Fußball-EM als Sommermärchen? Wunder gibt es – aber nicht diesen Sommer
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Beschert uns der Fußball wieder ein Sommermärchen? Hilft er dem Land und der Regierung aus dem Stimmungstief? Nein, die Geschichte von 2006 wiederholt sich nicht. Aber vielleicht die von 2002.
"Mein Leben in der Politik" steht auf dem Titel von Wolfgang Schäubles Erinnerungen. Schäubles Erinnerungen beginnen so: "4. Juli 1954, Bern, Stadion Wankdorf ... Schäfer nach innen geflankt. Kopfball – abgewehrt. Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen – Rahn schießt – Tooooor!" Der Sieg der deutschen Fußball-Nationalmannschaft über Ungarn, schreibt Schäuble, sei das prägende Erlebnis seiner Jugend gewesen. Noch Jahrzehnte später konnte er die Namen der Mannschaft von Sepp Herberger im Schlaf aufsagen.
Das "Wunder von Bern" wurde im Laufe der Jahre zu einer mythischen Gründungserzählung der Bundesrepublik. Nach und nach wurde Schäuble und seinen Zeitgenossen klar, was es bedeutete, dass eine deutsche Fußballmannschaft nicht einmal zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs im sportlichen Wettbewerb gegen die einstigen Feinde antreten durfte. Diese Mannschaft und vor allem ihr Kapitän Fritz Walter standen für Ehrgeiz, Leistungsbereitschaft, Erfolgswillen, aber auch für Bodenständigkeit, Bescheidenheit – und Anstand. Schreibt Schäuble.
Zur Person
Uwe Vorkötter gehört zu den erfahrensten Journalisten der Republik. Seit vier Jahrzehnten analysiert er Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, er hat schon die Bundeskanzler Schmidt und Kohl aus der Nähe beobachtet. Als Chefredakteur leitete er die "Stuttgarter Zeitung", die "Berliner Zeitung" und die "Frankfurter Rundschau". Er ist Herausgeber von "Horizont", einem Fachmedium für die Kommunikationsbranche. Nach Stationen in Brüssel, Berlin und Frankfurt lebt Vorkötter wieder in Stuttgart. Aufgewachsen ist er im Ruhrgebiet, wo man das offene Wort schätzt und die Politik nicht einfach den Politikern überlässt. Bei t-online schreibt er jeden Dienstag seine Kolumne "Elder Statesman".
Es gibt Menschen, die finden, Politik und Fußball hätten nichts miteinander zu tun. Sie wissen entweder nichts vom Fußball oder nichts von der Politik. Oder glauben Sie wirklich, es war reiner Zufall, dass Deutschland ausgerechnet 1990 Weltmeister wurde? In jenem Jahr des Glücks und der großen Gefühle, als zwischen dem Fall der Mauer und dem Vollzug der deutschen Einheit die Nation so sehr mit sich im Reinen war wie niemals zuvor und nie wieder danach. Der Fußball atmet den Zeitgeist, manchmal folgt er ihm, manchmal prägt er ihn.
Zeitlich genau zwischen 1954 und 1990 stand bei der Europameisterschaft 1972 eine Mannschaft auf dem Platz, die ihren eigenen Mythos schuf: die Jahrhundert-Elf. Paul Breitner schritt mit dem Habitus des 68-er Revoluzzers über den Platz, der extravagante Günter Netzer schwebte über das Spielfeld. Ihr Fußball hatte nichts mehr mit der Spielweise der Kriegsgeneration zu tun, ihr Auftritt nichts mit der Adenauer-Ära. In der Politik wagte Willy Brandt mehr Demokratie, auf dem Platz wagte Helmut Schön mehr Freiheit: Der Libero erschien in Person von Franz Beckenbauer, später wurde er Kaiser von Deutschland.
Eine unbefangen-fröhliche Angela Merkel
Zuletzt hat eine deutsche Nationalmannschaft ihrem Land 2014 solche Emotionen geschenkt: 13. Juli, die magische Nacht von Rio. Tom Bartels' TV-Reportage ("Mach ihn! Mach ihn! Er macht ihn! Mario Götzeeee!") ist ein Dokument der Zeitgeschichte, wie die Reportage von Herbert Zimmermann, die der junge Schäuble am Radio hörte. Aber neben dem Siegtor gegen Argentinien in der 113. Minute sind noch andere Bilder im kollektiven Gedächtnis der Deutschen verankert: die unbefangen-fröhliche Angela Merkel, die auf der Tribüne ebenso begeistert wie unbeholfen in die Hände patscht. Merkel in der Kabine mit den Spielern. Und Merkel mit Mesut Özil. Sie war auf dem Höhepunkt ihrer Kanzlerschaft, er war auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Für beide ging's von da an bergab. Merkel wurde erst mit der Flüchtlingskrise, dann mit Corona konfrontiert, Özil wandte sich von ihr ab und dem Sultan Erdoğan im Land seiner Vorfahren zu.
