Deutschlands traurigste Statistik "Wer wegsieht, macht sich mitschuldig am Leid der Kinder"
In Deutschland sind im vergangenen Jahr 153 Kinder an den Folgen von Gewalt und Vernachlässigung gestorben und tausende Kinder wurden Opfer von Misshandlungen und sexuellem Missbrauch. Das ergibt eine detaillierte Auswertung der Kriminalstatistik, die das Bundeskriminalamt (BKA) in Berlin vorgestellt hat. "Gewalt gegen Kinder ist in Deutschland noch immer trauriger Alltag", kommentiert der Vorsitzende der Deutschen Kinderhilfe, Rainer Becker, diese Zahlen.
Die Zahl der getöteten Kinder ist 2013 zwar um acht Prozent, beziehungsweise 14 Fälle gegenüber 2012 gesunken. Zugleich wurden aber mehr Fälle von körperlicher Misshandlung registriert, erklärt der Präsident des Bundeskriminalamts (BKA), Jörg Ziercke. Am häufigsten betroffen waren Neugeborene und Kinder bis sechs Jahre.
87 Kinder starben, weil Eltern oder Angehörige ihre Aufsichtspflicht vernachlässigt hatten - etwa, indem sie das Kind verdursten ließen. 61 Kinder wurden vorsätzlich getötet, fünf starben laut Statistik an den Folgen einer schweren Körperverletzung.
Jede Woche werden in Deutschland drei Kinder getötet
Wenngleich die Zahl der getöteten Kinder von Jahr zu Jahr schwankt, gibt es doch seit zehn Jahren einen insgesamt rückläufigen Trend. Gleichwohl zeichneten diese Zahlen "ein trauriges Bild", sagt Ziercke. Durchschnittlich kämen jede Woche drei Kinder durch Mord, Totschlag, fahrlässige Tötung oder Körperverletzung mit Todesfolge ums Leben.
Die größte Gefahr kommt dabei oft aus der eigenen Familie: Bei der Hälfte der Todesfälle bestand nach Zierckes Worten zwischen Täter und Opfer ein Erziehungs- und Betreuungsverhältnis. "Diese Kinder wurden also in ihrem sozialen Nahraum getötet durch Personen, deren Aufgabe es gewesen wäre, für das Wohlbefinden und die Sicherheit dieser Kinder Sorge zu tragen."
Täglich werden 40 Kinder missbraucht
Bei den Kindesmisshandlungen verzeichnet die vom BKA und der Deutschen Kinderhilfe vorgelegte Statistik einen Anstieg. Nachdem die Zahl der Opfer im Jahr 2012 erstmalig gesunken war, wurden 2013 wieder 4051 Misshandlungen registriert. Das war ein Anstieg von 1,3 Prozent.
14.877 Kinder wurden im vergangenen Jahr Opfer sexueller Gewalt, das war ein leichter Rückgang um 1,8 Prozent. Damit werden im Durchschnitt 40 Kinder pro Tag missbraucht. Die von der Polizei erfassten Fälle des Besitzes und der Verbreitung kinderpornografischen Materials stiegen im Vergleich zum Vorjahr um 16,4 Prozent auf 6691 Fälle.
Die Opfer leiden ihr ganzes Leben lang
Die Experten gehen allerdings von einer hohen Dunkelziffer aus. Die meisten Kindesmisshandlungen passierten fernab der Öffentlichkeit, betont Ziercke. "Gewalt und sexueller Missbrauch an Kindern sind schwere Straftaten mit einem großen, teils lebenslang andauernden Schaden für die Opfer." Die in einigen Bereichen sinkenden Opferzahlen seien kein Anlass zur Entwarnung, denn jeder einzelne Fall sei "eine Tragödie".
Kritik am "löchrigen Kinder- und Jugendhilfesystem"
Die Ursache sei in vielen Fällen ein "löchriges Kinder- und Jugendhilfesystem", kritisiert Rainer Becker, Chef der Deutschen Kinderhilfe. Er fordert frühe Hilfen für überforderte Familien und einen Ausbau der Beratungsangebote, vor allem auf dem Lande. Dazu gehöre auch eine bundesweite Kinderschutz-Hotline, wie es sie bereits in Mecklenburg-Vorpommern gebe.
Angehörige und Nachbarn müssen einschreiten
Zugleich fordert Becker einen strukturellen Umbau der Kinder- und Jugendhilfe. Nötig seien einheitliche Fachstandards, eine gerechte Bezahlung und eine Entlastung der Mitarbeiter. Allerdings nütze alles Engagement nichts, wenn Nachbarn oder Angehörige vor Missbrauch und Gewalt "die Augen verschließen". Nach wie vor würden Gewalttaten gegen Kinder zu selten angezeigt. "Wer wegsieht, macht sich mitschuldig an dem Leid der Kinder", sagt Ziercke.
Michael Tsokos, Rechtsmediziner von der Berliner Charité, forderte darüber hinaus eine bessere Schulung von Ärzten, Lehrern und Betreuern: "Das ist keine Kernphysik, eine Misshandlung zu erkennen."