t-online - Nachrichten für Deutschland
t-online - Nachrichten für Deutschland
Such IconE-Mail IconMenü Icon



HomePolitikDeutschlandGesellschaft

AfD und rechte Kräfte erstarken: Wie lässt sich die Gefahr eindämmen?


Historiker Thomas Weber
"Das hat es noch nie gegeben"

InterviewVon Marc von Lüpke

Aktualisiert am 14.06.2024Lesedauer: 11 Min.
Interview
Unsere Interview-Regel

Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.

Zum journalistischen Leitbild von t-online.
Adolf Hitler: Der Diktator nutzte skrupellos das Mittel der Propaganda.Vergrößern des Bildes
Adolf Hitler: Der Diktator nutzte skrupellos das Mittel der Propaganda. (Quelle: Keystone/dpa)

Ultrarechte und populistische Kräfte erstarken weltweit, Desinformation und Manipulation nehmen zu. Wie lässt sich die Gefahr eindämmen? Historiker Thomas Weber analysiert, wie wir aus der Geschichte lernen können.

Adolf Hitler beseitigte die Demokratie und errichtete eine mörderische Diktatur in Deutschland. Wichtiges Hilfsmittel war dabei die Propaganda. Wie gingen Hitler und sein Chefpropagandist Joseph Goebbels dabei vor? Was lässt sich aus der Geschichte des Nationalsozialismus lernen, um in Zeiten des Aufstiegs rechter und autoritärer Kräfte die Demokratie zu bewahren?

"Führer und Verführer" heißt ein neuer Kinofilm, der ab dem 11. Juli diesen Fragen nachgeht. Thomas Weber, Historiker und Berater des Films, erklärt im Gespräch, welche Ähnlichkeiten er zwischen Propaganda damals und heute ausmacht, welche Gefahren darin bestehen, Hitler lediglich als Karikatur zu sehen und wie sich die populistische und autoritäre Gefahr eindämmen ließe.

t-online: Professor Weber, der Diktator und Massenmörder Adolf Hitler wird in Deutschland oft entweder als Dämon oder als Witzfigur dargestellt. Warum?

Thomas Weber: Anders als im Rest der Welt traut sich in Deutschland kaum jemand an Hitler richtig heran, man hat ihn zusammen mit seinem Chefpropagandisten Joseph Goebbels in den sprichwörtlichen "Giftschrank" gestellt. Der Grund dafür ist eine unterschwellige Angst, die aus überaus hehren Motiven entsteht: Die deutsche Gesellschaft insgesamt soll sich ihrer Vergangenheit stellen. Die Sorge ist, dass eine starke Betonung der Rolle Hitlers für die deutsche Gesellschaft exkulpierend wirken könne.

Greift diese Sichtweise aber nicht zu kurz? Nur die Analyse von Motiven und Handlungsweisen der "normalen" Deutschen und der Führungsfiguren des "Dritten Reichs" gleichermaßen kann die Funktionsweise des Nationalsozialismus erklären.

So ist es. Wie die internationale Forschung überdeutlich zeigt, ist die Lebensader von Diktaturen und autoritären Regimen die Interaktion zwischen Führungspersönlichkeiten und der Bevölkerung. Daher hat man anderswo auch wenig Sorge, dass es irgendwie entlastend wirken könnte, sich mit Hitler zu beschäftigen. Vielmehr sieht man in der Auseinandersetzung mit Hitler, Goebbels und Co. eine Gelegenheit, den neuen Weltkrieg der Desinformation und Demagogie der Gegenwart besser zu verstehen.

Mit "Führer und Verführer" kommt am 11. Juli ein Film in die deutschen Kinos, der Adolf Hitler, Joseph Goebbels und ihre "Verführungskünste" darstellt und untersucht. Sie waren für die Produktion als Berater tätig. Was unterscheidet "Führer und Verführer" von den zahlreichen anderen Filmen und Büchern über den Nationalsozialismus?

