Überfordert durch Unterforderung Hochbegabung ist für Tobias (15) Fluch und Segen
Tobias ist hochbegabt und besucht parallel zur Schule ein entsprechendes Förderprogramm der Stadt Mannheim. Klingt unkompliziert, ist es aber nicht. Denn Gleichaltrige empfinden den Jungen als seltsam. Dabei wünscht sich der 15-Jährige nur eins: Freunde zu finden, die ihn so akzeptieren, wie er ist.
Viele Hochbegabte sind zusätzlich mit anderen Besonderheiten behaftet. Bei Tobias sind es ADHS und das Asperger Syndrom, eine abgeschwächte Form des reinen Autismus. "Man weiß nie so genau, was ist ADHS und was sind Reaktionen aus dem Asperger heraus", erkärt sein Vater Markus.
Eine Hochbegabung kommt selten allein
Der hübsche und aufgeweckte Junge kann die Gefühle anderer nicht einordnen, nicht mitfühlen, Signale nur schwer deuten. An manchen Tagen wird er von Tics und Zwängen beherrscht. "Abends lösche ich sein Licht, denn wenn er es selbst täte, kann es sein, dass er den Lichtschalter 30 Mal betätigen muss, bevor seine Seele Ruhe gibt."
Ab und zu muss Tobias die Welt aussperren
"Ein solches Verhalten wirkt oft verwirrend. Dabei sind Zwänge genau wie soziale Anpassungsstörungen sehr häufig in Verbindung mit extremer Intelligenz zu finden", weiß Karsten Otto, Vorstand des Vereins Hochbegabtenförderung.
"Am auffälligsten ist das, wenn jemand Tobias' Ordnung beziehungsweise seine Privatsphäre stört", berichtet seine Mutter Sandra. Wenn Besuch kam, hat der Junge früher sein Zimmer fast komplett ausgeräumt, um seine Sachen in Sicherheit zu bringen. Danach dauerte es Stunden, alles wieder akribisch einzuräumen. Inzwischen hat Tobias einen Riegel an seiner Tür, er sperrt die Welt aus, wenn sie ihm zu viel wird. Tobias braucht seinen Raum - im wahrsten Sinne des Wortes.
"Einmal habe ich eine Gardine mit einem Riss ausgetauscht. Tobias hat sich erst wieder beruhigt, als die alte Gardine wieder an ihrem Platz hing. Und da hängt sie heute noch, mitsamt dem Riss." Die Eltern müssen täglich auf viele Dinge achten. "Wir können nicht einfach die Möbel umstellen oder mal woanders hin in den Urlaub fahren. Unser Sohn braucht einen ganz festen Rahmen."
Schon früh war Tobias anders als Gleichaltrige
Als Tobias klein war, wollte er nur auf den Spielplatz, wenn keine anderen Kinder dort waren. Kamen welche, packte er seine Siebensachen und bestand darauf, heimzugehen. Ein Kindergeburtstag war undenkbar. "Natürlich weiß ich im Nachhinein, dass ich damals schon gespürt habe, dass das und manches andere nicht 'normal' ist. Aber ich hatte ja keine Vergleichsmöglichkeiten."
Kaum kam Tobias in den Kindergarten, begannen die Schwierigkeiten. "Mich kannte man nur noch als die Mutter des Kindes, das immer nach seiner Mama schreit. Tobias stand monatelang vor dem Spiegel im Kindergarten und hat geweint. Es schien, als wolle er seine eigenen Reaktionen auf den Verlust sehen, um sich besser spüren zu können."
Ergebnis des psychologischen Tests überraschte nicht
Auch später zog der Junge sich lieber alleine zurück. In die Bauecke, zum Lego - und kam nicht damit klar, wenn andere ihn in seinem Tun störte. "Tobias reagierte dann aggressiv. Er wusste sich nicht anders zu helfen", erinnert sich Sandra. An Ausflugstagen hat sie sich freigenommen, um ihren Sohn zu begleiten und damit auch zu schützen.
Doch den Stempel als schwieriges, verhaltensauffälliges Kind bekam Tobias nicht mehr los. Ein Besuch beim Kinderpsychologen wurde den Eltern nahegelegt. Das Ergebnis überraschte niemanden: ein IQ von 140. Laut Karsten Otto ist das die Grenze zwischen hoch- und höchstbegabt: "In Deutschland hören die Tests bei 150 auf."
Hochbegabung: Fluch und Segen
"Im ersten Moment mag man denken, wie cool, ein so kluges Kind zu haben. Ist es auch, aber es fordert auch, denn der Bedarf an Input ist riesig. Ein solches Kind braucht deine ganze Aufmerksamkeit. Aber verglichen mit ADHS und dem Asperger ist es wenigstens der Punkt, an dem man ansetzen kann, um seinem Kind zu helfen, zufriedener zu werden."
Die Eltern schafften zusätzliches Spielzeug an, besorgten ihrem kleinen Sohn einen professionellen Werkzeugkoffer, kauften eine Dauerkarte fürs technische Museum und organisierten Holzbautage im Kindergarten, um ihrem unterforderten Sohn einen Anreiz zu bieten und ihn dadurch auch besser zu integrieren. "Nachmittagelang habe ich mich hingesetzt und mit meinem Kind Tausende von Bügelperlen nach Farben sortiert. Auch, wenn viele das komisch fanden, ihm hat’s gefallen und mich hat es irgendwie beruhigt."
Soziales Verhalten musste Tobias mühsam erlernen
Die ersten beiden Grundschuljahre waren die ruhigste Zeit in Tobias Kindheit. Die erfahrene Lehrerin hatte die Situation im Griff. Den Vorschlag, eine Klasse zu überspringen, lehnte der Junge ab. Doch ab dem Lehrerwechsel fingen die Schwierigkeiten wieder an, bis zur teilweisen Suspendierung vom Unterricht.
