Drei Tote Kinder pro Woche Rechtsmediziner prangern Kindesmisshandlung an
Ohrfeigen, Tritte ins Gesicht und Schläge mit dem Gürtel: Mit dramatischen Fotos und Fallschilderungen prangern zwei Berliner Rechtsmediziner, Michael Tsokos und Saskia Guddat, das Ausmaß von Kindesmisshandlung in Deutschland an. In ihrem Buch "Deutschland misshandelt seine Kinder" werfen sie dem deutschen Hilfesystem von Jugendämtern bis zur Justiz "regelmäßiges Versagen" vor. Kritiker halten das Buch allerdings für zu populistisch, pauschal und praxisfern.
Der Titel provoziert. Die Autoren kritisieren ein System, das Milliarden verschlinge und doch wenig effektiv sei. Es werde weggeschaut, beschönigt und totgeschwiegen. "Es geht um tote Kinder, da ist es uns egal, ob wir Politikern auf die Füße treten", betont Saskia Etzold, die unter dem Autorennamen Guddat schreibt, im Interview mit t-online.de.
Die Fakten: Pro Woche gibt es in Deutschland drei tote Kinder als Folge von Quälerei und Gewalt. 70 Kinder erleiden pro Woche schwere Verletzungen durch Misshandlungen. Die Täter sind meist die Eltern. Zahlen, die der Deutsche Kinderschutzbund bestätigt.
Tsokos: "Eltern sind Serientäter"
Rechtsmediziner werden hinzugezogen, wenn Ärzte einen begründeten Verdacht auf Kindesmisshandlung haben. In Zusammenarbeit mit der Polizei klären sie den medizinischen Befund ab. Ist der zweifelhaft und deutet auf Misshandlung hin, wird ein Ermittlungsverfahren gegen die Erziehungsberechtigten eingeleitet.
Autor Michael Tsokos untersucht seit 20 Jahren Misshandlungsspuren bei Kindern. "Früher dachte ich, das sind Einzelfälle", sagt er. "Dann wurde es Routine." Tsokos sieht unvorstellbare Grausamkeit, und er schildert diese Fälle im Buch: Mütter, die Kleinkinder auf heiße Herdplatten oder in Badewannen mit kochend heißem Wasser setzen. Väter, die ihre Kinder ins Koma prügeln.
Was Tsokos vermisst, sind Reformen im Kinderschutz. "Da ist seit 20 Jahren nichts passiert", behauptet er. "Das System ist krank". Tsokos Wut richtet sich gegen Jugendämter, Familienhelfer, Kinderärzte, Richter, Erzieher und Lehrer. Sein Vorwurf: Viele schauen nicht richtig hin oder handeln nicht. Tsokos spricht von einer Mission, das zu ändern. "Eltern sind Serientäter", sagt er.
Kritik an Arbeit der Jugendämter
Guddat und Tsokos kritisieren, dass Jugendämter und Familienhelfer ihrer "Wächterfunktion" nicht gerecht würden. Sie argumentieren mit Zahlen: 7,5 Milliarden bringe der Staat pro Jahr für Jugendhilfe auf. Mehr als 200.000 Kinder würden pro Jahr Opfer von Gewalt durch Erwachsene. 160 Kinder pro Jahr kämen dadurch zu Tode, mindestens noch einmal so viele gewaltsame Kindertötungen blieben unentdeckt.
Gefährdete Kinder schnell aus den Familien holen
Deshalb befürworten die Autoren eine gesetzliche Leichenschaupflicht bei toten Kindern. Sie fordern außerdem, die Familienhilfe nicht an private Unternehmen auszulagern und Kindergärten mehr in die Erziehung einzubinden. Risikofamilien müssten mehr und besser kontrolliert und gefährdete Kinder schneller im Heim oder bei Pflegefamilien untergebracht werden. Kinderschützer sollten so geschult werden, dass sie Verletzungen durch Misshandlungen erkennen. Und Familienrichter sollten mit Hilfe der Gutachten aus der Rechtsmedizin mehr Eltern das Sorgerecht entziehen.