"Führer und Verführer" behandelt die gerade beschriebene Interaktion. Und anders als Dokumentationen reproduziert er nicht einfach ungewollt das von der NS-Propaganda geschaffene Bildmaterial, sondern reproduziert, was Hitler und Goebbels verbergen wollten und zeigt eine Entwicklung über mehrere Jahre. Das hat es noch nie gegeben. Und der Film hilft zu entschlüsseln, was Hitler, Goebbels und andere Akteure angetrieben hat, wie sie andere angetrieben haben und wie sich andere von ihnen angetrieben fühlten. Auch über den Film hinaus müssen wir besser verstehen, wie Hitler, Goebbels und die "gewöhnlichen" Nationalsozialisten die Welt wahrgenommen haben und wie dies ihr extremistisches Verhalten bestimmt hat.

"Führer und Verführer" startet am 11. Juli 2024 im Verleih von Wild Bunch Germany bundesweit in den Kinos. Regisseur ist Joachim A. Lang, historischer Berater Thomas Weber.

Also, weshalb sie ihre Welt mit Gewalt verändern wollten?

Richtig. Nur so können wir verstehen, wie die Interaktion von Hitler und Goebbels mit der extremistischen Grundhaltung der breiten Masse der damaligen Menschen Genozid und Weltkrieg zur Folge hatte. Bei allem bleibt die eigene Verantwortung aller extremistischer Deutscher für ihr eigenes individuelles Handeln sowohl damals als auch heute.

"Führer und Verführer" handelt vor allem von Propaganda und Manipulation, zwei Phänomenen, die auch in unserer Gegenwart geradezu virulent und brandgefährlich sind. Können und sollten wir aus der Vergangenheit lernen?

Natürlich. Es gibt ja keine andere Quelle als die Vergangenheit, aus der man schöpfen kann, um die Gegenwart zu verstehen. Im Augenblick der Reflexion über menschliches Verhalten wird alles zur Vergangenheit. Dabei sollten irreführende Diskussionen aber vermieden werden, etwa in der Richtung, ob Wladimir Putin, Recep Tayyip Erdoğan oder Donald Trump die neuen Hitlers sind. Nein, es muss vielmehr darum gehen, die Triebkräfte für einen neuen Autoritarismus und den möglichen Zusammenbruch auszumachen und zu benennen. Anders als 1933 erfolgen Demokratiezusammenbrüche im 21. Jahrhundert zumeist in der Form eines schleichenden Prozesses. Die weltweiten demokratiezersetzenden Grundmuster von Desinformation, Manipulation und Demagogie sind aber trotz aller technologischer Innovationen der Massenbeeinflussung die gleichen.

Der Populismus, besonders von rechts, erstarkt, nicht nur in Deutschland und Europa. Können wir uns durch die Kenntnis der Geschichte gegen seine manipulative Propaganda imprägnieren?

Ja, denn die Geschichtswissenschaft hat zum Ziel, die Grundmuster geschichtlicher Veränderungen zu erkennen. Die Grundmustererkennung des letzten Weltkrieges der Desinformation und Demagogie erlaubt uns, den neuen Weltkrieg der Desinformation und Demagogie besser zu verstehen. Dies ermöglicht es uns, die Erfolgsfaktoren von Resilienz gegen Desinformation und Demagogie zu erforschen und daraus Schlussfolgerungen für politisches und gesellschaftliches Handeln zu ziehen.

Thomas Weber, Jahrgang 1974, lehrt Geschichte und Internationale Politik an der University of Aberdeen und leitet das dortige Centre for Global Security and Governance. Derzeit ist der Historiker Visiting Fellow der Hoover Institution an der amerikanischen Stanford University. Weber ist Autor mehrerer Bücher, 2016 veröffentlichte er "Wie Adolf Hitler zum Nazi wurde. Vom unpolitischen Soldaten zum Autor von 'Mein Kampf'". 2022 gab Weber "Als die Demokratie starb. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten – Geschichte und Gegenwart" heraus.

Wir müssen uns also die Demagogen genauer anschauen und verstehen, wie sie vorgehen?

