Tagesanbruch Der schönste Moment des Tages
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
na, gut geschlafen? Dann warten Sie lieber noch ein paar Minuten, bevor Sie das Radio oder den Fernseher anknipsen, die Nachrichten-App öffnen oder die Zeitung aufschlagen. Schauen Sie vorher doch mal einen Augenblick aus dem Fenster und erfreuen Sie sich an dem Anblick: blauer Himmel, Morgensonne, ist das nicht herrlich? Was auch immer der Kalender oder die Meteorologen sagen: Kein Zweifel, der Frühsommer hat begonnen! Vielleicht öffnen Sie das Fenster und gehören zu den Glücklichen, die kein Verkehrsbrausen hören. Dann hören Sie wahrscheinlich etwas anderes: Drosseln und Meisen, Rotkehlchen und Zaunkönige zwitschern ihren Morgengesang; vielleicht trommelt ein balzender Specht dazu den Takt.
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Das Fenster können Sie getrost offen lassen, wenn Sie ins Bad oder in die Küche gehen. Die Wetterfrösche haben heute Sonnenschein fast im gesamten Bundesgebiet versprochen (und das glauben wir ihnen natürlich). Wenn Sie gern Kaffee oder Tee trinken, gönnen Sie sich heute ein Tässchen mehr. Nehmen Sie es mit zurück zum Fenster und verweilen Sie dort noch ein wenig, bevor Sie sich in den Alltag stürzen. Denn das ist vielleicht der schönste Moment Ihres Tages.
Ich gestehe: Was ich Ihnen da gerade geraten habe, muss in vielen Ohren wie Luxus klingen. Natürlich weiß ich, dass solcher Müßiggang, und sei es nur für ein paar Minuten, vor allem für Berufstätige, Schüler, Auszubildende, aber auch für viele Eltern, umtriebige Rentner und sonst wie Beschäftigte (für mich selbst erst recht) an Wochentagen undenkbar erscheint. Stattdessen heißt es nach dem Weckerpiepen (wieso piepen eigentlich alle Wecker so doof?): Los, aufstehen! Wasser marsch ins Gesicht oder auf den Kopf, und jetzt funktionieren! Währenddessen die ersten Hiobsbotschaften in den Radionachrichten, dann das Frühstück runterschlingen und überstürzt aus dem Haus eilen, um dies oder das zu tun, nicht zu spät zu diesem oder jenem zu kommen. Unterwegs auf dem Handy noch mehr News, Krieg hier und Krise da, Fotos vom Höcke, vom Trump und von anderen unerquicklichen Gestalten. Auf Tikitaka oder wie das heißt auch nix Gescheites, und dann riecht der Typ gegenüber in der U-Bahn auch noch nach Zwiebeln. Ich könnte ihn erwürgen! Nee, das ist kein schöner Morgen.
Dabei hätte er so schön beginnen können. Mit einem kurzen Blick aus dem Fenster, Kaffeeduft in der Nase, einem kleinen Moment nur für mich und der einfachen Erkenntnis: Die Welt ist so schön, wenn man nicht dauernd an Krisen, Zwiebeltypen und die Uhr denken muss.
Spätestens an diesem Punkt des heutigen Tagesanbruchs haben Sie, liebe Leserin und lieber Leser, womöglich den Eindruck, der Herr Harms sei nun endgültig in die Midlife-Crisis gestürzt. Ich darf Sie beruhigen: Bei mir ist alles im Lot, ich bin putzmunter, arbeite voller Begeisterung und halte Journalismus immer noch für den schönsten Beruf der Welt – egal, über wie viele Krisen wir den lieben langen Tag berichten müssen.
Aber ich habe ein Buch gelesen, das meinen Blick auf die Welt, wie soll ich's sagen, nun ja: bereichert hat. Geschrieben hat es Stephan Schäfer, es heißt "25 letzte Sommer". Ähnlich wie ich hat Stephan viele Jahre lang als Journalist und Medienmanager ein Leben auf der Überholspur geführt, wie wir Workaholics das euphemistisch bezeichnen: rund um die Uhr präsent, immer am Handy, eigentlich nie Feierabend und viel zu wenig Zeit für Familie, Freunde, sich selbst. Aber dann hat er etwas verändert, und den Anstoß gab ihm die Begegnung mit einem Menschen, der ganz anders lebt als er selbst: Der Kartoffelbauer Karl gibt nichts auf Tikitaka und anderen Firlefanz, dafür sehr viel auf das echte Leben – die Natur mit ihren Jahreszeiten, Begegnungen mit sympathischen Menschen und ein Nickerchen zur richtigen Zeit. Geld und Statussymbole bedeuten ihm wenig, Gespräche, Bücher und Zeit zum Nachdenken dagegen viel. Kurzum: Da prallen zwei komplett unterschiedliche Lebensentwürfe aufeinander.
Und dreimal dürfen Sie raten, welcher der beiden sich als erstrebenswerter erweist. Ohne erhobenen Zeigefinger beschreibt der Autor, wie ihn die Begegnung mit dem Bauern dazu gebracht hat, sich selbst zu hinterfragen: Warum verbringen wir so viel Zeit mit unserer Arbeit anstatt mit den Menschen und Dingen, die uns wirklich wichtig sind? Warum lassen wir herrliche Momente wie einen strahlenden Morgen einfach so an uns vorüberziehen, statt ihn bewusst zu genießen, wenigstens fünf Minuten lang?
