgerufen, die Absprachen werden per Mail getroffen. Das spart Zeit, denn die ist wirklich knapp geworden. Wie und wo sollte man sich auch treffen, wenn alle in verschiedenen Himmelsrichtungen wohnen? Außerdem sind die Büchereien immer seltener geöffnet und immer schlechter ausgestattet.
Großer Verbesserungsbedarf
Lena hat Glück: Ihre Noten sind in Ordnung, die meisten ihrer Freunde sind in derselben Schule wie sie, also sieht sie die auch jeden Tag. Für sie ist die Schule tatsächlich ein Lebensraum, allerdings mit extrem großen Verbesserungsbedarf.