Festkleben auf Autobahnen? Überlegt Euch gut, wohin Eure Proteste führen
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Keine Straße, kein Kunstwerk ist vor der "Letzten Generation" sicher. Die Wut der autofahrenden Mitbürger ist ihnen gewiss. Dabei wollen doch alle das Gleiche, meint Wladimir Kaminer.
Die Tochter meiner Nachbarin in Brandenburg findet die "Letzte Generation" toll. Sie verspottet ihre Eltern, nennt sie "vorletzte Generation" und würde sich auch gerne irgendwo ankleben aus Protest gegen die Klimakrise.
Doch was soll das schon bringen? Wir leben auf dem Land, hier fährt selten ein Auto vorbei, man verhungert fast, bis dich überhaupt einer bemerkt. Die Eltern schimpfen mit der Tochter, sie halten solche Aktionen für Unsinn. Die "Vorletzten" streiten mit den "Letzten".
Über die Initiative "Letzte Generation" wird zurzeit überall viel geschimpft, getratscht und gelacht. Gelacht wird nicht über den Tod einer Radfahrerin in Berlin, der möglicherweise in Zusammenhang mit einer Straßenblockade der Gruppe steht. Aber darüber muss ein Gericht entscheiden.
Wladimir Kaminer ist Schriftsteller und Kolumnist. Er wurde 1967 in Moskau geboren und lebt seit mehr als 30 Jahren in Deutschland. Zu seinen bekanntesten Werken gehört "Russendisko". Kürzlich erschien sein neues Buch "Wie sage ich es meiner Mutter: Die neue Welt erklärt: von Gendersternchen bis Bio-Siegel".
Über die "Letzte Generation" werden jedenfalls mehr Karikaturen gezeichnet als über die gesamte Bundesregierung. Die bislang gelungenste Zeichnung, die ich kenne, zeigt einen Champagner-Empfang bei einem reichen Kunstliebhaber. Er will seine Gäste mit einer neuen Erwerbung beeindrucken. An seinem neuen Kunstwerk, gerade frisch bei einer Kunstauktion ergattert und im Gästezimmer ausgestellt, klebt allerdings noch eine Klimaaktivistin am Rahmen. "Haben sie nicht abbekommen", erklärt der Sammler dem Publikum, die junge Frau am Rahmen lächelt gequält in die Runde.
Der "Letzten Generation" ist es gelungen, die mediale Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und eine gesellschaftliche Diskussion anzustoßen. Über die Ziele der Bewegung, vor allem über konkrete Angebote zum Erreichen dieser Ziele, wird jedoch kaum gesprochen. Klimawandel hin oder her, viel interessanter scheint für die Öffentlichkeit die Frage zu sein: Wo endet der Protest und wo beginnt rechtswidriges Verhalten?
Jetzt ist jeder irgendwie empört
Junge Menschen, die Straßen blockieren, die sich an Kunstwerken in Museen festkleben, berühmte Bilder mit Kartoffelbrei übergießen, setzen auf gesellschaftliche Empörung – ganz im Sinne des populären Traktates des französischen Essayisten Stéphane Hessel: "Empört Euch!".
Er rief die Jugend zum zivilen Ungehorsam und gewaltloser Revolte angesichts des traurigen Zustandes des Planeten auf. Doch irgendwie habe ich das Gefühl, die "Letzte Generation" hat den Philosophen falsch verstanden. Er meinte, die Aktivisten sollten sich über die egoistische Gesellschaft empören, in unserem Fall passiert genau das Gegenteil, die Gesellschaft empört sich über die Aktivisten. Gut, eigentlich empören sich alle gegenseitig über einander.
Die Klimaaktivisten empören sich über die egoistische Konsumgesellschaft: Wie kann man die Kunst genießen und sich übers Leben freuen, während woanders Menschen verhungern, die Wälder verrotten und die Häuser überschwemmt werden?! Angesichts der Umstände würde die “Letzte Generation“ in jedes Champagnerglas spucken, mit dem auf diesem leidgeprüften Planeten angestoßen wird.