Ich habe Stephan Schäfer gefragt, was er rückblickend in seiner Zeit als rastloser Manager verpasst hat. "Ich habe meinen Beruf geliebt, und ich möchte keinen Tag missen", antwortete er und räumte zugleich ein: "Gefehlt hat mir, genügend Zeit für meine Familie und Freunde zu haben. Und, wie ich jetzt weiß, das Schreiben." Gut, dass er das rechtzeitig gemerkt und dieses Buch geschrieben hat. Ich zumindest habe mir nach der Lektüre vorgenommen, mir wieder mehr Zeit für das zu nehmen, was wirklich wichtig ist: liebe Menschen, die Natur und, ja, morgens öfter einen Kaffee-Moment. Ohne Firlefanz.
Ohrenschmaus
Wenn ich schon von Morgenstimmung spreche, braucht es auch den passenden Song. Selbst wenn er in manchen Ohren arg zuckrig klingen mag.
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Urteil im Höcke-Prozess
Ganz ohne Nachrichten geht es aber natürlich nicht. Gestern hat das Oberverwaltungsgericht in Nordrhein-Westfalen entschieden: Der Verfassungsschutz hat die AfD zu Recht als rechtsextremistischen Verdachtsfall eingestuft und darf sie weiter mit nachrichtendienstlichen Mitteln beobachten. Das Urteil ist eine Klatsche für die Partei, schreibt unsere Reporterin Annika Leister, die sich so genau mit der AfD auskennt wie kaum eine andere Journalistin. Gemeinsam mit unserem Kollegen Johannes Bebermeier beschreibt sie außerdem die Folgen des Richterspruchs: Die Debatte über ein Verbotsverfahren schwillt wieder an.
Eine Schlüsselfigur dabei ist Björn Höcke. Der Spitzenkandidat für die Thüringer Landtagswahl am 1. September steht derzeit in Halle an der Saale vor Gericht, weil er 2021 in einer Rede in Merseburg eine verbotene Parole der nationalsozialistischen Sturmabteilung (SA) verwendete. Während der frühere Geschichtslehrer Höcke behauptet, den historischen Hintergrund der Losung "Alles für Deutschland" nicht gekannt zu haben, will die Staatsanwaltschaft belegen, dass er die Worte vorsätzlich nutzte. Womöglich kommt ihr dabei eine neuerliche Provokation zupass, die sich der Dumpf-Demagoge am 1. Mai in Hamm erlaubte, wie unser Rechercheur Lars Wienand herausgefunden hat. Das Urteil wird im Laufe des Tages erwartet.
Scholz in Schweden
Die russische Offensive bei Charkiw, Putins Personalrochade, Selenskyjs Eingeständnis einer "äußerst schwierigen Lage": Der Beratungsbedarf zum Ukraine-Krieg ist groß bei der zweitägigen Schwedenreise von Olaf Scholz. Gestern traf sich der Kanzler im Rahmen des Nordischen Rats mit den Ministerpräsidenten von Schweden, Dänemark, Finnland, Island und Norwegen, um über die Sicherheitslage in Europa, hybride Bedrohungen und die Unterstützung der Ukraine zu beraten. Heute stehen in Stockholm bilaterale Gespräche mit Schwedens Regierungschef Ulf Kristersson auf dem Programm. Außerdem wollen die beiden Regierungschefs eine Innovationspartnerschaft schmieden. Die "Frankfurter Rundschau" erklärt, was dahintersteckt.
Scharfes Asylrecht kommt
Das Europaparlament hat schon im April zugestimmt, heute nimmt die umstrittene EU-Asylreform die letzte Hürde: Ein Ministerrat in Brüssel soll das Gesetzespaket billigen, das die bisherigen Regeln für Migration in die Europäische Union verschärft. Eine wichtige Neuerung: Ankommende Asylbewerber mit geringer Bleibechance sollen schneller und direkt von der EU-Außengrenze abgeschoben werden, auch in sogenannte sichere Drittländer. Außerdem will die EU jene Staaten entlasten, in denen besonders viele Flüchtlinge ankommen, vor allem Italien und Griechenland. Ab heute haben die Mitgliedstaaten dann zwei Jahre Zeit für die Umsetzung der Vorschriften.
Intelligentes Treffen
Künstliche Intelligenz (KI) wird vieles grundlegend verändern: Arbeitsleben und private Kommunikation, Produktion und Verkehr, auch die Sicherheitslage. Bislang gibt es kein globales Regelwerk, das Digitalfirmen und Staaten dazu verpflichtet, KI nur zum Wohle, nicht zum Schaden der Menschheit einzusetzen. Das wird es voraussichtlich auch nicht so schnell geben – aber immerhin sprechen Regierungsvertreter der beiden mächtigsten Länder, USA und China, nun endlich über die Risiken: Heute beginnen sie ihre Gespräche am neutralen Standort Genf.
Lesetipps
Kremlchef Putin hat überraschend Verteidigungsminister Schoigu gegen einen Zivilisten ausgetauscht. Mein Kollege Patrick Diekmann erklärt Ihnen, was hinter dem Personalmanöver steckt.
Welche Partei will was für Europas Bürger? Die Kollegen von tagesschau.de haben die Wahlprogramme der Parteien verglichen.
Eigentlich wollte die Ampelkoalition die Rentenreform längst beschlossen haben – aber es wird auch diese Woche nichts. Wie es nun weitergeht, erklärt Ihnen mein Kollege Florian Schmidt.
Zum Schluss
Endlich Klarheit bei der AfD!
Ich wünsche Ihnen einen sonnigen Tag. Und einen Moment der Ruhe.
Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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