Genau, denn es gibt mittlerweile recht wenige Länder, die kein immenses Problem mit Extremismus haben. Wer hätte vor wenigen Jahren gedacht, dass Rechtsaußen-Parteien in Skandinavien und Italien an die Macht kommen würden, dass sie demnächst in den Niederlanden und vielleicht auch in Frankreich mitregieren werden und dass die AfD die führende politische Kraft Ostdeutschlands sein würde? Dafür gibt es aber gute Gründe.

Die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer, die in "Führer und Verführer" zu sehen ist, warnt, dass "nur wer die Gefahr der Verführung" kenne, "mit all den Einflüssen aus den Medien bewusst umgehen" könne.

Diese Warnung sollten wir sehr, sehr ernst nehmen. Denn wir erleben momentan ein goldenes Zeitalter der Propaganda, auch wenn sie heute als Desinformation und Manipulation bezeichnet wird. Und der neue Weltkrieg der Manipulation und der Desinformation wird mit noch potenteren Waffen als damals geführt. Selbst wenn dieser neue Weltenbrand nicht zu einem neuen, mit Waffengewalt ausgetragenen offenen Weltkrieg führt, sind dessen Konsequenzen schrecklich. Aber durch Aufklärung und Resilienz gegen Propaganda können wir ihn eindämmen.

Wie erlernten Hitler und Goebbels die Mechanismen von Manipulation und Demagogie überhaupt?

In dieser Hinsicht war Hitler recht ehrlich. Gewöhnlich behauptete er, dass er sich alles selbst beigebracht hätte. Aber in "Mein Kampf" räumt Hitler unumwunden ein, dass er Propaganda von den Briten gelernt hätte, die sie im Ersten Weltkrieg massiv eingesetzt hatten. Goebbels lernte ebenfalls aus der Vergangenheit. Der Begriff Propaganda selbst kam im Revolutionsjahr 1830 verstärkt auf, er läutete ein neues Zeitalter der systematischen Massenbeeinflussung ein, welches bis heute andauert.

Empfohlener externer Inhalt
Youtube

Wir benötigen Ihre Einwilligung, um den von unserer Redaktion eingebundenen Youtube-Inhalt anzuzeigen. Sie können diesen (und damit auch alle weiteren Youtube-Inhalte auf t-online.de) mit einem Klick anzeigen lassen und auch wieder deaktivieren.

Loading...
Loading...

Was haben Hitler und Goebbels in Sachen Propaganda gelernt?

Sie kamen zum Schluss, dass komplizierte Sachverhalte für die Massen vereinfacht werden müssen und in einfachen, grafisch vorgetragenen, emotional überzeugenden Slogans ununterbrochen wiederholt werden müssen. Und es komme nicht auf den Wahrheitsgehalt von Aussagen an, solange sie die Massen in die richtige politische Richtung bewegen würde. Dazu bedürfe es einer bildhaften Sprache, einprägsamer Bildanker – wie wir heute beispielsweise als Memes im Internet kennen. Und wenn eine Lüge weiter und weiter tradiert wird, bemerkt irgendwann niemand die Unwahrheit mehr.

Es läuft also auf eine Demontage der Wahrheit hinaus bei gleichzeitiger Installation einer alternativen Realität?

Hitler und Goebbels verteidigten offen, dass es legitim sei, viele kleine Lügen aufzutischen, wenn sie in den Dienst einer größeren "Wahrheit" gestellt werden. Die Mittel der Propaganda, die Hitler und Goebbels konsequent und unentwegt eingesetzt haben, entfalteten so eine enorme Wirkung.

Welche Rolle spielten die Massenorganisationen des NS-Staates, darunter etwa die Hitlerjugend?

Die Massenorganisationen waren wichtig, weil der NS-Massenbeeinflussungsapparat dort das Kollektiv und die Gemeinschaft inszenierte, und so ein neues als idealistisches wahrgenommenes Gefühl des "Wir" schuf und aus der subjektiven Sicht der Nationalsozialisten "positive" Ziele propagierte: "Volksherrschaft" und "Freiheit" etwa und eigenartigerweise immer wieder selbst "Demokratie".

