Ex-Sozialrichter Borchert im Gespräch "Kindergeld ist letztendlich die Rückgabe von Diebesgut"
Familien werden in Deutschland erheblich benachteiligt, sagt der ehemalige Sozialrichter Jürgen Borchert. Im Interview mit t-online.de spricht der streitbare Jurist über die Ursachen der Schieflage und über die Notwendigkeit grundlegender Strukturänderungen.
t-online.de: Herr Borchert, Sie werden das soziale Gewissen Deutschlands und Robin Hood der Familien genannt. Was läuft denn falsch in unserem Sozialstaat, wenn gerade Familien, die ja die Basis einer jeden Gesellschaft bilden, Benachteiligung erleben?
Jürgen Borchert: Die Ursachen muss man mühsam suchen, weil sie sich in einem schwer zu durchdringenden Dickicht unserer Steuer- und Sozialsysteme befinden. Fakt ist, dass in Deutschland Arbeitnehmer - und gerade diejenigen mit Kindern - im weltweiten Vergleich mit am härtesten durch Steuern und Sozialabgaben belastet sind. Diese Ungerechtigkeit wird von der OECD jedes Jahr angeprangert. Aber Konsequenzen werden nicht gezogen.
Um welche Belastungen handelt es sich denn genau?
Ein Umstand, der zu einer strukturellen Benachteiligung von Familien führt, ist, dass Arbeitnehmereinkommen grundsätzlich Markteinkommen sind. Diese sind blind sind dafür, wie viele Personen davon leben müssen. Das bedeutet, dass Familieneinkommen pro Kopf berechnet weit härter belastet werden.
Zudem gibt es eine massive strukturelle Benachteiligung von Arbeitnehmern mit Kindern, weil Renten-, Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung durch die am Lohn anknüpfenden Sozialversicherungsbeiträge finanziert werden. Diese Beiträge sind linear-proportional. Sie folgen, anders als die Lohnsteuer, also nicht der Leistungsfähigkeit. Erschwerend kommt die Beitragsbemessungsgrenze hinzu. Sie stellt ausgerechnet die leistungsfähigsten Einkommen von sozialer Verantwortung frei.
Hinzu kommt, dass wir in Deutschland einen sehr hohen Anteil an Verbrauchsteuern (Konsumsteuern) bei der Staatsfinanzierung haben. Verbrauchssteuern wie die Mehrwertsteuer wirken genauso regressiv wie die Sozialversicherung: Je kleiner die Einkommen sind, desto größer ist zwangsweise der Verbrauchsanteil. Unterm Strich basieren mehr als 70 Prozent der Staatseinnahmen auf den Sozialabgaben und den Verbrauchssteuern. Das trifft natürlich Familienhaushalte mit niedrigem Einkommen besonders heftig.
Welche Folgen hat diese Familienpolitik für unsere Gesellschaft?
Das Resultat ist die doppelte Kinderarmut: Die Geburtenzahlen haben sich innerhalb von rund fünfzig Jahren halbiert. Wir sind Weltmeister in puncto lebenslanger Kinderlosigkeit. Das sind mittlerweile 30 Prozent der Bevölkerung. Familien, die drei Kinder haben, machen nur noch zwei Prozent aus.
Weil die Sozialsysteme Familien ebenso belasten wie Personen ohne Nachwuchs, hat gleichzeitig die Verarmung von Familien rasant zugenommen, inklusive schlechter Bildungsvoraussetzungen. Immer mehr Kinder verlassen die Schule ohne Abschluss. Sie beherrschen nicht mehr das Minimum der Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen. Das betrifft jeden vierten Jugendlichen
Die Konsequenz daraus ist: Wirtschaftlich wird Deutschland in Zukunft nicht nur unter Fachkräftemangel leiden. Auch die Voraussetzungen für künftige Produktivitätszuwächse, die nur aus Fortschritten in der Bildung kommen können, werden kontinuierlich unterhöhlt. Produktivität ist aber kein Naturgesetz, sondern das Endprodukt einer Kette, die in Familienhaushalten mit bildungsfähigen Kindern beginnt.
Aber der Staat zahlt doch beispielsweise Kinder- und Elterngeld.
Gerade beim Kindergeld wird deutlich, wie verworren das System ist. Diese staatliche Zuwendung ist zum größten Teil nur die Rückzahlung der Steuern, die der Staat bei der an sich verbotenen Besteuerung des Kindesexistenzminimums eingenommen hat. Kindergeld ist letztendlich die Rückgabe von Diebesgut. Doch die meisten Leute denken, dass diese Wahnsinnssummen von jährlich 37 Milliarden Euro staatliche Geschenke sind. Damit liegt man total falsch.
Ist die Beitragsfreiheit von Kindern in den Krankenkassen etwa auch keine familienfreundliche Geste des Staates?
So ist es. Auch hier werden die Tatsachen verschleiert. Um das zu kapieren, muss man das Unterhaltsrecht kennen. Danach müssen Eltern mit ihren minderjährigen Kindern notfalls das letzte Hemd teilen. Das bedeutet: Wenn in der Familie Einkommen von den Eltern erzielt wird, haben die Kinder automatisch einen Unterhaltsanspruch.
