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Andreas Müller: Deutschlands bekanntester Jugendrichter im Gespräch


Andreas Müller im t-online.de-Interview
Deutschlands bekanntester Jugendrichter: "Enorme Anzahl von Opfern lässt mich verzweifeln"

t-online, Nicola Wilbrand-Donzelli

03.06.2014Lesedauer: 6 Min.
Andreas Müller, Deutschlands bekanntester Jugendrichter, fordert die Einführung eines bundesweiten Zentralregisters für Intensivtäter.Vergrößern des Bildes
Andreas Müller, Deutschlands bekanntester Jugendrichter, fordert die Einführung eines bundesweiten Zentralregisters für Intensivtäter. (Quelle: dpa-bilder)
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Von unserer Mitarbeiterin Nicola Wilbrand-Donzelli

Die einen bezeichnen ihn als "Hardliner" und härtesten Jugendrichter Deutschlands, andere nennen ihn "Abschreck-Richter". Andreas Müller (52) lehnt solche Etiketten ab. Er sieht sich - wie er in seinem Buch "Schluss mit der Sozialromantik" schreibt - im Gerichtssaal eher als Erzieher und hält sowohl von übertriebener Härte als auch von Kuschelpädagogik nur wenig. Wir haben mit Müller, der seit fast 20 Jahren Jugendrichter ist und rund 12.000 Jugendstrafverfahren verhandelte, gesprochen. Er arbeitet heute in Bernau bei Berlin.

t-online.de: In Ihrem Buch "Schluss mit der Sozialromantik" bemängeln Sie unter anderem, dass das Jugendstrafrecht insbesondere bei jugendlichen Intensivtätern häufig zu lax gehandhabt wird. Können Sie das erklären?

Andreas Müller: Im Grunde ist die große Mehrheit unserer Jugend gut. Und die Zahlen der Jugendgewalt in der Kriminalstatistik sind in den letzten Jahren rückläufig. Doch noch immer gibt es jährlich rund 25.000 erfasste gefährliche Körperverletzungen von Jugendlichen, Taten von Heranwachsenden und sonstige Gewaltdelikte nicht mal mitgerechnet. Das ist doppelt so viel wie 1992. Und wir haben geschätzt 12.000 bis 15.000 junge Menschen in der Bunderepublik, die für etwa 65 Prozent aller Straftaten von Jugendlichen und Heranwachsenden verantwortlich sind.

Manche begehen sogar 20, 30 oder 40 Straftaten. Und genau bei diesen Intensivtätern, diesen Begriff dürfte es de facto eigentlich gar nicht geben, wird nach wie vor nicht genügend hingeschaut. So leisten wir uns in einer Gesellschaft circa zehntausend junge Männer, es sind ja hauptsächlich männliche Täter, die eine enorme Anzahl von Opfern schaffen. Das lässt mich verzweifeln.

Was kritisieren sie konkret bei der Umsetzung des Jugendstrafrechts?

Ich kritisiere zum Beispiel, dass in den vergangenen Jahrzehnten und auch heute noch viele Jugendstraftaten gar nicht zum Richter kommen. Die werden am Gericht vorbei geführt. Das heißt, nur die Staatsanwaltschaft und das Jugendamt sind aktiv, nicht aber derjenige, der eigentlich erzieherische Maßnahmen ergreifen sollte - nämlich der Jugendrichter. Außerdem warten jugendliche Straftäter meist viel zu lange, bis die staatliche Instanz ins Spiel kommt. In der Zwischenzeit schlagen sie vielleicht wieder zu, weil sie keine unmittelbaren Sanktionen spüren. Und solche Fälle gibt es leider en masse.

Was sollte sich verändern?

Zunächst einmal müssen die Verfahren deutlich beschleunigt werden. Das heißt, Konsequenzen müssen, so wie bei der Kindererziehung innerhalb der Familie, möglichst sofort und nicht erst nach vielen Monaten oder sogar einem Jahr erfolgen, sonst haben sie keinerlei Wirkung. Außerdem muss eine Vernetzung aller beteiligten Institutionen in Form eines bundesweiten Zentralregisters angelegt werden, worauf jeder Polizeibeamte, jedes Jugendamt und jeder Jugendrichter jederzeit Zugriff hat. So sieht ein verantwortlicher Richter sofort, wenn ein Jugendlicher woanders erneut auffällt und kann schnell, effektiv und bisweilen auch mit der notwendigen Härte reagieren. Auch die Polizei wüsste über jugendrichterliche Weisungen Bescheid.

Ich schätze, schon allein so eine Kartei würde zu einer Reduzierung der Straftaten von bis zu 15 Prozent führen. Dann wünsche ich mir noch die Einführung des Erziehungsrichters, der in Personalunion Familien- und Jugendrichter ist. Dann wird nicht doppelt gearbeitet und ich habe als Richter nicht nur Zugriff auf den Jugendlichen, sondern auch Zugriff auf die Eltern und unter Umständen präventiv auch auf die Geschwister, die als Täter möglicherweise nachwachsen.

Sollte sich auch an den Strafen für jugendliche Täter etwas ändern?

Bislang haben Jugendrichter ja nur die Möglichkeit, bis zu vier Wochen Arrest zu verhängen und ab sechs Monaten den härteren Freiheitsentzug, nämlich den Jugendknast. Hier klafft also eine Lücke (Anmerkung d. Red.: eine Jugendstrafe beträgt immer mindestens sechs Monate). Deshalb plädiere ich für eine Verlängerung des Arrests und für eine Verkürzung des härteren Freiheitsentzugs auf eine Woche. So könnte man problemloser den einen oder anderen zur Abschreckung in den Knast packen, das muss aber je nach Fall immer individuell abgewogen werden.