Die meisten Menschen würden Hitler und Goebbels kaum in einem Satz mit den Begriffen "Freiheit" und "Demokratie" nennen.

Selbstverständlich definierten die Nationalsozialisten beides in einem pervertierten Sinn, der genau das Gegenteil dessen ist, was wir mit den Begriffen verbinden und der zu Genozid und Weltkrieg führte. Aber wir müssen dennoch ernst nehmen, was die Nationalsozialisten mit diesen Begriffen verbanden und woran sie glaubten, denn ein propagandistischer Gebrauch dieser pervertierten Begriffe ergibt ja nur Sinn, wenn Nationalsozialisten grundsätzlich diesen Begriffen gegenüber aufgeschlossen waren. Wie der Amsterdamer Philosoph und Extremismusforscher Rik Peels fordert, müssen wir die "First-Person-Perspective" von Extremisten viel ernster nehmen, da Extremisten nicht nur Spielbälle wirtschaftlicher, politischer und sozialer Entwicklungen sind, sondern auch Menschen sind, die aus Überzeugungen handeln, die Absichten und Ziele haben, die nachdenken und reflektieren.

Auch heute behaupten die AfD und andere Rechtsaußen-Parteien in vielen Ländern, für eine "wahre" Demokratie einzutreten …

Und wahrscheinlich glauben viele ihrer Anhänger das tatsächlich. Diese Tatsache zu ignorieren, ist doch ein großer Fehler vieler Anhänger der liberalen und rechtsstaatlichen Demokratie. Wir müssen die Gefahr, aber auch die Attraktivität, die von den rechten Populisten und Demagogen ausgeht, ernst nehmen. Sie wissen, wie Psychologie funktioniert, sie schaffen es Stimmungen zu nutzen, zu manipulieren und die Wahrnehmung der Gegenwart zu verändern.

Stellt sich die Frage, wie groß der Erfolg der Propaganda im Nationalsozialismus aber tatsächlich gewesen ist?

Das ist die entscheidende Frage, auf die es aber keine endgültige Antwort geben kann. Nehmen wir die Bilder von NS-Veranstaltungen mit begeisterten Massen. Diese Bilder setzen sich damals bei der deutschen Bevölkerung und auch international in den Köpfen fest und sie wirkten systemstabilisierend für das nationalsozialistische Deutschland. Nun wissen wir, dass Goebbels und sein Apparat bisweilen nachgeholfen haben, indem sie etwa Arbeiter aus den Fabriken haben rankarren lassen, die dann kräftig jubeln mussten. Es war ein inszenierter Jubel, allerdings ein solcher, der wiederum Eindruck auf andere Menschen machte. Fast alle überlieferten Bilder des NS-Regimes waren inszenierte Bilder. Wie lässt sich jedoch da die exakte Wirkung messen?

Auch die Nationalsozialisten selbst stellten sich diese Frage.

Es ist schwierig. Aber der Geheimdienst der SS untersuchte immer wieder die Wirkung der Propaganda – und kam beispielsweise vor genau 80 Jahren zu dem Schluss, wie gut die NS-Propaganda funktioniert habe, als die deutsche Bevölkerung nach dem D-Day, der Invasion der Alliierten in der Normandie, zunächst meinte, nun würde sich das Blatt endlich zugunsten Deutschlands wenden.

Wie verhält es sich in der Gegenwart?

Auch heute lässt sich der Erfolg von Propaganda methodisch kaum genau messen. Beispielsweise hat gerade der niederländische Inlandsgeheimdienst NCTV eine sehr beeindruckende Studie über die Erosion der liberalen Demokratie und die Normalisierung extremistischen Gedankenguts unter Jugendlichen durch Memes in den sozialen Medien vorgelegt. Gleichzeitig betont der NCTV die methodische Unmöglichkeit, hier direkte Wirkungen genau zu messen. Die methodische Schwierigkeit, die Wirkung von Propaganda zu messen, bedeutet aber im Umkehrschluss nicht, dass es überzeugend wäre, die Wirkung von Desinformation und Manipulation damals und heute kleinzureden.

