Dumm, arm, faul - ist das so? "Bildungsfern" sollte zum Unwort erklärt werden
Ständig und überall taucht sie auf: die Vokabel "bildungsfern". Keine Sozialstudie, keine Debatte über Hartz IV, Bildungspolitik oder Integration, die ohne diesen Terminus auszukommen scheint. Doch wie aussagekräftig ist der strapazierte Begriff? Gibt es wirklich die bildungsferne Schicht, beziehungsweise die typische bildungsferne Familie?
Das Schlagwort "bildungsfern" wird von den meisten nicht nur mit Bildungsdefiziten, sondern auch mit sozialer Schwäche und finanziellen Nöten verbunden. Dabei geht es meist um die Kinder sogenannter bildungsferner Familien.
Laut der Erziehungswissenschaftlerin und Vorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft Kinder und Jugendhilfe, Karin Böllert, betrifft das mittlerweile ein Drittel der Kinder und Jugendlichen in Deutschland. Sie kommen aus Familien, in denen Arbeitslosigkeit vorherrscht, die in Armut leben und in denen die Eltern allenfalls niedrige Bildungsabschlüsse haben.
Die Gruppe der Bildungsfernen gibt es nicht
Doch "ungebildet" und "arm" hängen nicht zwingend zusammen. Das zeigt sich vor allem bei der Gruppe der Alleinerziehenden. Diese Ein-Eltern-Familien leben fünfmal häufiger von Hartz IV als Kinder in Paarfamilien, so eine Studie der Bertelsmann Stiftung. Deshalb kann man aber nicht automatisch davon ausgehen, dass diese Mütter und Väter eine schlechte Schul- oder Berufsausbildung haben.
Genauso wenig wie man davon ausgehen kann, dass Familien mit Migrationshintergrund grundsätzlich bildungsfern sind oder dass Menschen, die zwar wirtschaftlich abgesichert sind, automatisch "bildungsnah" sein müssen. Insofern ist der Terminus "bildungsfern" wenig differenziert und damit irreführend.
Die politisch korrekte Wortschöpfung ist gar nicht so korrekt
Dabei sollte die Wortschöpfung "bildungsfern" ursprünglich vor allem politisch korrekt sein, um so wertende Ausdrücke wie "Unterschicht" oder "arm" insbesondere aus dem Mund von Offiziellen zu vermeiden. An Bekanntheit gewann die Vokabel vor allem in Zusammenhang mit der ersten PISA-Studie, in der nachgewiesen wurde, dass Kinder "bildungsferner Eltern" im deutschen Schulsystem deutlich schlechtere Ergebnisse erzielen als Kinder von Akademikern.
Doch so sachlich die Vokabel, die mittlerweile sowohl von Politikern als auch in den Medien inflationär verwendet wird, auf den ersten Blick erscheint, so wenig erfüllt sie diesen Anspruch. Das kritisierte bereits 2008 Jörg Dräger, der heute Vorstandsmitglied der Bertelsmann Stiftung ist und damals das Amt des Hamburger Wissenschaftssenators bekleidete. Gegenüber "Spiegel Online" sagte er, dass es ihn störe, wenn unterstellt werde, dass finanziell ärmere Menschen immer auch dumm seien.
"Bildungsfern" steht auf der Liste der sozialen Unwörter
Der ehemalige Bundesverfassungsrichter Udo di Fabio, selbst Kind italienischer Einwanderer, wandte bei der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" ein, dass man den Ausdruck "bildungsferne Schichten" überhaupt nicht akzeptieren dürfe. Dies manifestiere auch 100 Jahre nach Abschaffung der Stände deutsches "Kastendenken", in dem nur wenig Durchlässigkeit für einen "Aufstieg von unten nach oben" bestehe.
Ähnlich kritisch sieht das die Nationale Armutskonferenz (NAK). Sie spricht dem Begriff jegliche Neutralität ab und hat deshalb vergangenes Jahr "bildungsferne Schichten" nach "sozial Schwache" auf Platz fünf der Liste der sozialen Unwörter gesetzt, die allesamt als irreführend, diskriminierend oder schlichtweg als semantischer Unsinn negativ auffallen. "Sprache ist nicht neutral, Sprache bewertet. Vor diesem Hintergrund sollten wir Sprache so nutzen, dass sie keine Klischees (re)produziert", kommentiert das NAK-Sprecher Thomas Beyer. Dies gelte vor allem im Umgang mit Menschen, die von Armut betroffen oder bedroht seien.
Es gibt viele Vorurteile gegenüber "bildungsfernen Familien"
So ist es nicht verwunderlich, dass der Begriff "bildungsfern" reflexartig ein Kopfkino voller Vorurteile in Gang setzt. Diese diskriminierenden Pauschalverurteilungen kennt auch die Hauptschullehrerin und Buchautorin Heidemarie Brosche. Vorgebracht würden sie zumeist von einem gutbürgerlichen Klientel, das sich selbst gerne als "bildungsnahe" Elite sieht und am liebsten unter sich bleiben möchte. So jedenfalls die Beobachtungen der Pädagogin, die in einem viel beachteten Artikel in der "Süddeutschen Zeitung" die Frage stellte, was denn "bildungsferne" Familien eigentlich auszeichne.
Pädagogin: "Diese Menschen nötigen mir großen Respekt ab"
Wie oft habe sie als Lehrerin schon Sätze gehört wie "Die sind das Letzte! Die wissen sich nicht zu benehmen, handeln unverantwortlich und haben keine Interesse an der Schule". Immer bezögen sich solche Kommentare auf Eltern, die aus der sogenannten bildungsfernen Schicht stammten. Manchmal sei sie nah dran gewesen, in die Empörung einzustimmen, erzählt Brosche. Doch dann sei ihr wieder bewusst geworden, dass die Welt dieser Menschen, die oft von Kindheit an durch Lebensumstände, in denen Geld und Halt Mangelware sind, geschwächt seien.
Brosche kritisiert die Verachtung, die Eltern aus der "angeblich besseren Welt" an den Tag legen. "Nicht wenige der Menschen aus dieser anderen, nichtbürgerlichen und sozial schwachen Welt nötigen mir großen Respekt ab. Viele arbeiten für Hungerlöhne, nicht selten in zwei bis drei Jobs, sind zerrissen zwischen Sprachen und müssen Trennungen und persönlichem Scheitern ins Auge sehen." Brosche fährt fort: "Sie kriegen ihre eigenen Schwächen nicht in den Griff und müssen die Verlockungen genauso aushalten wie die Ansprüche ihrer Kinder. Sie erleben sich selbst als glück- und hilflos. Und halten trotz allem durch."