Ritalin ADHS: Hamburg ist Spitzenreiter bei Ritalin-Verschreibung
Kinder
"Die Verordnungsrate des Wirkstoffs in Hamburg liegt fast 50 Prozent über dem Bundesdurchschnitt," berichtet der vdek und stützt sich bei der Analyse auf die Auswertung seiner Arzneimittelabrechnungsdaten aus dem vergangenen Jahr. Der vdek vertritt die sechs Ersatzkassen Barmer GEK, Techniker Krankenkasse, DAK-Gesundheit, Kaufmännische Krankenkasse KKH, HEK-Hanseatische Krankenkasse und hkk.
In Hamburg wird doppelt so viel Ritalin verordnet wie in Berlin
Nimmt man als Vergleichswert die verordneten durchschnittlichen Tagesdosen des Wirkstoffs pro 1000 Kindern, die bei den Ersatzkassen versichert sind, belegt Hamburg mit 18,6 Tagesdosen Ritalin den ersten Platz. In Berlin werden nur etwa halb so viele Dosen verordnet (9,8). Auf den zweiten und dritten Platz kommen Rheinland-Pfalz (16,7) und Bremen (15,1). In Mecklenburg-Vorpommern wurden 6,7 Tagesdosen verordnet und damit die wenigsten bundesweit. Der Bundesdurchschnitt liegt bei einer Tagesdosis von 12,1.
"Rund 5000 gesetzlich versicherte Hamburger Kinder und Jugendliche schlucken das verschreibungspflichtige Betäubungsmittel Methylphenidat täglich", heißt es. Bei den sechs Ersatzkassen waren nach vdek-Angaben 2012 rund 4,52 Millionen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene versichert, davon knapp 127.200 in Hamburg.
ADHS-Experte: Diese Ritalin-Zahlen sind "ein Alarmsignal"
Die Zahlen aus Hamburg seien ein "Alarmsignal", sagt Bernhard van Treeck, ärztlicher Leiter des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Nord, im Gespräch mit der Elternredaktion von t-online.de. Van Treeck ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und hat über Hyperaktivität bei Kindern promoviert. "Man kann nicht einfach akzeptieren, dass es diese hohen Verordnungszahlen gibt, sondern muss der Ursache auf den Grund gehen."
Unabhängige Prüfung der Ritalin-Verordnungen nötig
Doch das sei in der derzeitigen Struktur des Gesundheitssystems kaum möglich. Ob in Hamburg besonders viele ADHS-Kinder Ritalin wirklich benötigen, oder ob die Ärzte das Medikament leichtfertiger verschreiben - diese Fragen kann van Treeck nicht eindeutig beantworten, denn "dazu fehlen uns die Instrumente". Nötig sei eine unabhängige, flächendeckende Prüfung der Ritalin-Verordnungen. Dazu müssten dem unabhängigen medizinischen Prüfdienst alle Krankenversicherungsdaten zugänglich gemacht werden, um stichprobenhaft zu prüfen, ob die Medikation gerechtfertigt sei.
Dazu müsse man gar nicht die betroffenen Kinder erneut untersuchen, sondern "im Gespräch mit den Ärzten prüfen, ob die ADHS-Diagnose gesichert ist, ob die Leitlinien befolgt wurden und ob es einen Gesamttherapieplan für das Kind gibt", erläutert der Experte. Er verdeutlicht: "Angenommen, es gibt zwei gleiche Praxen. Der eine Arzt gibt bei ADHS immer das Medikament, der andere nie. Wer 'richtig' behandelt, kann derzeit keiner beurteilen."
Was Eltern bei der ADHS-Therapie beachten sollten
Dass überforderte Eltern zunehmend darauf drängen, ihr ADHS-Kind mit Ritalin zu therapieren, hält van Treeck für unwahrscheinlich. "Die Verordnungsmenge lässt sich in der Regel über die Verordner - also die Ärzte - erklären, nicht über die Eltern."
Den Eltern rät der Psychologe zu einen Gesamttherapieplan, der beispielsweise auch Psycho- oder Verhaltenstherapien einbezieht, zu Zurückhaltung bei Ritalin und zu einer Zweitmeinung. Er betont: "Ritalin ist ein gutes Medikament - bei der richtigen Indikation und in der richtigen Dosis. Aber es ist nicht harmlos. Ritalin wird ja auch als Kokain-Ersatz auf dem Drogenmarkt gehandelt. Es kann zum Beispiel zu Schlafstörungen und Wachstumsstörungen führen." Darüber hinaus sei es schwierig, das Medikament wieder abzusetzen, weil sich die Symptome dann zunächst verstärkten und es dem Kind wieder schlechter gehe.
Zahl der ADHS-Diagnose hat sich binnen fünf Jahren verdoppelt
Nach dem Arztreport 2013 der Krankenkasse Barmer GEK wurde im Jahr 2011 bei rund 750.000 Menschen ADHS diagnostiziert - ein Plus von 49 Prozent binnen fünf Jahren. Bekamen 2006 noch 32.000 der zehn- bis 14-Jährigen Ritalin verordnet, waren es fünf Jahre später bereits 42.000. Dem Report zufolge gab es 13 Kreise in Deutschland mit auffällig hohen Diagnoseraten: Sechs Kreise in Unterfranken, drei in Teilen von Rheinland-Pfalz und auch Mannheim war darunter. Dort gebe es wohl besonders viele Kinder- und Jugendpsychiater, hieß es damals zur Begründung.
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.