Die Mechanismen von Desinformation und Manipulation sind trotz technischer Innovation im Prinzip die gleichen wie vor Jahrzehnten. Gibt es weitere Merkmale des rechten Populismus, die gewissermaßen zeitlos sind?

Wir stellen oft die falschen Fragen an die Vergangenheit und Gegenwart. Ist Trump ein Faschist oder nicht? Dieses nicht zielführende Thema wird in Amerika heiß diskutiert. Viele Politiker extrem rechter Parteien in Europa unterstützen doch nun Israel, können sie dann wirklich so rechts sein? So ist immer wieder zu hören. Es kann aber auch eine Familienähnlichkeit von extremistischen Parteien heute und dem Nationalsozialismus und auch anderen rechtsextremistischen Regimen der Vergangenheit ohne das Vorhandensein von Judenhass oder dem Drang nach Weltkrieg geben. Auch wird das "Dritte Reich" nicht in der Form wiederkehren, in der es schon einmal die Welt heimgesucht hat. Nein, viel wichtiger ist es, die Motoren von Krise und Zusammenbruch zu kennen und nach ihnen in unserer Zeit Ausschau zu halten.

Was sind diese "Motoren"?

Wir leben in einer Zeit der Krisen. Dabei spielt es allerdings weniger eine Rolle, ob es sich tatsächlich um eine existenzgefährdende Dauer- oder Megakrise handelt. Nein, entscheidend ist es, ob die Menschen ihre Situation so wahrnehmen. Wenn sie dann obendrein meinen, "Die da oben" seien unfähig, das Land durch die lebensgefährdenden Stürme der Gegenwart zu führen, werden sie sich öffnen für neue, auch extremistische Leute, die ihnen Lösungen versprechen. Deshalb möchte ich nochmals betonen: Es ist überaus wichtig, zu verstehen, was Hitler und Goebbels und was ihre Anhänger auf subjektiver Ebene angetrieben hat. Denn dann wird deutlich, dass die neuen extremen Parteien Europas sehr viel mehr mit dem Nationalsozialismus zu tun haben, als wir bislang dachten.

Etwa das gemeinsame Ziel einer erneuten Pervertierung der Demokratie?

Die sozusagen Aperol Spritz trinkende neue extreme Rechte Europas distanziert sich oftmals demonstrativ vom "Dritten Reich" und setzt sich – wenn auch in objektiv gesehener pervertierter Form – für Dinge ein, die uns selbst genauso wichtig sind: Freiheit, Sicherheit, Solidarität, Demokratie. Dies war aber damals auch der Fall. Thomas Mann sprach daher vom "Bruder Hitler", um darauf hinzuweisen, wie Nationalsozialisten seine eigenen Ideale und Werte pervertiert hatten. Ein Beleg, wie wenig wir den Nationalsozialismus verstehen, ereignete sich übrigens vor gar nicht allzu langer Zeit.

Worauf spielen Sie an?

Im vergangenen Januar wurde das Potsdamer Treffen zur sogenannten Remigration bekannt, an dem auch AfD-Leute teilgenommen hatten. Die AfD-Spitze mit Alice Weidel distanzierte sich, doch kurze Zeit später attackierte sie die Migrationspolitik seit 2015 und warf der jetzigen und vorherigen Bundesregierung im Bundestag vor: "Sie nehmen den Deutschen ihre Heimat." Zur Europawahl veröffentlichte die AfD ein Faltblatt zur "Remigration" und fordert dort die seit 2015 "erfolgte Massenzuwanderung um[zu]kehren" und massenweise Migranten, die seit fast einem Jahrzehnt in Deutschland ein Zuhause gefunden haben, auszuweisen. Ich fühle mich dabei an Punkt 8 des 25-Punkte-Programms der NSDAP von 1920 erinnert.

