Rammstein-Skandal Weshalb viele lieber schweigen
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Die Vorwürfe gegen Till Lindemann erhielten dank des Videos der YouTuberin Kayla Shyx neue Wucht. Es zeigt, was an missbräuchlichen Machtstrukturen wirklich gefährlich wird.
Soziale Netzwerke gelten vielen heute bestenfalls als Orte trivialer Unterhaltung, schlimmstenfalls als geradezu toxisch und schädlich. Dass sie auch ein wichtiges Werkzeug gegen die Mächtigen sein können – man erinnere sich an den Arabischen Frühling –, haben wir längst schon wieder vergessen. Doch manchmal gibt es einen Tweet, einen Insta-Post oder ein YouTube-Video, das diese Kraft wieder aufblitzen lässt.
Die YouTuberin Kayla Shyx hat ein solches Video bei YouTube veröffentlicht. Darin erzählt sie 36 Minuten lang von ihrer Erfahrung auf einem Rammstein-Konzert im vergangenen Jahr. Wie sie zu einer dieser Aftershowpartys bugsiert wurde, über die seit Tagen berichtet wird.
Sie schildert darin nicht nur ihr Erlebnis und, wie sie sagt, die Erlebnisse anderer junger Frauen. Sie erklärt auch sehr nachvollziehbar Machtdynamiken. Nicht nur in Bezug auf die Aftershowpartys. Sie erzählt auch, wie sie schon direkt nach dem Konzert ein Video gedreht hatte und ihr inzwischen ehemaliges Management sie davon abhielt, dieses Video zu posten.
Kayla Shyx' Video ist ein mutiger Schritt – und eine wichtige Stimme
Nun hat sie ein neues gedreht und damit einen sehr mutigen Schritt getan. Ob ihre Aussagen stimmen, ist von außen schwer zu sagen. Ähnlich schwer wäre es aber, einen Grund zu finden, warum sie sich die Geschichte ausdenken sollte. Über einen weiteren, mutmaßlich ähnlich gelagerten Fall hatte It-Girl und Lindemann-Ex-Freundin Sophia Thomalla gesagt, die Vorwürfe seien "frei erfunden von einer Person, die sich auf dem Rücken eines Rockstars für fünf Minuten Ruhm verschaffen möchte". Die YouTube-Videos von Kayla Shyx schauten schon vorher regelmäßig Hunderttausende. Um "fünf Minuten Ruhm" geht es ihr wohl kaum.
Aber was nun soll an ihrem jüngsten Video mutig sein, fragen Sie sich vielleicht? Hier ein kurzer Schwank aus meinem Leben.
Vor etwa sechs Wochen saß ich zusammen mit einer Reihe anderer Menschen meines Alters, vor allem Frauen, bei einer Informationsveranstaltung. Eine Stunde würde sie dauern, hatte es vorher geheißen. Es wurden zweieinhalb. Weil der Referent sich in Details verlor und anscheinend selbst sehr gerne reden hörte. Es war überflüssig, es war nervig, es war nach Feierabend. Es war verschwendete Zeit.
Aber niemand von uns sagte etwas.
Vergangene Woche nun saß ich mit einigen der Frauen, die an diesem Abend ähnlich gelitten hatten wie ich, zusammen. Wir kamen noch mal darauf zu sprechen, und eine meiner Bekannten, nennen wir sie Karin, sagte zu mir: "Ach, Nicole, ich hatte mich so darauf verlassen, dass du irgendwann aufstehst und sagst: 'Es reicht jetzt.'"
Die Fernsehjournalistin Nicole Diekmann kennt man als seriöse Politikberichterstatterin. Ganz anders, nämlich schlagfertig und lustig, erlebt man sie auf Twitter – wo sie über 120.000 Fans hat. Dort filetiert sie politische und gesellschaftliche Aufreger rund ums Internet. Ihr Buch "Die Shitstorm-Republik" ist überall erhältlich, ihr Blog findet man hier. Außerdem ist sie Co-Host des Podcasts "Gegen jede Überzeugung".