Unterm Strich würde dies meines Erachtens dazu führen, dass wir Jugendrichter so weniger Knast verhängen müssten. Doch solche Maßnahmen sind vom Gesetzgeber bisher nicht vorgesehen und sie werden außerdem von den Sozialromantikern von links seit Jahren konsequent torpediert, weil sie angeblich zu einer Verschärfung des Sanktionskatalogs führen.

Wie treten Sie im Gerichtssaal auf, vor allem wenn Sie vermeintliche Intensivtäter vor sich haben?

Ich glaube zunächst, dass ich durch meine persönliche Geschichte einen anderen Blick auf die Materie habe. Zum einen war mein Bruder ebenfalls im Jugendknast, zum anderen hat mich in den letzten Jahren auch der Kampf gegen den Rechtsradikalismus geprägt. Das hat dazu geführt, dass ich als Richter immer sehr schnell und konsequent agiere - vor allem in solchen Fällen, wo ich Intensivtäter vermute. Dabei hilft mir auch meine gute Vernetzung mit der Polizei. Außerdem bin ich autoritär und gradlinig. Und ich denke generalpräventiv. Das heißt, ich habe nicht nur den Täter im Kopf, sondern auch sein Umfeld. Im Hinblick auf diese Fernwirkung kann Jugendrichter Müller dann auch schon mal eine heftigere Strafe verhängen.

Wie kommt Ihre Rechtsprechung bei den Jugendlichen an? In einem Interview mit der "Zeit" bezeichneten Sie sich einmal als "oberster Erzieher" in Ihrem Kiez.

Die Strafen, die ich verhänge, haben bei den Tätern nicht selten sogar eine positive Resonanz. In meinem Kiez akzeptieren die Jungs meine Autorität und sie wissen‚ "der kann hart sein, ist aber auch fair". Sogar diejenigen, die ich eingesperrt habe, sind mir heute bisweilen dankbar. Sie schauen zu mir auf und achten mich. Aus der Erfahrung von zwanzig Berufsjahren weiß ich, dass die Jungs, die bereits heftig straffällig wurden, Sanktionen wie Arbeitsauflagen oftmals gar nicht ernst nehmen. Die lachen nur darüber. Sie wollen eher klare Grenzen vom Richter aufgezeigt bekommen, wie von einem autoritären aber respektierten Vater.

Welches pädagogische Ziel verfolgen Sie? Was sollen die Strafen bewirken?

Die Erziehung mit den Mitteln des Jugendstrafrechts - seien es Weisungen, Arbeitsauflagen, Arrest oder sogar Jugendstrafvollzug - sollen junge Menschen läutern und sie wieder in die Mitte unserer Gesellschaft rücken, so dass sie nie wieder als Straftäter in Erscheinung treten. Ein Täter, der keiner mehr ist, wird auch keine Opfer mehr schaffen.

Durch Ihr konsequentes Durchgreifen wurden Sie als "Richter Gnadenlos" bezeichnet. Was sagen sie zu diesem Beinamen?

Die Bezeichnung "gnadenlos" betrachte ich als Beleidigung. Ich bin nie gnadenlos gewesen. Im Übrigen ist Gnade als elementarer Bestandteil unseres Rechts. Aber wenn man im Fokus der Öffentlichkeit steht, bekommt man eben bisweilen solche Titel. Ich habe während meiner Tätigkeit viele Titel bekommen: Anfangs nannte mich die Staatsanwaltschaft noch den "milden Müller". Später wurde ich dann zum "kreativsten Richter Deutschlands", weil ich in einigen Fällen ungewöhnliche Maßnahmen ergriff und zum Beispiel jungen Rechtsradikalen verbot, ihre typischen Springerstiefel, die ich als Waffen definierte, zu tragen. Deshalb finde ich das Attribut "kreativ" eigentlich passend - besser wäre aber noch "kreativ mit Herz und Verstand". So sehe ich mich jedenfalls.

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Welchen Appell richten Sie bezüglich des Jugendstrafrechts und der von Ihnen geforderten Veränderungen an die Politiker?

Macht was und redet nicht nur, wenn gerade mal wieder jemand totgeschlagen wurde! Die Politiker würden wahrscheinlich anders reagieren, wenn sie öfter in unseren Gerichtssälen säßen und mitbekämen, wie viele Menschen täglich geschlagen werden oder wenn ihre eigenen Kinder zu Opfern würden. Deshalb sollten Politiker regelmäßig in Gerichtssälen hospitieren und Jugendstrafverfahren beiwohnen, so wie Manager sich gelegentlich auch ans Fließband stellen, um den Kontakt zur Realität nicht zu verlieren.

Ich bin der festen Überzeugung, wenn nur einige der geforderten Änderungen beim Sanktionenkatalog und bei den Instrumentarien umgesetzt und darüber hinaus die Jugendrichter zeitlich besser ausgestattet würden - wir müssen bisweilen wie am Fließband arbeiten - könnte die Jugendkriminalität innerhalb nur weniger Jahre um 50 Prozent reduziert werden. Daran glaube ich fest. Dazu beitragen könnte auch der Warnschussarrest, der nach zehnjähriger Diskussion letztes Jahr endlich eingeführt wurde und nun langsam in den Gerichtssälen Anwendung findet. Dabei können Straftäter, die auf dem besten Wege sind, Intensivtäter zu werden, für mehrere Wochen sozusagen als Schocktherapie und Abschreckung in den Jugendarrest geschickt werden.

Das Interview führte Nicola Wilbrand-Donzelli

Literaturhinweis: Andreas Müller, "Schluss mit der Sozialromantik - ein Jugendrichter zieht Bilanz", Herder-Verlag, Freiburg

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