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Rücktritt von Boris Johnson: Großbritannien versinkt im Chaos


Großbritannien nach Johnson-Rücktritt
"In diesem Chaos ist alles möglich"


08.07.2022Lesedauer: 6 Min.
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Boris Johnson am Donnerstag: Er will zurücktreten – wann, ließ er offen.Vergrößern des Bildes
Boris Johnson am Donnerstag: Er will zurücktreten – wann, ließ er offen. (Quelle: Henry Nicholls/reuters)

Boris Johnson will als Premier zurücktreten – wann genau, ist unklar. Damit steht das krisengebeutelte Großbritannien vor politischem Chaos.

Es ist ein Rücktritt auf Raten: Am Donnerstag verkündete Boris Johnson, dass er sein Amt als Chef der konservativen Partei sofort niederlege, aber vorerst Premierminister von Großbritannien bleiben werde. Zuvor waren mehr als 50 Abgeordnete von ihren Minister- und weiteren Regierungsämtern zurückgetreten. Nun stellt sich vor allem eine Frage: Wie geht es weiter in Großbritannien?

"Die Situation ist sehr chaotisch", sagt der Politologe Anthony Glees von der Universität Buckingham zu t-online. "Wir befinden uns in einer verfassungspolitischen Krise." Das Problem: Das Vereinigte Königreich hat keine niedergeschriebene Verfassung. Doch es sei ein ungeschriebenes Gesetz, dass ein Premierminister, der das Vertrauen seiner eigenen Partei verspielt habe, auch das Vertrauen der Königin nicht mehr habe – und damit sofort gehen müsse, sagt Glees. Die Ämter des Regierungschefs und des Vorsitzenden der Mehrheitspartei im Unterhaus sind aneinandergekoppelt.

"Boris Johnson tut so, als gehöre ihm 10 Downing Street persönlich"

Doch Johnson hält an seiner Macht fest, ließ kurz vor Bekanntgabe seines Rücktritts als Parteichef noch mehrere Kabinettsposten neu besetzen. Glees ist entsetzt: "Ich habe Boris Johnson oft als einen verlogenen Gauner oder Spinner dargestellt, aber das hätte ich nicht geglaubt." Der Grund seines Entsetzens: "Wenn man sich seine Rede genau angehört hat, hat man das Gefühl, dass er eigentlich nicht vorhat, abzudanken." Johnson tue so, als gehöre ihm 10 Downing Street – der Wohn- und Regierungssitz – persönlich.

Anthony Glees (74) ist Politologe und Zeithistoriker, emeritierter Professor für Politikwissenschaft und Europastudien an der Universität von Buckingham. Er gilt als Kenner deutsch-britischer Beziehungen, europäischer Angelegenheiten sowie Sicherheits- und Geheimdienstfragen.

Johnson noch bis Oktober Premier?

Damit befindet sich die Regierung in einer Art Schwebezustand – wie lange dieser anhält, ist unklar. Johnson machte für seinen Rücktritt als Premierminister zur Voraussetzung, dass ein neuer Parteichef gewählt wurde, der angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Parlament auch automatisch der neue Premierminister würde.

Einen konkreten Zeitrahmen nannte Johnson in seiner Rede dagegen nicht, dieser solle erst in der kommenden Woche veröffentlicht werden. Zuständig dafür ist das sogenannte 1922-Komitee, das sich aus Hinterbänklern der konservativen Parlamentsmitglieder zusammensetzt. Vermutet wird, dass es bis Oktober dauern könnte, bis ein neuer Parteichef und somit Premier gewählt ist.

Video | Boris Johnson verkündet Rückzug
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Quelle: t-online

Politologe Glees bereit das Unbehagen: "Von jetzt bis Oktober kann noch einiges passieren, was Johnson am Ende sagen lassen könnte: Nein, es ist völlig unmöglich, dass ich jetzt gehe. Das Land braucht mich." Als Beispiele nennt er den Streit um die Brexit-Folgen oder den Ukraine-Krieg – die politischen Krisen in Großbritannien sind auch abseits der personellen Fragen zahlreich. "Es gibt tausendundeine Sachen, die er behaupten kann, um im Amt zu bleiben", sagt Glees.