Wie wird die Europameisterschaft im eigenen Land, die in genau einem Monat beginnt? So trüb wie die politische Stimmung? Oder kann sie eine Initialzündung für den Aufbruch in bessere Zeiten bewirken? Die Medien stellen vor allem die Frage, ob ein neues Sommermärchen möglich ist, wie 2006, als die Deutschen entdeckten, dass Patriotismus auch leicht und sympathisch sein kann. Junge Frauen schminkten sich schwarz-rot-gold auf den Wangen, ältere Herren verzierten ihre Autospiegel mit kondomartigen Überzügen in den Nationalfarben. Nach gewonnenen Spielen gab es Autokorsos und Hupkonzerte, so etwas kannte man vorher nur von Türken und Italienern.
Wird 2024 wie 2006? Nein. Der Sommer 2006 wurde märchenhaft, weil niemand damit gerechnet hatte. Deutschland hat sich selbst überrascht, und die ganze Welt gleich mit. Dafür gibt es keinen Reset-Knopf.
Mir drängt sich ein anderer Vergleich auf, politisch und sportlich: mit der Weltmeisterschaft 2002. Da gibt es verblüffende Parallelen.
Zunächst politisch. Damals regierte ein SPD-Kanzler, Gerhard Schröder hatte 16 Jahre Regentschaft von Helmut Kohl beendet. Heute regiert wieder ein SPD-Kanzler, Olaf Scholz, nach 16 Jahren Regentschaft von Angela Merkel. Deutschland steckte damals in der Wirtschaftskrise, war wachstumsschwach und antriebsarm. Die Stimmung im Land war mies, die rot-grüne Koalition hatte rapide an Zuspruch verloren. Sie erkennen die Ähnlichkeiten zu heute. Die internationale Lage war angespannt: Die Anschläge vom 11. September 2001 in den USA hielten die Welt in Atem, der Krieg gegen den Terror begann.
Sportlich den Glauben an sich verloren
Sportlich hatte Deutschland den Glauben an sich selbst verloren. Der letzte große Erfolg lag erst sechs Jahre zurück, die Europameisterschaft 1996. Aber danach folgte ein beispielloser Absturz: eine ganz schwache WM 1998, eine katastrophale EM 2000. Franz Beckenbauer prägte das Wort vom deutschen Rumpelfußball. Innenminister Otto Schily klagte nach einer blamablen Niederlage gegen Rumänien: "Leider haben wir kein Gesetz, das solche Spiele verbietet."
So war es zuletzt wieder: Aus in der Vorrunde bei der Weltmeisterschaft in Russland, Aus in der Vorrunde bei der WM in Katar, dazwischen Aus im Achtelfinale bei der EM. Schlechter Fußball, blamable Politik. Schilys Nachfolgerin Nancy Faeser saß in Katar auf der Ehrentribüne, im ärmellosen Top, mit der One-Love-Binde am Arm. Deutschland 2022: ganz wenig Tore, ganz viel Moral. Leider haben wir kein Gesetz, dass solche Auftritte verbietet.
Bei der Weltmeisterschaft 2002 war Gerhard Mayer-Vorfelder DFB-Präsident. Ein CDU- Politiker, erzkonservativ. "MV" bemängelte, die Jugend von heute, also die von damals, sei verwöhnt und faul, die Jungs wollten sich einfach nicht mehr quälen im Training, sie hätten zu viel Party und Mädchen im Sinn, außerdem würden sie von diesem neuartigen elektronischen Spielzeug verdorben. Die Generation Z, der man heute einen gewissen Mangel an Ambitionen im Job und einen Überschuss an Engagement bei Instagram und Tiktok unterstellt, lag noch in den Windeln.
Aber Mayer-Vorfelder hatte auch Hoffnung für den Fußball und die Gesellschaft. Der Mann, den jeder aufrechte Linke einen Reaktionär nannte, setzte auf die Nachkommen der Migranten. (Er sprach von Gastarbeitern, aber das klingt heute befremdlich.) Jedenfalls hätten die Jungs vom Balkan oder aus der Türkei mehr Biss, mehr Leistungsbereitschaft, meinte er. Wenn die Kamera heute vor dem Länderspiel an der deutschen Mannschaft entlang fährt, sehen wir: Toni Rüdiger, Jonathan Tah, İlkay Gündoğan, Leroy Sané, Serge Gnabry, Jamal Musiala. Ja, die Zeiten haben sich geändert, Deutschland hat sich verändert.
Durch das Turnier gerumpelt
Als Trainer sprang 2002 Rudi Völler ein. Heute ist er wieder dabei, als Sportdirektor, der DFB hat ihn in der Not reaktiviert. Ein gutes Zeichen. Völler hat sich mit der Mannschaft von damals durch das Turnier gerumpelt, plötzlich stand die Elf im Finale. Das verlor sie ohne Chance, aber mit Anstand gegen Brasilien. Und 2024? Egal ob Musiala oder Müller, Gündoğan oder Kroos: Kicken können die Spieler von heute besser als der Jahrgang 2002. Gewinnen müssen sie erst noch. Das Endspiel zu erreichen, wie damals, wäre ein Erfolg.
Wenn es soweit kommt, wird Olaf Scholz auf der Tribüne sitzen. Falls es gut läuft, wird vielleicht ein verschmitztes Lächeln in seinem Gesicht zu erkennen sein. Das sollten Sie dann als Ausdruck überschwänglicher Freude interpretieren. Und als politisches Signal der Marke Scholz: Läuft doch, genau wie in der Ampel.
- Expertise des Autors in Politik und Fußball