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Reflexion über die Rolle von Erzählungen im Journalismus


Journalismus
Vom Unbehagen, eine Geschichte zu erzählen

MeinungVon Jonas Schaible

Aktualisiert am 20.12.2018Lesedauer: 8 Min.
Meinung
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Ein Grafitto in London: Der Schriftsteller Terry Pratchett sagte, was den Mensch ausmache, sei, dass er Geschichten erzählt.Vergrößern des Bildes
Ein Grafitto in London: Der Schriftsteller Terry Pratchett sagte, was den Mensch ausmache, sei, dass er Geschichten erzählt. (Quelle: imago/Zuma Press)

Der "Spiegel"-Reporter Claas Relotius hat Teile seiner preisgekrönten Reportagen erfunden. Eine Gelegenheit, über die Rolle von Geschichten im Journalismus nachzudenken.

Einmal hat mich während einer Recherche jemand gefragt, warum ich nach diesem bestimmten Detail gefragt habe. Er sei deswegen nämlich nicht mehr sicher, was meine Absicht ist. Ich antwortete, ich wolle begreifen, wie er arbeite, aber natürlich wolle ich auch eine Geschichte erzählen, die für Leser interessant ist. Dafür sei dieses Detail wichtig. Um die Geschichte besser zu machen. Ich hatte nicht das Gefühl, dass ihm das einleuchtete.

Wenn Nicht-Journalisten und Nicht-Medienprofis mit mir über meine Arbeit sprechen, wenn sie nach einem Gespräch fragen, was daraus entstehen solle, dann sagen sie manchmal “Interview”, meistens “Artikel”, “Beitrag” oder “Bericht”. “Wann erscheint der Bericht?”, fragen sie.

Wenn Journalisten über die Arbeit sprechen, dann sagen sie manchmal, sie machten da ein “Stück”. Aber meistens sagen sie: “Ich mache da eine Geschichte.” Auch im Hauptstadtjournalismus, nicht nur in der Reporterpreiswelt. Ich sage das auch. Ich habe das so gelernt an der Journalistenschule und in Redaktionen. Je renommierter das Blatt, desto mehr dominieren “Geschichten“. Keine Geschichte, kein Platz in der Zeitung.

Jonas Schaible ist Parlamentsreporter von t-online.de. Er wurde an der Henri-Nannen-Schule in Hamburg ausgebildet, der Journalistenschule von Gruner & Jahr, "Zeit" und "Spiegel", wo auf die Reportage und das Geschichtenerzählen besonderen Wert gelegt wird.

Man könnte diese Unterschiede für belanglos halten, Sprechgewohnheiten, nicht der Rede wert. Aber das wäre ein Irrtum, weil eine Geschichte anders funktioniert als ein Artikelbeitragbericht. Weil beide verschiedene Teile der Wirklichkeit fassen und die Welt anders vermitteln. Weil wir die Welt damit systematisch verzerrt vermitteln und weil wir die Erwartung vieler Leser_innen systematisch enttäuschen.

Mir lag nie etwas daran, Geschichten zu erzählen. Ich habe mich nie ganz wohl gefühlt mit der Selbstverständlichkeit, mit der wir gute Geschichten suchen. Und ich glaube, viele Menschen verstehen nicht, dass wir es tun und warum wir es tun.

Dieser Text ist in weiten Teilen vor vielen Monaten entstanden, er hat mit Claas Relotius eigentlich nichts zu tun. Relotius war, wie wir aus dem Spiegel erfahren haben, offenbar ein historisch dreister Betrüger, der ganze Texte erfand. Der Fall Relotius dürfte die gravierendste Fälschung im deutschen Journalismus seit den Hitler-Tagebüchern sein. Diesen Text umzuschreiben, so dass er sich um diesen Sonderfall dreht, wäre falsch. Es wäre freilich das, was eine gute Geschichte verlangt. Glätte. Größe. Klarheit.

Aber vielleicht ist dieser Moment trotzdem eine gute Gelegenheit, sich grundsätzlich Gedanken zu machen über Geschichten. Und darüber, wie wir Journalisten zu ihnen stehen.