Darin steht: "Jede weitere Einwanderung Nicht-Deutscher ist zu verhindern. Wir fordern, dass alle Nicht-Deutschen, die seit 2. August 1914 in Deutschland eingewandert sind, sofort zum Verlassen des Reiches gezwungen werden."

Genau. Es ist eine etwas andere Formulierung, aber dadurch, dass sich die AfD von der radikalen Version der Remigrationsforderungen des Potsdamer Treffens distanzierte, näherte sie sich – vielleicht ohne dies selbst zu merken – dem Parteiprogramm der NSDAP an. Keiner hat das so richtig bemerkt.

Wie können wir aber Resilienz entwickeln gegen einen Rechtsextremismus, den viele Menschen auf den ersten Blick gar nicht als solchen erkennen?

Der erste Schritt ist hier, ihn erst einmal als solchen zu erkennen. Der zweite besteht darin, uns anzuschauen, wie Resilienz im ersten Weltkrieg der Demagogie und Desinformation funktioniert; der dritte, dass genau wie damals das Aufeinandertreffen von Krisenbewusstsein und neuen Technologien ein goldenes Zeitalter der Desinformation und Demagogie geschaffen hat. Und, viertens, ist zu verstehen, was die Möglichkeiten der Desinformation durch die technologische Transformation der Gegenwart umfasst: etwa durch künstliche Intelligenz oder soziale Medien. Hier kommt es zu einer Normalisierung Hitlers und seiner Ideenwelt.

Was meinen Sie damit?

Teile der Ideenwelt Hitlers werden oftmals in einer Weise normalisiert, in der häufig gar nicht wahrgenommen wird, dass es sich um die Ideenwelt Hitlers handelt, da wir Hitler in den letzten Jahren zu häufig auf eine Karikaturversion seiner selbst reduziert haben: einen schreienden, geifernden Racheengel. Aber es ist noch schlimmer: In Teilen der sozialen Medien wird gerade Hitler selbst verniedlicht und gesellschaftsfähig gemacht, gerade in sozialen Medien, die vor allem von Teenagern konsumiert werden, in einer Zeit, in dem sich vor allem die Jugend Europas radikalisiert. Vermutlich jeder Jugendliche mit einem Smartphone wird schon einmal Pepe the Frog – eine der Lieblingsfiguren von Memes in den sozialen Medien – als Hitler dargestellt gesehen haben. Jetzt trifft ein, wovor der Bundespräsident in seiner Rede bei der Eröffnung des Historikertags in Leipzig im September gewarnt hatte: dass Schüler Gewalt verherrlichen und "Hitler einen großen Mann nennen".

Was tun?

So paradox es nun klingen mag, wir müssen uns auf Hitler und Goebbels einlassen, um sie zu entzaubern, denn auf TikTok sind die beiden schon längst aus dem "Giftschrank" herausgeholt worden. Dies hat auch mein Vater versucht. Ein im westfälischen Breckerfeld tätiger, eine massenhafte "Remigration" fordernder AfD-Politiker hatte gegen ihn nicht allzu lange vor seinem Tod Anzeige erstattet, nachdem mein Vater auf die von ihm empfundene Familienähnlichkeit in der Art, wie die NS-Propaganda und AfD-Wahlwerbung kirchliche Symbole und Glauben instrumentalisierte, hingewiesen hat.

Haben Sie deshalb als Berater bei der Produktion von "Führer und Verführer" mitgewirkt?

Mein Vater sah sein Lebenswerk, sich für eine Freiheit und eine Sicherheit einzusetzen, die auch für die Schwächsten in der Gesellschaft und für Fremde gilt, gefährdet. Ich schulde es daher auch meinem Vater, von Zeit zu Zeit meinen geliebten Turm der Wissenschaft zu verlassen, um mich mit meiner wissenschaftlichen Expertise bei so großartigen Projekten wie Joachim A. Langs "Führer und Verführer" einzubringen.

Professor Weber, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Thomas Weber via Videokonferenz
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...

ShoppingAnzeigen

Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Neueste Artikel



TelekomCo2 Neutrale Website