Die egoistische Gesellschaft empört sich ebenfalls. Wie kann man so blöd, so kindisch und naiv sein zu glauben, dass man den Planeten retten kann, indem man sich an der Sixtinischen Madonna vergreift oder auf der Autobahn für noch mehr Stau sorgt. Die gegenseitige Empörung ist groß. Dabei liegen beide Seiten in ihren Vorstellungen über den Zustand der Welt gar nicht so weit auseinander – inzwischen will niemand bestreiten, dass es dem Planeten nicht so gut geht. Und wir daran schuld sind.
So wird das nichts!
Die egoistische Gesellschaft möchte den Planeten ja auch retten, aber nicht jetzt gleich. Und schon gar nicht im Alleingang. Das würde ja bedeuten, sofort aus dem Auto steigen und den weiten Weg zu Fuß gehen zu müssen, während Inder und Chinesen weiterfahren. Wir brauchen eine gescheitere Lösung, sagt die Konsumgesellschaft, am besten durch Einsatz von neuen Technologien, mithilfe des Fortschritts und der Wissenschaft, ohne Verlust des ökonomischen und sozialen Status, ohne Umstellung der Bedürfnisse.
Es muss doch eine Lösung geben, wie man den Planeten quasi im Vorbeifahren rettet, ohne aus dem Auto zu steigen. Wir sollen zuerst mit den Indern und den Chinesen reden, von allen anderen ganz zu schweigen: Ein Alleingang hat einfach keinen Sinn. Wir überlegen also zuerst bei einem Glas Champagner etwas Gescheites und melden uns, wenn der Champagner alle ist.
Die "Letzte Generation" kontert, es habe keinen Sinn, auf die anderen zu schielen, man müsse bei sich selbst anfangen, mit eigenem Beispiel vorangehen, wenn man die Welt wirklich retten wolle. Die anderen würden es schon sehen und nachziehen. Schon möglich, argumentiert die Gesellschaft, und wenn nicht, was dann? Dann stehen wir ganz schön blöd da und die anderen lachen uns aus.
Mich erinnert die "Letzte Generation" an die russischen Aktionskünstler aus den Neunzigern, die drei Jahrzehnte lang versuchten, mit ihren mutigen Aktionen gleich die ganze Welt wachzurütteln. Ihre Vorgehensweise war im Prinzip die gleiche.
Protest der schmerzhaften Art
Der eine hatte in einem Amsterdamer Museum ein Dollarzeichen auf ein Bild von Vincent van Gogh gesprüht, wurde dafür verhaftet und saß ehrlich seine zwei Jahre im holländischen Knast ab. In seiner Zelle schrieb er das Buch "Die Internationale der nicht lenkbaren Torpedos", laut Gerüchten hatte er das Buch auf Toilettenpapier, einem Recyclingprodukt, geschrieben, um damit auch noch gegen Abholzung des Regenwaldes für Papierherstellung zu protestieren.
Das Buch war aber später auf schickem, dickem Papier erschienen. Der andere, wahrscheinlich der letzte seiner Generation, hat vor gar nicht langer Zeit auf dem Roten Platz seine Hoden festgenagelt. Damit wollte er zum Ausdruck bringen, dass der Staat immer weiter zu einer Diktatur mutiert und alle Bürger des Landes im Sack hat.
Der Rote Platz wird rund um die Uhr mit Hunderten von Kameras bewacht. Schon eine halbe Minute später erschien die Polizei und bat den Künstler, mitzukommen. "Würde ich gerne, aber es geht nicht!", sagte der Künstler, der nackt auf dem Roten Platz saß.
Seine Aktion hat in der Tat die Gesellschaft erreicht und in gewisser Weise wachgerüttelt. Der Künstler wurde mit Einladungen und Zuschriften überschüttet. Die Menschen stellten ihm jedoch keine politischen Fragen, sie diskutierten auch nicht, was getan werden müsse, um die Kontrolle über den eigenen Staat zurückzugewinnen. Alle wollten bloß wissen, ob sein Hodensack wieder heil sei.
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