Krieg und Charakterfragen Darauf kommt es jetzt an
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Wie kann man die Kriege in der Ukraine und in Gaza eindämmen? Mit moralischen Forderungen wohl kaum. Es kommt auf die nächsten Wahlen an – vor allem in Amerika, aber auch in Europa.
Rolf Mützenich tut sich schwer mit der Rechtfertigung für seinen Satz, dass der Krieg in der Ukraine "eingefroren" werden sollte. Man könnte auch sagen, der SPD-Fraktionsvorsitzende weicht ins Sachliche aus, obwohl es ihm gar nicht um die Sache geht, sondern um Moral, und obwohl die Adressaten weder der russische Präsident Wladimir Putin noch der ukrainische Staatschef Wolodymyr Selenskyj sind, sondern die Sozialdemokraten.
Es ist ja offensichtlich, dass es in größeren Teilen der SPD Irritationen auslöst, wenn ihr Verteidigungsminister von Kriegstauglichkeit spricht und der Bundeskanzler die Bundeswehr mit 100 Milliarden Euro aufrüsten lässt. Diese Partei ist einmal mehr in einer Existenzfrage zerrissen, wie sie es beim Nato-Doppelbeschluss in den 1970er Jahren unter Kanzler Helmut Schmidt und bei der Agenda 2010 unter Kanzler Gerhard Schröder war.
Zur Person
Gerhard Spörl interessiert sich seit jeher für weltpolitische Ereignisse und Veränderungen, die natürlich auch Deutschlands Rolle im internationalen Gefüge berühren. Er arbeitete in leitenden Positionen in der "Zeit" und im "Spiegel", war zwischendurch Korrespondent in den USA und schreibt heute Bücher, am liebsten über historische Themen.
Die SPD wäre auch diesmal lieber moralisch gesinnt und damit gegen den Krieg. Also ist sie beides, sowohl dagegen als auch dafür. Die goldene Mitte verkörpert Olaf Scholz, der sowohl für die weitreichende Unterstützung der Ukraine ist als auch gegen die Lieferung des Taurus-Systems.
In der Ukraine und in Gaza ist man weiter
In Deutschland ist die Debatte noch nicht so weit gereift, wie sie es in der Ukraine und Russland, in Israel und in Gaza notgedrungen längst ist. Dort stellt sich tiefenscharf die entscheidende Frage: Wer sind wir und was wollen wir?
Die Ukraine will ein Land aus eigenem Recht sein, das sich seine Verbündeten selbstständig aussucht. Sie kämpft um ihre Identität und Existenz. Russlands Identität ist aus Sicht ihres Präsidenten durch Gebietsverluste beschädigt und die Restitution des Imperiums, die in der Ukraine beginnt, soll diese schwärende Wunde heilen.
In Israel gibt es so etwas wie Realpolitik eigentlich nicht. Jedes politische Problem ist existenziell ausgerichtet oder wird auf diese Weise verstanden. Der Überfall auf Konzertbesucher in Moskau ist furchtbar, gefährdet aber nicht Russland. Der Überfall auf die Besucher eines Festivals am 7. Oktober in Israel aber riss einen Abgrund auf und demonstrierte, dass sich der Staat nicht in Sicherheit wiegen darf. Die mittlerweile maßlose Reaktion in Gaza ist ein Spiegelbild dieser existenziellen Angst.
Das übersehen Mützenich und Wagenknecht
Auch hier stellt sich die Identitätsfrage: Was will Israel sein – eine militante Demokratie, dazu bereit, den Rechtsstaat zu beugen und Expansion in der Westbank zu betreiben, egal was die Verbündeten davon halten? Und wer will Israel sein – ein jüdischer Staat, der Araber wie Menschen zweiter Klasse behandelt und die Zwei-Staaten-Theorie verwirft?
Beide Kriege dauern an und sind von Frieden weit entfernt. Und beide Kriege haben eine Eigenschaft, die Politiker wie Mützenich oder Sahra Wagenknecht und andere übersehen. Denn darüber wird nicht nur auf den Schlachtfeldern entschieden, sondern auch bei den Wahlen, vor allem in Amerika.
Benjamin Netanjahu wie Wladimir Putin spielen auf Zeit. Putin sagte den typischen Putin-Satz, er denke nicht daran, über Frieden nachzudenken, nur weil der Ukraine die Munition ausgeht. Netanjahu gibt zu erkennen, dass er sich nicht um Joe Bidens Einwände gegen die Offensive in Rafah schert und auch nicht um die berechtigten Vorwürfe des UN-Generalsekretärs über die verhängte Hungersnot über Gaza.
Wer will die Supermacht sein?
Am 5. November wählt Amerika zwischen Joe Biden und Donald Trump. Eine Alternative im wahrsten Sinne des Wortes. Wahlen entscheiden sich selten in der Außenpolitik, aber diesmal schon. In den Umfragen liegt Biden hinten, weil die Demokraten vor allem über Israel mindestens genauso gespalten sind wie die SPD. Kann der Präsident seine eigene Partei nicht hinter sich scharen, verliert er die Wahl. Sein Motto lautet jetzt: Demokratie und Rechtsstaat sind in Gefahr, im Ausland wie im Inland.
Trump hingegen unterstützt Israel bedingungslos und stört sich nicht an den Leiden der Zivilbevölkerung in Gaza oder der Expansion im Westjordanland. Verletzungen des Völkerrechts? In Trumps darwinistischer Weltsicht gibt es immer und überall die Starken und die Schwachen und die Starken nehmen sich, was sie wollen.
Bei dieser Wahl steht auf dem Spiel, wer die Supermacht USA sein möchte – ein Garant der Demokratie oder eine isolationistische Macht, der die Ordnung in den internationalen Beziehungen gleichgültig ist?
Es könnten unangenehme Fragen drohen
Natürlich schauen wir Deutschen atemlos zu, was dort drüben vor sich geht. Dabei sollten wir allerdings unsere eigenen Wahlen nicht aus den Augen verlieren. Gewinnt die europäische Rechte bei der Europawahl im Juni eindeutig, wird das Rückwirkungen auf das Klima in Deutschland wie in Frankreich haben. Gewinnt die AfD bei den drei ostdeutschen Wahlen ähnlich eindeutig wie prognostiziert, ändern sich auch die innenpolitischen Verhältnisse mit Auswirkungen auf die Außenpolitik.
Einige Fragen nach unserer Identität könnten sich dann stellen, denen wir eigentlich nicht ausgesetzt sein wollten – zum Beispiel diese: Sollten wir nicht die Bundeswehr schnell aufrüsten, anstatt Munition, Panzer und Raketen an die Ukraine zu liefern, die den Krieg gegen Russland eh nicht gewinnen kann? Oder: Ist es nicht besser, Trump entgegenzukommen, damit die USA nicht Europa den Rücken kehren?
Wir leben in explosiven Zeiten und da ist es nicht einfach, Haltung zu bewahren. Wer man sein will, ist eben auch für Länder eine Charakterfrage. Im Jahr 2024 müssen wir wohl ein paar Antworten geben.
- Eigene Recherche