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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Familientherapeut Jesper Juul Eltern müssen Aggressionen bei Kindern zulassen
Alle Eltern wollen am liebsten brave Kinder. Negative Gefühle wie Wut haben in dieser Ideal-Welt oft keinen Platz. Dagegen wendet sich der dänische Familientherapeut Jesper Juul in seinem Buch "Aggression. Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist".
Trotz aller Zuwendung und Liebe, die die meisten Eltern ihren Kindern geben, läuft dennoch nicht immer alles rund auf dem Weg zum Erwachsenwerden: Da beißt ein Dreijähriger im Sandkasten zu, weil ihm von seinem Spielkameraden die Schippe weggenommen wird, der große Bruder schubst mit aller Kraft die kleine Schwester weg, weil er sich über sie ärgert oder der aufgebrachte Nachwuchs bearbeitet seine Mutter im Supermarkt mit Fäusten, weil sie ihm keine Süßigkeiten kauft.
Aggressionen sind in unserer Gesellschaft "unerwünscht"
Eigentlich sind solche Wutszenen nichts Ungewöhnliches, spielen sich tagtäglich in unzähligen Familien ab und gehören genauso zur kindlichen Entwicklung wie etwa das Bedürfnis nach Geborgenheit. Dennoch ist aggressives Verhalten in unserer Gesellschaft unerwünscht, weil es nicht in das pädagogische Weltbild der meisten Eltern und Pädagogen passt: Sie streben nach möglichst harmonischem Zusammenleben ohne Wut und Gewalt und versuchen deshalb mit sanften Methoden daran zu arbeiten, dass Kinder zu netten, höflichen aber auch angepassten Menschen heranwachsen.
Juul: Aggression ist ein elementarer Lebensaspekt
Für Familientherapeut und Bestsellerautor Jesper Juul ist die "Diskriminierung" von Aggression als nicht legitime Emotion inakzeptabel und kontraproduktiv. Er versucht deshalb in seiner neuen Streitschrift "Aggression - warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist" das verpönte Gefühl aus der Tabuzone zu holen und plädiert für einen positiven Umgang damit, da es eine ebenso elementare Bedeutung habe wie andere Lebensaspekte und deshalb auf keinen Fall ausgeblendet und ausgemerzt werden dürfe: "Konstruktive Aggression ist wie Sexualität oder Liebe", schreibt Juul. "Alle drei machen das Leben möglich, bereichern unsere Beziehungen, führen zu tieferen Einblicken und einer besseren Lebensqualität." Die gesamte emotionale Musik und Poesie, die jedem Menschen inne wohne, müsse zum Klingen gebracht werden - einschließlich Gereiztheit, Frustration, Wut, Zorn und sogar Hass. Nur so könne man reif und erwachsen werden.
Kinder müssen früh lernen, mit ihren aggressiven Gefühlen umzugehen
Eltern, Erzieher und auch Lehrer müssten danach trachten, so die Forderung Juuls, Aggressionen zuzulassen, ohne dass das kindliche Verhalten dann von vornherein als "böse" und unartig abgestempelt würde. Dafür sei jedoch Geduld und Einfühlungsvermögen nötig, meint Juul: "Es braucht eine Kindheit lang, um zu lernen, aggressive Gefühle zu integrieren und konstruktiv und kreativ zu nutzen. Wenn wir eine Welt ohne Krieg haben wollen, müssen wir dafür sorgen, dass unsere Kinder spätestens bis 15, 16 gelernt haben mit ihren Aggressionen umzugehen."
"Kuschel-Pädagogik" kann Aggressionen fördern
Dass dies oftmals nur schwer gelingt, begründet der Pädagogik-Experte unter anderem mit der weit verbreiteten "Kuschel-Erziehung", in der heute seitens der Eltern oder Pädagogen ein nie enden wollender sanfter, freundlicher und verständnisvoller Fluss von Erklärungen auf die Kinder einwirkt, ohne dass sich die Erwachsenen dabei wirklich für die Ursachen der Aggression interessierten. So würde das Bestreben Konflikte "sanft" lösen zu wollen, oft dazu führen, dass Kinder sich erst Recht verunsichert und unverstanden fühlten, kritisiert Juul.