Ex-Premier fordert sofortigen Rücktritt

Einige Stimmen, darunter auch konservative Tories, fordern daher, dass Johnson sein Amt sofort zur Verfügung stellt. Zu den prominentesten gehört der ehemalige britische Premier John Major. Nur wenige Stunden nach Johnsons Ankündigung veröffentlichte dieser einen offenen Brief, in dem er Johnson einen sofortigen Rückzug nahelegt. Major schlug dafür zwei Alternativen vor: Johnson solle von sich aus das Amt an seinen Stellvertreter Dominic Raab abgeben, bis ein neuer Parteichef gefunden ist. Dieser hatte Johnson bereits während seiner schweren Corona-Erkrankung 2020 vertreten. Andere Tories brachten gar ins Spiel, Johnsons zurückgetretene Vorgängerin Theresa May für die Übergangszeit zurückzuholen.

Angesichts der besonderen Umstände nannte Ex-Premier Major noch eine weitere Möglichkeit: Der neue Parteichef könne auch ausschließlich von den Tory-Abgeordneten gewählt werden, um sich dann anschließend von den Parteimitgliedern bestätigen zu lassen. Das würde viel Zeit sparen. Für gewöhnlich wird der Parteivorsitzende in einer Stichwahl von allen Parteimitgliedern gewählt.

Kommt ein neues Misstrauensvotum?

Ob eine der Maßnahmen Anklang findet, ist offen. Zumindest eines aber müsste Johnson eigentlich nicht fürchten: ein Misstrauensvotum seiner eigenen Partei. Ein solches hatte er erst Anfang Juni überstanden. Die parteiinternen Regeln sehen vor, dass er sich ein ganzes Jahr lang keiner neuen Abstimmung stellen muss. Allerdings ist es möglich, dass diese Regularien geändert werden – das hatten vor Johnsons Rücktrittsankündigung mehrere Abgeordnete gefordert.

Zuständig ist auch hier das 1922-Komitee, das in der kommenden Woche seinen Vorstand neu wählen will. Sollten sich dabei seine Gegner durchsetzen, wäre es denkbar, dass die Reform kommt – und Johnson schon eher gestürzt wird.

Labour bräuchte Tories für Sturz Johnsons

Auch die Opposition könnte Johnsons Pläne durchkreuzen: Der Chef der sozialdemokratischen Labour-Partei, Keir Starmer, hatte schon vor Johnsons Erklärung auf einen sofortigen Rücktritt des Premiers gedrängt. Andernfalls hätte seine Partei eine Vertrauensabstimmung im Parlament angestrebt. Dort könnte eine einfache Mehrheit aller Parlamentarier das Ende Johnsons besiegeln.

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Damit ein Labour-Votum Erfolg hat, müssten einige Tories dieses unterstützen. Davor warnt Politikwissenschaftler Glees die Konservativen jedoch: "Für die Tories ist es lebensgefährlich, wenn Labour die Zukunft ihrer Partei bestimmt. Das wäre das Ende."

Das Nachfolge-Problem der Tories

Doch auf welchem Weg Johnson auch aus dem Amt scheidet: Einen Nachfolger zu finden, könnte zum Problem werden. Unter den Tories werden unter anderem Verteidigungsminister Ben Wallace, Außenministerin Liz Truss und Handelsministerin Penny Mordaunt gehandelt. In Umfragen unter den Konservativen führt Verteidigungsminister Wallace.

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Doch Politologe Glees glaubt nicht, dass Wallace dem Wählerwillen standhalten könnte. "Wenn es zu Wahlen kommt, ist die Außenpolitik völlig unwichtig." Entscheidend seien die steigenden Lebenshaltungskosten, die Inflation, die Streitereien rund um den Brexit – "dass man im Supermarkt kein frisches Obst bekommt", sagt er. "Da hat Ben Wallace nichts zu sagen."

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Glees sieht bei einem anderen Kandidaten größere Erfolgschancen: Michael Gove, Weggefährte Johnsons und Wohnungsbauminister, bis Johnson ihn am Donnerstag feuerte. Das habe ihm geholfen, glaubt Glees. Aber: Gove hat vor Gericht eine einstweilige Verfügung erwirkt, die es britischen Medien untersagt, Fragen zu seinem Privatleben zu stellen. Seitdem ranken sich Spekulationen um persönliche, vielleicht sogar sexuelle Vergehen des Konservativen. "Wir wissen es nicht – und man darf darüber nicht reden in Großbritannien. Aber es schwebt diese große Frage über ihm. Und noch ein Skandalpremier wäre wirklich zu viel."