Was eine Geschichte ausmacht

Wir haben, glaube ich, eine ganz andere Vorstellung vom Journalismus, als sie unsere Leser_innen pflegen.

Ein Artikelbeitragbericht, wie ihn sich meiner Erfahrung nach viele Menschen vorstellen, beschreibt möglichst zutreffend ein Phänomen oder Ereignis. Dabei ist er zurückgenommen, lässt alle zu Wort kommen, auch mit Namen, egal wie viele es sind. Er mischt sich nicht allzu sehr ein, ist so vollständig wie möglich. Fakten, he said, she said, he said, he said.

Eine Geschichte, wie wir sie verstehen, hat dagegen eine klare Aussage. „Du musst dich entscheiden, welche Geschichte du erzählen willst“, sagen wir, wenn es mehrere Erzählstränge gibt. Außerdem tauchen so wenige Namen wie möglich auf, im besten Fall nur einer, des Protagonisten. Sie ist persönlich, nicht strukturell, auf Einzelne fokussiert. Sie enthält im besten Fall einen Konflikt. Eine Geschichte folgt im Kern klassischen Erzählmustern: Tragödie, Aufstieg und Fall, die Heldenreise, die Vorbereitung auf den großen Kampf, der verlorene Sohn, der Verrat. Es gibt kein klassisches Erzählmuster für Ambivalenz, eine Geschichte hält Ambivalenz nur aus, solange sie den Verlauf der Handlung nicht stört.

Längst nicht jeder Stoff lässt sich sowohl als Artikelbeitragbericht als auch als Geschichte aufschreiben. In vielen Fällen bietet die Welt nicht den Rohstoff, nicht die Dramaturgie, die eine Geschichte braucht – unsere Art, zu erzählen, und die Welt passen dann nicht zusammen. (t-online.de legt Wert darauf, Formen und Formate klar auszuweisen, Meinung von Berichten klar zu trennen und viel zu erklären, nicht nur zu erzählen. Mehr dazu in unserem Redaktions-Blog hier).

Was sich als Geschichte erzählen lässt und was nicht

In Ostafrika verhungerten vor einiger Zeit Tausende Menschen, weil komplizierte Mechanismen der Weltwirtschaft im Zusammenspiel mit Wetterphänomenen und politischen Konflikten zu einer Unterversorgung führten. Es war eine der größten Hungerkatastrophen seit langem. Ist das relevant? Ja. Reicht das für einen Artikelbeitragbericht? Natürlich. Ist es eine Geschichte? Nein.

Eine Geschichte könnte sein, frei erfunden: In Ostafrika verhungern Tausende Menschen, weil die NATO-Staaten mehr Geld für Rüstung und weniger für Entwicklungshilfe ausgeben. Fehlen aber immer noch Protagonisten (vielleicht hat nicht die Nato gehandelt, sondern der Verteidigungsminister aus Litauen?).

Besser wäre, ebenfalls frei erfunden: In Ostafrika verhungern Tausende Menschen, weil der Direktor einer UN-Organisation in Nairobi vor einem Jahr zur Hochzeit eines Freundes fuhr und deshalb die Frist für die Verlängerung eines Nothilfeprogramms gerissen hat und weil die UN-Bürokratie in New York sich durch seine 24 Bittbriefe nicht erweichen ließ. Das wäre sogar, was unter jüngeren Kolleg_innen üblicherweise eine "geile Geschichte" genannt wird.

Eine solche geile Geschichte ist so etwas wie der Heilige Gral, jeder sucht sie, sie bringt Preise ein und Ruhm und Jobs.

Die Geschichte steht nur für sich selbst

Um eine solche Geschichte zu finden, braucht man entweder viel Glück oder viel Zeit, meistens aber beides. Dazu kommt: Fleiß. In der Regel muss man sehr viele mögliche Protagonisten kontaktieren, der eine ist langweilig, die zweite kauzig, der dritte erzählt nicht anschaulich, der vierte hat nicht genug Zeit, aber die fünfte passt.

Sagen, was sich erzählen lässt. Wenn man einfach nur erzählt, was ist, wird daraus selten eine preiswürdige Geschichte.