Und er fragt scharf: "Kann es sein, dass Eltern, Erzieher und Pädagogen in eine andere Existenzsphäre entrückt sind, in der es ausschließlich Liebe gibt? Nein, keinesfalls. Sie haben bloß eine Art zu reden und sich zu verhalten angenommen, die der Form nach nicht als aggressiv gilt. Die Gewalt der Freundlichkeit und Korrektheit. Es ist jene Art getarnter Aggression und verbaler Gewalt, die die Älteren und Eloquenteren auf Kosten der Jüngeren und weniger Eloquenten leichten Herzens offen austragen." So würde es dem Kind unmöglich gemacht, seine Selbsterkenntnis zu vertiefen und zu lernen, in einer immer reiferen, sozial akzeptierten Art mit Emotionen umzugehen.
Aggressionen sind meist ein Hilferuf
Dabei könnte es so einfach sein, sich offen und selbstverständlich auf das "Tabu-Gefühl" einzulassen, weiß Juul. Eltern ebenso wie Erzieher oder Lehrer müssten einfach nur genauer hinschauen und vor allem genau hinhören! Jedes aggressive, destruktive Verhalten von Kindern, schreibt der 65-Jährige, sei nämlich ein Ausrufezeichen, ein meist unverstandener Hilferuf, der eigentlich nichts anderes sagen wolle als "Hallo, existiert dort draußen jemand, der wünscht meine Welt kennenzulernen und versuchen will, das Leben aus meiner Perspektive zu erfahren? Ich fühle mich in der letzten Zeit nicht gut und kann alleine nicht herausfinden, was sich machen lässt."
Vor diesem Hintergrund ist es auch verständlich, warum beispielsweise Zwei- bis Dreijährige in der sogenannten Trotzphase nicht nur häufig Wutanfälle bekommen, sondern mitunter auch beißen oder schlagen. Dieses Tun habe absolut nichts mit Gewalt zu tun, erklärt Juul, obwohl der Impuls von einer der vielfältigen Emotionen gespeist werde, die wir Aggression nennen. Solche kindlichen Attacken sind demnach in den allermeisten Fällen Zeichen der Frustration, die das Kind in dieser Phase häufig erlebt, da es seine inneren Konflikte noch nicht exakt in Sprache auszudrücken vermag.
Nach Ursachen der Wut fragen
Deshalb sollten Mütter und Väter oder andere Bezugspersonen bei aggressiven Ausbrüchen am besten nicht reflexartig schimpfen, weil das Kind ungehorsam ist. Sie sollten vielmehr versuchen ruhig, zugewandt, aber auch entschlossen mit dem Kind zu sprechen und nach den konkreten Ursachen des Zorns und der Verzweiflung fragen, dabei aber auch unbedingt die eigenen Emotionen ansprechen, empfiehlt der Familientherapeut. Die Ansprache könnte dann wie folgt lauten: "Mir gefällt es nicht, wenn du mich schlägst und ich will, dass du damit aufhörst! Trotzdem würde ich gerne wissen, womit ich dich so wütend gemacht habe?" Ein solche Mitteilung, erklärt Juul, mache dem Kind zwar Grenzen deutlich, verurteile es aber nicht pauschal für sein Verhalten und zerstreue deshalb in den meisten Fällen seine Frustration. Das Kind habe dann das Gefühl, dass ihm jemand zuhört und an seinem Problem interessiert ist. Es fühlt sich trotz des Konflikts wertgeschätzt und wertvoll.
Gesundes Selbstwertgefühl ist "Gegengift" gegen Gewalt
Versuchen Eltern schon früh, den Nachwuchs mit dieser akzeptierenden Haltung zu begegnen, die sich durch Dialog, Interesse, Neugier, Anerkennung und persönliches Feedback auszeichnet, wird das Kind mit der Zeit lernen, den Gefühlscocktail von Traurigkeit und Wut zu unterscheiden und zu integrieren: "Mit acht bis zehn Jahren wird es wissen", schreibt der Experte, "wie es über seine Begrenzungen traurig sein und wie es seine Wut in zieleorientierte Ambition verwandeln kann." Diese Lernprozesse prägten sich ins Gehirn ein, und würden zu Verhaltensmustern, die dazu beitragen, dass das Kind ein gesundes Selbstwertgefühl und soziale Kompetenz sowie Empathie nicht nur gegenüber seiner Familie entwickelt. Nichts könnte, so Juul in seinem Buch, Gewalt und Aggression effektiver vorbeugen.
Buch-Tipp: Jesper Juul "Aggression. Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist", Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2013. 16,99 Euro.