Reportage aus Barcelona Plötzlich knallt es vor dem Wahllokal
Aktivisten beschützen Wahllokale, die spanische Polizei setzt Gummigeschosse ein. In Barcelona eskaliert am Tag des Referendums der Streit um die Unabhängigkeit Kataloniens. Viele Katalanen haben die Geduld mit der Zentralregierung verloren.
Aus Barcelona berichtet Laura Waßermann
Sergi Saranga sieht erschöpft aus, als er vor der Grundschule im Osten Barcelonas die vorbeigehenden Passanten beobachtet. Saranga hat die Nacht über nicht geschlafen. Er hat Augenringe und das gleiche T-Shirt wie gestern an. "Auch das gehört zur Demokratie", sagt der 22-Jährige und lacht.
100 Menschen schützen die Schule
Geschlafen hat Saranga nicht, weil er zusammen mit 100 anderen Menschen die Schule besetzt hat. Aus Sorge, die spanische Polizei Guardia Civil könnte die in ein Wahllokal umfunktionierten Räume sonst schließen. Dazu ist es bisher nicht gekommen. In einer Schlange stehen die Menschen auf dem Schulhof, um ihr Votum für oder gegen die Unabhängigkeit von Katalonien abzugeben.
Bis auf eine Gruppe Jugendlicher, die ihre Mittelfinger in Richtung des über Barcelona kreisenden Helikopters der Guardia Civil richten, geht man hier weitgehend friedlich miteinander um. Zwei Polizisten der Mossos d'Esquadra stehen etwas entfernt vom Eingang. Sie sondieren, schreiten aber nicht ein. "Zum Glück sind es nur Mossos", sagt Saranga. Der Regionalpolizei von Katalonien wurde vorab eine wichtige Rolle im Referendum zugeschrieben. Solange sie die Wahlen stattfinden lässt, hat die Guardia Civil nur eine kleine Chance, ein Ergebnis zu verhindern.
Plötzlich knallt es
Dass die zum Teil aus anderen Regionen Spaniens nach Barcelona geholten Einheiten diese Chance wahrnehmen wollen, zeigt die erste Eskalation des Tages. Gegen Vormittag räumt die Guardia Civil eine Schule im Zentrum von Barcelona. Kurz darauf entwickelt sich eine Art Verfolgungsjagd: Dutzende Menschen folgen den Polizisten auf ihrem Weg zum Einsatzwagen. Drei große Fahrzeuge stehen auf einer großen Kreuzung, auf die Polizisten sowie Katalanen zulaufen.
Plötzlich knallt es laut – ein-, zwei-, dreimal. Es ist nicht klar woher der Lärm kommt. Der Verkehr steht still, kein Bus oder Auto darf die Kreuzung überqueren. Nachdem die Polizisten die Einsatzwagen erreichen und die Szenerie verlassen haben, wird deutlich, was den Lärm verursacht hat: Gummigeschosse in der Größe von Tennisbällen, die die Guardia Civil auf die Demonstranten abgefeuert hatte. Manche halten die Geschosse in der Hand, zeigen Sie Journalisten, manche werfen sie auf die Straße.
"Es ist nicht fair"
Es herrscht Fassungslosigkeit seitens der Barcelonesen, so wie bei Marina Díez. Die 37-Jährige wollte in der von der Guardia Civil geschlossene Schule wählen, fühlt sich ungerecht behandelt. "Es ist nicht fair, dass ich mein Recht nicht wahrnehmen kann", sagt sie, als sich die Menschenmenge auf den Weg zur nächsten Schule macht. Ein bärtiger Mann fährt in kurzer Hose auf seinem Fahrrad durch die Straße, laut rufend, wo die Guardia Civil als nächstes sein wird.
Die Auseinandersetzung zwischen Demonstranten und Polizei bleibt nicht die einzige. In ganz Katalonien werden bei Versuchen der Guardia Civil und der Nationalpolizei, Wahllokale zu schließen, Menschen verletzt. Am Abend teilt das Gesundheitsministerium der Region mit, mehr als 800 Menschen hätten behandelt werden müssen. Die Abstimmung im Ganzen scheint nicht gefährdet: 73 Prozent der insgesamt 3215 Wahllokale seien funktionstüchtig, der Sprecher der katalanischen Regionalregierung, Jordi Turull.
Anderswo herrscht normaler Sonntagsbetrieb
Derweil ist in anderen Teilen der Stadt normaler Sonntagsbetrieb. Touristen trinken Café con Leche, essen Patatas Bravas oder Churros mit Schokolade. Ein seltsames Bild, wie deutsche Abiturienten (erkennbar durch ihre "Ich mache Abi"-Pullover) an einer Schlange von katalanischen Wählern vorbeilaufen und besprechen wo sie am Abend essen gehen wollen.
Darüber denkt auch Sergi Saranga nach. Er hatte nach der schlaflosen Nacht am Morgen mit Bauchschmerzen zu kämpfen. Trotzdem steht er noch immer vor der Schule, die nicht unweit von seinem Zuhause entfernt ist und spricht mit seinem Vater. Der konnte wählen ohne sich anzustellen. Alte Leute und Kinder zuerst, heißt es auch bei der Katalanischen Unabhängigkeit.
"Katalonien wird mit 'Ja' abstimmen, da bin ich mir sicher", sagt Saranga. "Das ist der einzige Weg für einen Fortschritt." Wegen der Finanzen, der Korruption, der Unterdrückung, zählt er auf.
Trotzdem kann Saranga auch die Zweifler verstehen. "Die Menschen in Spanien haben Angst, weil Katalonien viel Geld beisteuert." Die Europäische Union spiele da eine wichtige Rolle. Schließlich rede man in Katalonien seit sieben Jahren über eine Abspaltung von Spanien. "Niemand aus der EU hat sich konkret zu einer möglichen Unabhängigkeit geäußert. Das ist eine Politik des Abwartens, das finde ich schade." Abwarten will Katalonien definitiv nicht mehr.