Denn eine Geschichte ist tendenziell umso beeindruckender, je einzigartiger sie ist – also je weniger sie für etwas außer sich selbst steht. Sie braucht das Schicksal und den Einzelfall. Sie sagt allenfalls auf Umwegen etwas, das sich auch direkt sagen ließe. Das einzig Allgemeine an Geschichten ist ihre Bauart.

Man könnte sagen: Wer nur Geschichten sucht, findet das Allgemeine nicht und kann es nicht finden. Wer aus dem Allgemeinen eine Geschichte macht, schneidet weg, was nicht ins Erzählmuster passt. Gesellschaft aber ist überindividuell, ist strukturell, ist emergent, ist abstrakt. Auch darüber müssen wir sprechen können.

Welche Folgen Geschichten haben

Geschichten haben mehr Wucht als Artikelbeitragberichte und mehr Kraft, sie erlauben mehr Kunst, sie unterhalten besser, berühren mehr und bleiben besser im Gedächtnis – zumindest glauben wir das. Überprüft hat es womöglich nie jemand. In diesem Sinne sind Geschichten nur eine Art, Informationen unter die Leute zu bringen.

Man kann aber auch argumentieren, dass Geschichten die kleinsten Einheiten der Weltwahrnehmung sind. Der britische Fantasy-Autor Terry Pratchett hat es auf die Formel gebracht, der Mensch sei im Kern der pan narrans, der Geschichten erzählende Affe. Wir müssen erzählen, um uns die Wirklichkeit zu erschließen, es geht gar nicht anders. Eine Geschichte zu erzählen, bedeutet, zwischen Ereignisse und Handlungen Pfeile zu malen. Aus einzelnen Beobachtungen wird so eine Erzählung mit Anfang, Höhepunkt, Ende. Aus Zeitreihen werden Ursache und Wirkung. So bekommen die Dinge ihren Sinn.

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So verstanden, sind Geschichten nicht einfach unterhaltsam, sondern mächtig. Diese Macht wird im Journalismus zwar instrumentell begriffen, als Macht, Leser zu binden. Nicht immer aber auch als Macht, Wirklichkeit zu gestalten.

Geschichten zwingen ihren Erzähler, die Welt zu ordnen. Sie sind deshalb so zugänglich, aber auch so anfällig für die Überdeutung. Da soll eine Sparbüchse auf dem Fensterbrett den gesamten Charakter eines Menschen verraten. Da wird einer, dem es gut geht, zum strahlenden Sieger und einer, dem es nicht so gut geht, zum geschlagenen Verlierer.

Wenn sie gut und redlich geschrieben sind, lügen Geschichten nicht, dann verzerren sie nicht, sind schlüssig und klar argumentiert. Aber wenn wir Geschichten schreiben, machen wir Konturen dicker, Kontraste schärfer, die Wirklichkeit packender.

Wir erzählen eine andere Geschichte über uns selbst

Ich glaube, wir unterschätzen oft, dass viele Menschen nicht so selbstverständlich verstehen, dass wir in Geschichten denken. Wir erklären es ihnen ehrlicherweise auch selten.

In der großen mythischen Geschichte, die Journalisten über Journalismus erzählen, da vermitteln wir schließlich nicht: Journalismus ist dazu da, gute Geschichten zu erzählen. Wir erzählen vielmehr: Journalismus ist dazu da, uns über die Wirklichkeit zu informieren, die Mächtigen zu kontrollieren und Missstände aufzudecken. Deshalb hat er Sonderrechte, First Amendment, Artikel 5. In unseren geilen Geschichten über uns selbst, da sind Enthüller die Helden, nicht Erzähler.

Dem Erzählen begegnen normale Menschen kaum. In den meisten Lokalzeitungen wird anders gearbeitet. Dort wird viel klassisch berichtet. Bürgermeister verkündet, Verein feiert, Kapelle bläst, Brückenbau kostet, das Wetter war gut. Wer vor allem diesen Journalismus kennt, den muss der Geschichten-Journalismus der überregionalen Medien verwirren.