Hat "Mister Rules" die Regeln gebrochen?

Auch bei der größten Oppositionspartei Labour stand lange ein großes Fragezeichen über dem Parteichef. Gegen Keir Starmer ermittelte die Polizei wegen eines Treffens mit Parteikollegen im April 2021 – "Beergate" nannte das die britische Presse. Nach einem Wahlkampfauftritt saßen die Politiker bei Curry und Bier zusammen – obwohl das Land im Lockdown war. Starmer hatte angekündigt, zurückzutreten, sollte eine Strafe gegen ihn verhängt werden.

"Man sagt über ihn, er sei 'Mister Rules'", so Experte Glees. Der Sozialdemokrat war vor seiner Politkarriere Direktor der britischen Staatsanwaltschaft. "Wenn er gegen die Regeln verstoßen hat, ist er raus." Am Freitag gab Starmer dann jedoch bekannt: Die Polizei verhänge keine Strafe gegen ihn. Glees prophezeite schon zuvor: "So bekommt Starmer wieder mehr Gewicht." Nachhängen könnte ihm "Beergate" wohl dennoch.

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Wenig Interesse an Neuwahlen

Doch damit Starmer überhaupt Premier werden könnte, bräuchte es Neuwahlen – und diese sind zum jetzigen Zeitpunkt unwahrscheinlich. Zwar hatten die Tories unter Johnson erst eine Reform zurückgedreht, sodass die für Neuwahlen notwendigen Kompetenzen vom Unterhaus zum Premier verlagert wurden. Johnson könnte demnach Neuwahlen anstoßen – er und seine Partei dürften daran jedoch wenig Interesse haben.

Denn aktuell sind die Konservativen in einem massiven Umfragetief und mussten bei den Kommunal- und Regionalwahlen im Mai schmerzhafte Verluste hinnehmen, als sie einige traditionelle Hochburgen an die Sozialdemokraten verloren.

Für Labour sieht es allerdings kaum vorteilhafter aus: Zwar schneiden die Sozialdemokraten in den Umfragen besser ab, für eine Mehrheit würde es aber wohl kaum reichen. Denkbar wäre eine von der schottischen Nationalpartei – aktuell die drittgrößte Fraktion im Unterhaus – geduldete Minderheitsregierung. Dafür müsste Labour-Chef Starmer aber wohl ein neues schottisches Unabhängigkeitsreferendum unterstützen. Das hat er bereits ausgeschlossen. Koalitionsregierungen gibt es in Großbritannien üblicherweise nicht. Aber: "In diesem Chaos ist alles möglich", meint Glees.

Doch selbst wenn Johnson oder ein anderer Übergangspremier der Tories tatsächlich Neuwahlen wollen würden, stünde ihm noch ein Hindernis bevor: Die Queen müsste zustimmen und formell das Parlament auflösen. Die Voraussetzung: Es gibt niemanden, der mit einer Mehrheit im Unterhaus regieren könnte. "Die Königin könnte zu Boris Johnson sagen: Die Mehrheit habt ihr, Sie sind das Problem."

Johnson ändert Hochzeitspläne

Die Zukunft Großbritanniens ist somit aktuell eine Gleichung mit vielen Unbekannten. Wenigstens eine konnte am Freitag aus dem Weg geräumt werden. Der britische "Mirror" hatte spekuliert, dass Johnson an seinem Amt festhalten könnte, weil er am 30. Juli seine Hochzeit auf dem Landsitz der Premierministers Chequers feiern wolle. Er und seine Frau Carrie sind seit Mai 2021 verheiratet, konnten damals aber aufgrund der Corona-Regeln nur mit wenigen Gästen feiern. Träte Johnson vor der geplanten Feier zurück, müsste er diese absagen, hieß es.

Am Freitag berichteten dann jedoch mehrere Medien übereinstimmend, die Feier solle an einem anderen Ort stattfinden. Sollten seine Hochzeitspläne wirklich eine Rolle gespielt haben, wäre nun der Weg für Johnson frei, auch als Premier sofort zurückzutreten. So oder so fordert Politologe Anthony Glees: "In den nächsten Tagen muss diese Sache entschieden werden: Entweder er bleibt, oder er geht." Die Hängepartie müsse beendet werden.

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