Frühgeburten "Die Kinder haben mit aller Kraft um ihr Leben gekämpft"
Noch vor wenigen Jahren hat man einem Frühchen, das vor der 24. Schwangerschaftswoche (SSW) geboren wurde, das Überleben nicht zugetraut. Doch in Fulda überlebte ein Mädchen, das schon nach 21 Wochen und fünf Tagen Schwangerschaft geboren wurde. Jährlich kommen weltweit 15 Millionen Babys zu früh auf die Welt, allein in Deutschland ist es jedes elfte. 8000 davon werden vor der 30. SSW geboren. Die Überlebenschancen dieser Kinder, die manchmal kaum mehr als ein Pfund wiegen, werden dank der Medizin immer besser. Aber Überleben allein reicht nicht.
Über 80 Prozent der zu früh geborenen Kinder erleiden keine schweren geistigen Behinderungen. Doch was die Zukunft wirklich bringt, lässt sich auch bei Frühgeborenen, die sich gut entwickeln, nur schwer vorhersagen. Denn durch die zu frühe Geburt finden wichtige Entwicklungsprozesse des Gehirns nicht im sicheren, geschützten Mutterleib statt, sondern in einem Brutkasten auf einer Intensivstation. Und hier gibt es, das zeigen Computertomographieaufnahmen, deutliche Unterschiede. Laut der Europäischen Stiftung für Neugeborene sind die häufigsten Folgen Entwicklungsdefizite beziehungsweise -verzögerungen, Störungen in der Motorik und bei der Aufmerksamkeit. Diese Kinder haben spezielle Schwierigkeiten im Alltag, die oft erst dann richtig auffallen, wenn sie in den Kindergarten oder in die Schule kommen.
Frühgeborene entwickeln bis zu viermal häufiger Verhaltensstörungen
Verhaltensauffälligkeiten werden im Gegensatz zu körperlichen oder kognitiven Aspekten sehr viel seltener untersucht, was unter anderem daran liegt, dass sie schwerer zu messen sind. Zudem sind Verhaltensentwicklungen stark von Umweltbedingungen abhängig und das erschwert die Zuordnung zur Frühgeburt. Ähnliche Studien, die sich mit diesem Thema beschäftigt haben, kommen aber alle zu denselben Ergebnissen: Zu früh geborene Kinder sind bis zu viermal häufiger von Verhaltensauffälligkeiten betroffen und zwar quer durch alle Länder. Was die These verstärkt, dass diese Verhaltensauffälligkeiten biologisch bedingt sind. Am häufigsten sind soziale Probleme im Umgang mit Gleichaltrigen, Ängste, ein geringeres Selbstbewusstsein sowie Aufmerksamkeitsstörungen.
Das korrigierte Lebensalter ist vor allem in den ersten Monaten entscheidend
In welchem Tempo sich ein Kind entwickelt, lässt sich nie genau vorhersagen. Aber anhand von Entwicklungsskalen, die mit Spielräumen arbeiten, lässt es sich messen. Das Gleiche gilt für Frühchen, bei denen man vor allem in den ersten drei Lebensjahren das sogenannte "korrigierte Lebensalter" heranzieht, also die Zeit, die das Kind eigentlich noch im Mutterleib verbracht hätte, vom tatsächlichen Alter abzieht. Denn nur so ist gewährleistet, dass vom Kind nicht etwas verlangt wird, das es weder leisten kann, noch leisten können muss.
Doch selbst bei Korrektur des Lebensalters können sich Frühgeborene vorübergehend langsamer entwickeln - und später wieder aufholen. Um nichts zu versäumen, sollten trotzdem sehr unreif geborene Kinder beziehungsweise solche mit sehr niedrigem Geburtsgewicht regelmäßig entwicklungsneurologisch und -psychologisch untersucht werden, um frühzeitig mit einer genau zugeschnittenen Therapie oder Frühförderung beginnen zu können. Das genaue Wissen um den Stand des Kindes hilft auch den Eltern, sich nicht zusätzlich von außen verunsichern zu lassen.
Langzeitstudien bringen erstaunliche Erkenntnisse
Erst seit etwas mehr als 20 Jahren verfolgt man, mit unterschiedlichen Schwerpunkten, die Entwicklung von Frühchen. Die wohl bekannteste Studie ist die Epicure-Studie. Sie beschäftigt sich mit der Langzeitentwicklung von Babys, die 1995 in Großbritannien und Irland viel zu früh geboren wurden. Heute sind diese Kinder 18 Jahre alt und viele von ihnen werden immer noch von der Studie erfasst. Eines der entscheidenden Ergebnisse dieser Studie ist, dass bei Kindern, die vor der 28. SSW geboren sind, auch das Geschlecht eine Rolle für die zukünftige Entwicklung spielt: Jungs haben doppelt so häufig dauerhaft Probleme. Dieses Ergebnis führt man auf die unterschiedliche zeitliche Gehirnentwicklung bei Jungs und Mädchen zurück, vergleichbar mit der Pubertät. Hinzu kommen die schon oft nachgewiesenen emotionalen, sozialen und kognitiven Probleme. Diese sind, den Wissenschaftlern zufolge, genau wie der häufig auftretende Autismus auf Verarbeitungsstörungen im Gehirn zurückzuführen.