Eine Geschichte kann das Selbstbild nicht treffen

Man merkt das, wenn man mit Menschen zu tun hat, die keine Medienprofis sind - und die nicht verstehen, warum wir nach abseitigen Details fragen, weil Geschichten Details brauchen, wann genau waren Sie dort, was genau haben Sie gegessen, Erdbeereis oder Zitroneneis? Himbeereis? Sind Sie sicher? Warum wir nach randständigen Episoden fragen statt nach den großen Linien. Es kostet nicht umsonst viel Mühe, Menschen dazu zu bringen, nicht abstrakt, distanziert und grundsätzlich erklärend zu sprechen, sondern anschaulich, detailreich, eben: in Geschichten. Weil sie Zusammenhänge erläutern wollen, nicht Episoden schildern. Weil sie Geschichten nicht für so selbstverständlich halten wie wir.

Und es muss sie erst recht befremden, unsere Texte zu lesen, selbst wenn sie aufwändig recherchiert und fehlerfrei und um Fairness bemüht geschrieben wurden.

Erzählt man eine Geschichte, nimmt man den Menschen damit die Hoheit über ihr Leben aus der Hand und viel stärker kann man in so ein Leben mit Block und Stift nicht eingreifen. Schon Zitate klingen meist anders, als wir uns selbst wahrnehmen, und ein Zitat betrifft nicht den Kern der Person. Aber zu erzählen, wie jemand ist, was ihre Rolle ist zum Beispiel in einem Dorf, welche Teile ihrer Vergangenheit welche heutigen Eigenschaften erklären, all das nimmt Menschen ihre Lebensgeschichte aus der Hand.

Die Geschichte, die ich erzählen will, und die Geschichte, die ein anderer Mensch über sich erzählt, können nie ganz übereinstimmen. Als Erzähler kann ich die Eigenerzählung eines Menschen nicht wiedergeben, weil ich mich damit zu seinem Pressesprecher machte. Ich kann aber auch keine totale Distanz wahren, weil so Geschichten nicht funktionieren. Also muss ich ihm seine Geschichte aus der Hand nehmen. Ich muss mir ein fremdes Leben anmaßen.

Dagegen spricht nichts, auch wenn mir dabei manchmal unwohl ist. Es zur zentralen Aufgabe des Journalismus zu machen, dagegen spricht viel.

Claas Relotius‘ Geschichten waren das, was wir geile Geschichten nennen: Jedes Detail sprach, die Figuren waren perfekt, sie waren überbordend spezifisch und passten so ideal ins Muster. Das fiel auf, deswegen gewann er Preise. Für Texte, die unschärfer sind, weniger gemalt, ambivalenter, gibt es weniger Preise. Was viel weitreichender ist: Es gibt nicht einmal Formen für sie oder Namen.

Wie gehen wir um mit einer perfekten Welt

Relotius ist kein Opfer der Verhältnisse, die Geschichten wie seine befördern, obwohl sie das tun. Er hätte sich anders entscheiden können, er hatte die Möglichkeiten. Trotzdem hat der Journalismus zu wenig Antworten auf die Frage, die sein Fall nur erneut aufwirft: Wie erzählt man ambivalente Geschichten? Wie wählt man nicht die besten Geschichten aus, weil sie am meisten fesseln, sondern wie erzählt man die wichtigsten Geschichten so fesselnd wie möglich? Gibt es etwas zwischen der glatten Perfektion geiler Geschichten und der oft zähen Nüchternheit von Artikelbeitragberichten? Wie gehen wir mit der unperfekten Wirklichkeit um?

Ich denke seit längerem darüber nach und habe keine gute Antwort. Journalisten erzählen Geschichten, den Satz habe ich so oder ähnlich oft gehört, gerade während der Ausbildung. Für mich klang er in dieser Absolutheit immer falsch.

Nach meinem Verständnis ist es so: Journalisten stellen die Mittel bereit, damit sich Menschen in Gesellschaften organisieren können. Journalismus ist die Bedingung der Möglichkeit von Wissen über die anderen, für Urteile, letztlich für Politik. Dazu müssen Journalisten Geschichten erzählen. Auch Empathie ist eine Voraussetzung von Politik. Journalisten müssen aber auch wissen, was Geschichtenerzählen bedeutet. Wann sie es besser lassen. Und was sie stattdessen tun können.

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