ADHS Hyperaktive Kinder: Eltern haben keine Schuld!
Schätzungen zufolge sind etwa drei bis sieben Prozent aller deutschen Schulkinder von ADHS betroffen. Etwas mehr als die Hälfte davon hat auch im Erwachsenenalter noch damit zu kämpfen. Nicht nur bei sich selbst, sondern auch beim Nachwuchs. Oft leiden diese Kinder und ihre Familien unter emotionalen und sozialen Problemen.
Jahrelang wurde ADHS im großen Stil mit Pillen "kuriert", inzwischen aber hat man erkannt, dass ein solches Ruhigstellen nicht die Lösung des Problems ist. Man muss ADHS auf mehreren Ebenen betrachten und behandeln, was Jahre dauern kann. t-online.de hat sich mit Professor Gerhard W. Lauth unterhalten, einem Experten im Umgang mit sozial schwierigen Kindern und Autor zahlreicher Bücher zum Thema ADHS.
Sie sind Professor für Psychologie und Psychotherapie in der Heilpädagogik an der Universität Köln und einer Ihrer Arbeitsschwerpunkte ist die Therapie von Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen bei Kindern und Erwachsenen. Herr Lauth, ist ADHS eigentlich eine Krankheit?
Lauth: Ja, ADHS ist eindeutig als solche definiert. Man hat genaue Kriterien festgelegt, anhand derer sie erkannt werden kann. Dazu zählt beispielsweise das Vorhandensein von Verhaltensweisen, die eindeutig auf Unaufmerksamkeit, Impulsivität und/oder Hyperaktivität hinweisen. Außerdem eine genaue Beschreibung, wie lange diese Probleme schon vorliegen müssen und wie beeinträchtigend sie sein müssen, um darin eine Störung zu sehen.
Eine Irritation gibt es aber immer wieder, wenn Eltern oder Lehrer eine einzelne Verhaltensweise herausgreifen, beispielsweise "ist bei Alltagstätigkeiten häufig vergesslich". Wer könnte das nicht von sich sagen? Dabei wird aber leicht vergessen, dass dieses Merkmal nicht alleine steht, sondern nur innerhalb eines Musters anderer, lang andauernder Verhaltensweisen und innerhalb eines mehrstufigen Diagnoseprozesses auf eine Störung hinweist.
2006 entschied die EU-Kommission nach einem Risikobewertungsverfahren, dass die Ursachen für ADHS derzeit nicht eindeutig feststellbar sind. Die ausschließliche Behandlung mit Methylphenidat (Ritalin) wurde als nicht ausreichend und unsachgemäß bezeichnet. Seit 2010 dürfen nun auch in Deutschland Ritalin und Co. nicht mehr einfach so verschrieben werden.
Was halten Sie von der Einschränkung? Denken Sie, der Verdacht, dass Medikamente dieser Art viel zu schnell und viel zu oft verabreicht wurden, ist richtig?
Lauth: Ja, es gibt den Appell, Medikamente nicht mehr an erster Stelle, sondern anderen therapeutischen Maßnahmen nachgeordnet zu verschreiben. Beziehungsweise dann, wenn es große und krisenhafte Probleme gibt. Das ist sehr in Ordnung, weil man die Erfahrung gemacht hat, dass zu schnell zum Rezeptblock gegriffen wird und andere Maßnahmen weit nachhaltigere und längerfristige Wirkung haben. Beispielsweise ein Training der Eltern oder eine Intervention in der Schule, die dem ADHS-Kind wieder neue Entwicklungschancen öffnet.
Wann ist der richtige Zeitpunkt für die Verordnung eines methylphenidathaltigen Medikaments?
Lauth: Die Verordnung ist ziemlich genau festgelegt: Wenn eine krisenhafte Zuspitzung vorliegt, wenn andere Maßnahmen nicht gegriffen haben, dann ist es auch sinnvoll, Ritalin und ähnliche Medikamente zu verschreiben.
Man ist dazu angehalten, es zuerst auf anderem Wege zu versuchen und nicht gleich auf Medikation zurückzugreifen. Die Richtlinien empfehlen nämlich nicht die Ergänzung, sondern die vorausgehende soziale oder psychologische Beratung. Sie machen auch klare Aussagen darüber, was wirksam ist und was deshalb getan werden sollte: Aufklärung von Kind, Eltern, Lehrern, Elterntraining, Interventionen in der Schule und Therapie mit dem Kind. Erst an fünfter Stelle folgt die Medikation.
Ist es möglich, durch Therapie einen Grund innerhalb der Familie für die Verhaltensauffälligkeiten des Kindes zu finden und sich damit die Einnahme von Medikamenten ganz zu sparen? Oder anders gefragt: Sind wir Eltern schuld?
Lauth: Ja, eine Therapie mit der Familie enthüllt, woran es im Moment hängt und was sich ändern sollte. Das heißt aber nicht, dass die Eltern nun Schuld haben oder dass eine Ursache gefunden wurde. Vielmehr wird eine Verbesserung angestrebt, die aus sich heraus nützlich ist.