Da sich der Krankenversicherungsbeitrag aber aus dem gesamten Bruttoeinkommen der Eltern ergibt, werden damit auch die Unterhaltsansprüche der Kinder eingerechnet. Die Kinder bezahlen sozusagen aus ihrem Unterhalt ihre Beiträge.
Die beitragslose Mitversicherung der Kinder, die mit einem Volumen von 22 Milliarden zu Buche schlägt, gibt es also faktisch nicht. Empirisch ist zudem nachgewiesen, dass Familien mit bis zu drei Kindern mehr Beiträge in die Krankenversicherung zahlen, als sie kosten.
Viele Kinderlose - seien es Ruheständler oder Berufstätige - können Ihre Kritik schwer nachvollziehen. Viele meinen, dass sie mit ihren Abgaben genügend für Familien leisten.
Wer das behauptet, macht sich nicht klar, wie riesig die Summen sind, die er im Alter von der Nachwuchsgeneration erhält. Die Gesundheitskosten eines Ruheständlers etwa belaufen sich auf mehr als Zehnfache der Kosten eines Kindes bis zu dessen 20. Lebensjahr.
Bei der Rente verhält es sich ähnlich: Der Ruhestand wird nicht mit den eigenen Einzahlungen während des Berufslebens bewerkstelligt. Das ist ein riesengroßer Irrtum. Die Renten stammen zu hundert Prozent aus den Arbeitsergebnissen der nachwachsenden Generation.
Dieses Prinzip gilt auch bei der Krankenversicherung und der Pflege: Wer nicht mehr arbeitet, lebt vom Sozialprodukt der Kindergeneration. Und wer keine Kinder großgezogen hat, muss von den Kindern anderer Leute unterhalten werden.
Was müsste die Politik unternehmen, um die Verteilung für Familien gerechter zu gestalten?
Nötig ist erst einmal ein semantisches Großreinemachen, das aufräumt mit irreführenden Vorstellungen über die Rentenversicherung, die angeblich beitragsfreie Mitversicherung der Kinder und damit, dass das Kindergeld ein Geschenk des Staates sei.
Dann brauchen wir eine familienpolitische Strukturreform des Sozialstaates, die endlich verwirklicht, was man schon 1957 wollte: Eine soziale Großfamilie schaffen, deren Verteilungsströme dem nachgebildet sind, was früher in den drei Generationen der Kleinfamilie passierte.
An den Anfang des Reformprozesses gehört die Sozialversicherung, die Familien finanziell erdrosselt. Der Gesetzgeber muss die Treppe endlich von oben putzen, anstatt immer nur an den unteren Stufen herumzuwurschteln.
Was heißt das konkret?
Bei der Sozialversicherung müssten alle Einkommen zur sozialen Verantwortung beitragen. Das heißt, dass der Grundsatz der Belastung nach Leistungsfähigkeit die oberste Richtschnur ist.
So würden stärkere Schultern nicht nur in der Einkommens- und Lohnsteuer, sondern ebenso bei der Sozialversicherung mehr Last tragen als schwache Schultern. Das muss ausnahmslos alle Einkommensquellen betreffen, nicht nur die Lohneinnahmen.
Nicht mehr allein die Arbeitnehmer samt ihrer Familien wären dann die Lastesel des Sozialstaates. Gerade bei den Besserverdienenden, Kapitaleignern, Beamten, Abgeordneten und Richtern müssten diese progressiven Abgaben erhoben werden.
Es ist doch absurd, dass ausgerechnet letztere Personengruppen, die ja die Gesetze machen und umsetzen, sich nie persönlich damit auseinandersetzen müssen. Wenn unsere Beamtenschaft von der Sozialversicherung betroffen wäre, gäbe es sie in dieser Form wahrscheinlich schon lange nicht mehr. Diese asoziale Zweiklassengesellschaft sollte endlich der Vergangenheit angehören.
Wie realistisch ist es, dass sich hier irgendwann etwas bewegt?
Leider ist unsere repräsentative parlamentarische Demokratie darauf geeicht, vor allem die Interessen Starker durchzusetzen. Das führt systematisch dazu, dass die Interessen beispielsweise von Familien und Kindern untergehen - zumal deren gesellschaftliche Macht und ihr Gewicht bei Wahlen immer geringer wird. Heute leben nur noch in zwanzig Prozent der Haushalte unterhaltsberechtigte Kinder.
Aber Sie engagieren sich trotzdem weiter?
Ich hoffe, dass es uns nach 1992 und 2001 diesmal im dritten Anlauf gelingt, die Richter des Bundesverfassungsgerichtes gegenüber der Politik bezüglich der Verteilungs- und Beitragsgerechtigkeit der Sozialsysteme zu klaren und unmissverständlichen Weisungen zu bringen.
Die vom Deutschen Familienverband und vom Familienbund der Katholiken initiierte Kampagne "Elternaufstand" ist auf dem besten Weg, eine richtige Massenbewegung zu werden, die alle Widerstände, die einer familienpolitischen Strukturreform im Weg stehen, überrollen könnte.
Das Gespräch führte Nicola Wilbrand-Donzelli