"Ich weiß gar nicht, wie oft ich in der Schule war. Wie oft ich versucht habe, zu erklären, zu vermitteln und wie oft ich viel zu spät informiert wurde, gar keine Chance mehr hatte, einzugreifen." Sandra setzte alle Hebel in Bewegung, damit Tobias im Rahmen einer Therapie soziale Interaktionen lernt.
Das dauerte und in der Schule wurde es immer schlimmer. Tobias reagierte immer aggressiver auf seiner Mitschüler, die sich einen Spaß daraus machten, ihn zu necken. Auf dieses Zuviel an Nähe reagierte der Junge wie ein Tier, das in die Ecke gedrängt wird.
Die Eltern wünschen sich mehr Verständnis von außen
Hochbegabung ist vererbbar. Sandra und Markus haben sich aber nie testen lassen. "Ich könnte mir vorstellen, dass wir beide einen Teil davon in uns tragen." Vor allem Markus kann sich oft sehr gut in seinen Sohn hineinversetzen, erkennt Ähnlichkeiten zu sich. Für Sandra ist es manchmal schwieriger.
"Es gibt Momente, in denen ich zugeben muss, dass ich mit meiner Kraft am Ende bin oder andere, in denen mich seine Art so nervös macht, als hätte ich zwei Kannen Kaffee getrunken. Tobias sieht mich dann immer an und sagt: 'Ich kann doch nichts dafür, ich mach das nicht mit Absicht.' Dann weiß ich wieder, wofür ich kämpfe." Sandra und Markus halten zusammen, auch wenn ihr Alltag oft von Tobias' Problemen überschattet wird.
"Uns war immer klar, wir ziehen das gemeinsam durch, egal, wie hart es ist. Unser Sohn ist so wie er ist genau richtig und wir sind stolz auf ihn. Es ist ja auch schön mit einem Kind, das die Welt mit anderen Augen sieht." Schmunzelnd fügt sie hinzu: "Wenigstens gibt es bei uns keine Notenprobleme."
Ein Problem, das man kennt, kann man angehen
Auf die Frage, was sich beide im Umgang mit der Hochbegabung und den Störungen von außen gewünscht hätten, überlegt Sandra nicht lange: "Hätte ich manches vorher gewusst, dann hätte ich anders gehandelt, statt unseren Sohn auch noch in Situationen hineinzudrängen, die nicht gut für ihn sind. Ich frage mich immer wieder, warum man uns nicht von vornherein die ganze Diagnose mitgeteilt hat, sondern immer nur von Hochbegabung die Rede war. Erst Jahre später habe ich ein Buch über das Asperger-Syndrom in die Hände gedrückt bekommen und das war wie eine Offenbarung. Es schien, als würde der Autor mein Kind kennen."
Am richtigen Umfeld ist Tobias gewachsen
Dass Tobias seinen Weg gehen wird, davon sind beide überzeugt. "Er hat schon so viel mitgemacht und je älter er wird, desto besser kann er mit all dem umgehen. Er fängt an, sich so zu akzeptieren wie er ist. Das verdanken wir vor allem den Lehrern seiner jetzigen Schule. Sie sind offen für Tobias und kommen ihm entgegen, wo es geht." Die Eltern haben das Gefühl, dass man Tobias hier nicht als Störenfried, sondern als Bereicherung empfindet. "Hier bekommt er nicht mehr das Gefühl vermittelt, sich schämen zu müssen und das tut ihm gut."
Probleme mit dem Selbstbewusstsein sind häufig bei Hochbegabten, weiß Karsten Otto. "Man denkt dann, alle anderen sind richtig und ich bin falsch. Wenn man sich nichts mehr zutraut, dann kann der IQ noch so hoch sein, dann bringt das auch nichts, die Leistungen lassen nach." Tobias hilft eine Verhaltenstherapie. "Er kann sich inzwischen klar ausdrücken, auch wenn es um Gefühle geht und dann kann man entsprechend reagieren", sagt Sandra.
Eigentlich wünscht sich der Junge nur einen Freund
Fragt man Tobias etwas, bekommt man eine ehrliche Antwort. Schonungslos. Es scheint, als könne er nicht lügen, auch dann nicht, wenn die gesellschaftliche Norm eine Notlüge oder ein Schweigen vorschreiben würde. Mit diesem Verhalten, der fehlenden Empathie und dem Desinteresse an typischen Teenagerthemen stößt der Junge Gleichaltrige vor den Kopf.
"Ein durchschnittlich intelligentes Kind kann unter vielen anderen seine Freunde wählen. Für einen Hochbegabten ist das schwierig, nur wenige Prozent sind auf seiner Augenhöhe. Von den anderen unterscheidet er sich oft schon aufgrund des Sprachniveaus, das macht es schwer." Auch Tobias hat schon immer lieber mit Älteren oder mit Jüngeren etwas unternommen, das war einfacher für ihn. "Oder mit Mädchen, aber die sind seit der dritten Klasse auch komisch. Aber am liebsten bin ich sowieso alleine, denn die anderen verstehen mich immer nicht. Lassen mich nicht in Ruhe, wenn ich in Ruhe gelassen werden möchte."
Er wirkt sehr traurig, als er das sagt. Denn eigentlich wünscht sich Tobias einen Freund. So einen wie Noah. Der ist 14 und besucht wie Tobias die Jugendakademie für Hochbegabte. "Er hat sich einfach neben mich gesetzt und mir seine Handynummer gegeben", wundert sich Tobias - und ein bisschen freut er sich auch. Vielleicht, so hofft er, versteht dieser Junge ja, wie es ihm geht und wird der Freund, den er sich schon so lange wünscht.
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.