Dass die Eltern nicht "ursächlich" schuld sind, kann man schon daran sehen, dass von zwei Kindern oft nicht beide gleichermaßen problematisch sind. Es muss also einen weiteren Grund geben.
Deshalb gehen moderne Ursachenmodelle immer von mehreren Faktoren aus, die erst im Zusammenwirken und im Verlaufe der Zeit ADHS hervorbringen. Dazu gehören biologische Merkmale genauso wie soziale, beispielsweise im Elternhaus, psychologische Merkmale und das Temperament. Zudem müssen noch ungünstige Umstände, wie etwa Stress in der Familie oder mangelnde Einfügung in die Schule dazu kommen. Eine komplizierte Sache also! Leider wollen das viele Menschen einfacher haben und halten an veralteten Ursachekonzepten fest.
Man hört immer wieder, die Ernährung hätte Einfluss auf ADHS. Wie denken Sie darüber?
Lauth: Davon wird viel und immer wieder gesprochen. Wahr ist, dass eine gute und kindgerechte Ernährung schon ein Vorteil in sich ist. Nur wenige Studien legen belastbare Ergebnisse vor, wonach es einen beachtenswerten Zusammenhang zwischen Ernährung und der Entstehung von ADHS gibt. Die Sache ist auch zu kompliziert, als dass eine Ursache alleine eine solche Vielfalt von Schwierigkeiten entstehen lässt. Allenfalls ist Ernährung neben vielen anderen Faktoren an der Entstehung mitbeteiligt. Damit sind wir auch hier wieder beim multifaktoriellen Ursachenmodell.
So gibt es viele Ursachen und viele Therapiebausteine. Einer davon ist das Neurofeedback. Bei diesem Training, bei dem die Gehirnströme über aufgeklebte Mess-Elektroden abgeleitet werden, kann der Betroffene mit der Kraft seiner Gedanken ein Computerprogramm beeinflussen und lernt so, sich zu konzentrieren und sein Verhalten besser zu steuern. Ist diese durchaus erfolgreiche Methode auch für Kinder geeignet?
Lauth: Neurofeedback wandelt sich und wird zu einem ernstzunehmenden Behandlungsansatz. Das liegt daran, dass Neurofeedback sehr an die Probleme und Gehirntätigkeit des Kindes angepasst und neuerdings mit Trainingsmaßnahmen gekoppelt wird. Wenn das fachmännisch gemacht wird, eröffnen sich gute Chancen daraus. Allerdings erfordert die Technik eine recht lange und anstrengende Einübung der Kinder.
Nicht nur Ärzte haben oft Schwierigkeiten mit der Einschätzung der Situation, auch für Lehrer sind ADHS-Kinder nicht immer einfach. Sie bieten unter anderem eine Weiterbildung zum AD(H)S-Berater für Schulen. Wer kommt für so ein Training in Frage und wie hoch ist die Resonanz?
Lauth: Dieses Training wird erfreulich gut angenommen. Es eignet sich für Lehrer, Schulleiter, Beratungslehrer, Lerntherapeuten, Sozialarbeiter, Ergotherapeuten mit besonderen Arbeitsschwerpunkten und auch für Schulpsychologen. Diese Personen sollten ADHS-Kinder in ihrer Schule oder Klasse haben beziehungsweise sie aus einer Praxis heraus betreuen.
Im Bewusstsein von Schulen, Lehrern und der Öffentlichkeit hat sich Vieles in eine ausgesprochen positive Richtung geändert. Niemand verkennt, dass es Schwierigkeiten mit einzelnen Kindern gibt. Alle bemühen sich mehr und konstruktiver um das ADHS-Kind und die Unterstützung der verantwortlichen Lehrer.
Im Rahmen dessen schicken Schulen oder Einrichtungen ihre Lehrer zu solchen Schulungen, durch die man eine bessere Förderung des Kindes oder eine verbesserte und "erfreulichere" Zusammenarbeit mit den Eltern erreichen will. Unsere Erfahrung ist, dass die Lehrer solchen Maßnahmen aufgeschlossen gegenüber stehen. Wie überhaupt ihr Engagement für ADHS-Kinder meistens außerordentlich groß ist.
Professor Lauth, was raten Sie dem Umfeld? Wie sollte es mit einem von ADHS betroffenen Kind umgehen? Und welche Strategien können die Eltern und andere Familienmitglieder entwickeln, um mit den besonderen Bedingungen klarzukommen?
Lauth: Es gibt zahlreiche Ansätze für eine Beratung beziehungsweise ein Training der Eltern. Der einfachste und wirkungsvollste ist, sich die Probleme im Elternhaus genau aufzuschlüsseln. Was passiert eigentlich, wenn die Eltern das Kind nicht ins Bett kriegen? Was, wenn es bei Besuchen immer wieder zu nervigen Auseinandersetzungen mit dem Kind kommt? Aus dieser Analyse werden konkrete Maßnahmen abgeleitet und mit den Eltern eingeübt, wie sie es von nun besser machen können. Solche Maßnahmen sind langfristig wirksam, weil sie auch die Beziehung Eltern-Kind fördern.
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.