Kinderschutzbund lehnt Vorschläge der Autoren ab
"Es ist begrüßenswert, dass dieses Buch aufrüttelt", sagt Heinz Hilgers, Präsident des Kinderschutzbundes. Die Vorschläge der Autoren hält er jedoch weitgehend für "unbrauchbar". Er fordert Verbesserungen auf anderer Ebene: Bundesweite Schlüssel, die eine Ausstattung der Jugendämter vorgeben und sie nicht allein der Entscheidung von Kommunen und Kreisen überlassen. Und mehr Familienhilfe zu Hause, die bei den Stärken überforderter Eltern ansetzt. Die Herausforderung sei, Risikofamilien früh zu erreichen.
Deutsche Gesellschaft für Rechtsmedizin: "Kein Versagen der Institutionen"
Auch die Deutsche Gesellschaft für Rechtsmedizin ist nicht auf der Linie ihrer beiden Kollegen. "Sicher kann fast jeder Rechtsmediziner aus seiner beruflichen Praxis Beispiele nennen, die die eine oder andere dieser Thesen stützen", sagt ihr Vorsitzender Thomas Bajanowski. Aber eine Verallgemeinerung werde dem Problem nicht gerecht. Ein Versagen der Institutionen sieht Bajanowski nicht. Er ist dafür, weiter über Kinderschutz zu diskutieren und nach Verbesserungen zu suchen. "Aber das dann auf der Basis belastbarer Daten und einer differenzierten Analyse", ergänzt er. Die fehle ihm im Buch.
Auch Straf- und Familienrichter fühlen sich zu Unrecht angegriffen. Ihnen im Umgang mit Verfahren Naivität und Blauäugigkeit vorzuwerfen, sei eher populistisch und habe mit der wirklichen Praxis nichts zu tun, widerspricht Andrea Titz, Vize-Vorsitzende des Deutschen Richterbundes. Richter seien sich durchaus bewusst, dass es Mütter und Väter gibt, die ihren Kindern auch vorsätzlich schwere Verletzungen zufügten. Dennoch sei jeder Fall ein Einzelfall. Eltern das Sorgerecht zu entziehen, dürfe immer nur ein letztes Mittel sein.
Den Vorwurf praxisfern zu sein, lässt Michael Tsokos nicht gelten, er kontert: "Wir untersuchen die misshandelten Kinder. Wenn jemand nah an der Praxis ist, dann sind das wir".
"Fühlen uns wie Scientology-Aussteiger"
"Wir haben die Verantwortlichen von Anfang an nicht mit Samthandschuhen angefasst, denn die fassen die Kinder ja auch nicht mit Samthandschuhen an." Tsokos wertet die Kritik als Schutzbehauptung der Verantwortlichen. "Wir fühlen uns ein bisschen wie Scientology-Aussteiger, die von denen angegriffen werden, die mit dem eigenen System verwoben sind", so umschreibt er die Reaktionen auf Nachfrage von t-online.de. "Einfach Verantwortung übernehmen, statt sich selbst zu schützen", das wünscht sich Tsokos von den Verantwortlichen im System Jugendhilfe.
"Der Umgang mit ihren Kidnern ist der Gradmesser einer Gesellschaft", so der Mediziner. Momentan hätten wir eine Kultur des Vertuschens, nicht, wie von vielen gefordert, eine Kultur des Hinschauens.
Enorme Resonanz von Betroffenen
"Seit das Thema in den Medien ist, erreichen mich Hunderte von Mails und Anrufen. Von Menschen, die erzählen, wie sie selbst als Kind geschlagen wurden und von Pflegeeltern, die jedes Mal fast zusammenbrechen, wenn sie ein Kind wieder abgeben müssen."
Buchtipp: "Deutschland misshandelt seine Kinder". Michael Tsokos und Saskia Guddat (mit Andreas Gößling): Droemer Verlag, München. 256 Seiten, 19,99 Euro
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Lesen Sie auch den Kommentar unserer Redakteurin zur Debatte um das Buch "Deutschland misshandelt seine Kinder".