Viele Faktoren erleichtern den Weg ins Leben
Ganz wichtig nicht nur für das Überleben, sondern auch für die spätere Entwicklung des Kindes sind die ersten Lebenstage, die Lebenskraft des Babys und der Umgang mit Anfangskomplikationen. Zweifelsohne ist es das Beste, das Kleine kommt in einem speziellen Perinatalzentrum auf die Welt, sofort umgeben von einem Team von Fachleuten. Doch das allein reicht nicht. Langfristig mitentscheidend für die Entwicklung des Kindes sind auch Faktoren wie das Einbeziehen der Eltern in die Pflege und Versorgung, um den emotionalen Zugang zwischen Eltern und Kind zu erleichtern.
Von den Eltern wird viel erwartet
Eine qualifizierte Nachbetreuung durch erfahrene, auf Neugeborene spezialisierte Kinderärzte hat sich bewährt. Die Eltern-Kind-Beziehung ist dann besser, die Eltern haben mehr Selbstvertrauen, finden sich durch die Hilfe von außen leichter im Informationsdschungel zurecht und sind so in der Lage, Fördermaßnahmen entsprechend zu nutzen. 30 Prozent des Entwicklungserfolges, davon geht man auch beim Bundesverband "Das frühgeborene Kind" aus, gehen auf die Förderung durch die Eltern zurück. "Die Eltern sind die Primärtherapeuten. Dieser Verantwortlichkeit müssen sie sich bewusst sein", schreiben Ursula Hahnenberg und Daniela Diephaus in ihrem Buch "Kleine Kämpfer werden groß". Die Autorinnen beschäftigen sich intensiv mit Kindergarten- und Grundschulzeit frühgeborener Kinder. Auch sie bestätigen, dass die Eltern dabei Unterstützung brauchen, damit die Therapie in die richtigen Wege gelenkt wird und sich der Entwicklungserfolg auch wirklich einstellt.
Traumata sind nicht zu unterschätzen
Kinder, die das Licht der Welt zu früh erblicken, sind traumatisiert, auch wenn man es ihnen auf den ersten Blick nicht anmerkt. Die Stressbelastung durch die Frühgeburt und die intensivmedizinische Behandlung prägen die Entwicklung. Die beiden Hamburger Spezialisten Axel von der Wense und Carola Bindt stellen in ihrem Buch "Risikofaktor Frühgeburt" fest, "dass Frühgeborene häufig multiple schmerzhafte medizinische Prozeduren und auch lebensbedrohende Situationen erleiden müssen und gerade solche ganz oben auf der Liste von Ereignissen geführt werden, die eine Traumatisierung von jungen Kindern nach sich ziehen können." Doch nicht nur die Kinder tragen ein Trauma davon, auch ihre Eltern kommen nicht ohne seelische Blessuren weg. Gerade beim Eintritt in den Kindergarten oder in die Schule zeigt sich oft, wie tief die ausgestandene Angst und die Sorge um das Kind sitzen. Das Loslassen fällt besonders schwer.
Das Schulsystem müsste sich anpassen
Jeder Tag mehr im Mutterleib scheint gut für die Entwicklung des Gehirns zu sein. Wenn man bedenkt, dass allein mehr als die Hälfte aller Schwangerschaften weniger als 39 Wochen dauert und auch die Tendenz zu frühen Kaiserschnitten immer größer wird, dann sind diese Ergebnisse in vielerlei Hinsicht bedeutend. Durch die hohe Anzahl an Frühgeburten steigt der Bedarf an spezieller Förderung im Schulunterricht. "Eine Herausforderung für das Schulsystem", nennt das die Entwicklungspsychologin Julia Jäkel von der Ruhr-Universität Bochum im Rahmen eines Fachartikels.
Frühchen ist nicht gleich Frühchen
Das zu früh geborene Kind auf dem Weg in sein eigenes Leben zu begleiten und es dabei zu unterstützen, sein Lernpotenzial zu entfalten, ist nicht einfach. "Diese Kinder haben mit aller Kraft um ihr Leben gekämpft. Sie haben Dinge mühsam erlernen müssen, die für Reifgeborene selbstverständlich sind, wie zum Beispiel das Atmen", schreibt eine betroffene Mutter im Ratgeber "Frühgeborene und Schule. Ermutigt oder ausgebremst?". "Mit aller Wahrscheinlichkeit haben sie schon den größten Kampf ihres Lebens bestanden, einen Kampf, den viele Menschen in 80 Lebensjahren nicht führen müssen." Ein solches Kind, so wie es ist, zu akzeptieren, es zu unterstützen und zu fördern, ohne es zu überfordern, bleibt daher für die Eltern eine dauernde Herausforderung.
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.