Das hatte ich nicht getan. Ich bin zwar oft diejenige, die aufsteht und sagt, dass es jetzt reicht. Aber ich kann berichten: Spaß macht das nicht. Man ist die Nervensäge. Die Querulantin. Viele Leute berührt das unangenehm. Und das lassen sie einen auch wissen, direkt oder indirekt. Ich bin 45, kenne meine Kapazitäten, ich überlege mir lieber vorher, für was sich der Aufwand lohnt und für was nicht. Dieses Mal habe ich also nichts gesagt. Karin auch nicht. Karin sagt nämlich nie was. Dafür ist sie viel zu unsicher. Karin ist Ende 30.
So. Und nun stellen Sie sich mal vor, Sie sind 18 Jahre alt. Sie schwärmen für den Sänger einer Band. Mit 18 schwärmt man ja noch. Und mit 18 sind Anerkennung von außen, Aufwertung von außen noch viel, viel wichtiger für das Selbstbewusstsein als mit 45 oder Ende 30. Man sucht sich noch und seinen Platz in der Welt.
So sind Sie also, und Sie sind auf dem Konzert dieser Band. Und werden freundlich von einer Frau eingeladen, an einer Aftershowparty teilzunehmen. Von der sich erst nach und nach herausstellt, dass es eine speziell für diesen Sänger ist. Sie werden in einen kleinen Raum geführt, nachdem Sie Ihr Telefon abgeben mussten. In diesem kleinen Raum stehen zwei Couchs, darauf sitzen andere junge Frauen, es gibt viel Alkohol.
In der realen Welt hält man lieber den Mund – aus Angst
An dieser Stelle ist es egal, wie der Abend für Sie weitergeht. Nicht für Ihr Leben, für Ihr Seelenheil. Aber für diese Geschichte. Es ist egal, ob Sie mit dem Sänger ins Bett gehen. Einvernehmlich oder womöglich nicht. Ob Sie einen Filmriss erleiden, am nächsten Morgen aufwachen mit blauen Flecken, deren Herkunft sie nicht kennen. Es ist, ich wiederhole es gerne: egal.
Denn wenn Sie am Tag drauf, in der nächsten Woche, im nächsten Monat oder von mir aus auch erst im nächsten Jahr das Gefühl beschleicht, dass das nicht klug war, überhaupt hinzugehen, dass es nicht gut war, was da passiert ist, dass Sie nicht gut behandelt worden sind, dann müssen Sie das sagen dürfen. Weil Frauen kein Fleischprodukt sind, mit dem irgendjemand Hungriges und Mächtiges beliefert wird.
So wäre es zumindest in einer idealen Welt.
In der realen Welt halten Sie vielleicht lieber den Mund. Denn es kann sein, dass man Ihnen nicht glaubt. Oder dass es heißt, Sie seien ja selbst schuld an Ihrem schlechten Gefühl. Schließlich sind Sie ja hingegangen. Und was bei Rockkonzerten hinter den Kulissen los ist, das wisse man ja wohl.
Wer laut wird, droht lächerlich gemacht zu werden
Ihnen droht, als dumm oder zumindest naiv lächerlich gemacht zu werden. Oder als jemand, die sich eine Geschichte ausdenkt, um damit berühmt zu werden. Das alles kann Ihnen passieren. Zu Ihrer eigenen Scham und Verletztheit, kommt dann noch hinzu, dass andere Sie beschämen. Deshalb schweigen sie lieber. Und das ist die alte, bestürzende Geschichte hinter der konkreten, neuen: Dass man im Jahre 2023 immer noch betonen muss, dass jeder Mensch das Recht hat, dumm oder naiv zu sein. Niemand jedoch das Recht, irgendjemanden zu missbrauchen.
Es kann aber auch anders laufen. Es kann sein, dass sich eine vorwagt. Aufsteht. Ihre Geschichte publik macht. Und andere direkt oder indirekt ermutigt, es ihr gleichzutun. Dann wird es immer schwieriger, sie der Lüge zu bezichtigen.
Und da kommen die sozialen Medien ins Spiel. Die in den vergangenen Tagen mal wieder zeigen, wie gut sie sein können.
Dort kann man auch erst mal anonym erzählen, was einem widerfahren ist. Da melden sich, so wie in den vergangenen Tagen, erfahrene Journalisten zu Wort. Die solche Geschichten kennen. Und wissen, wie man mit potenziellen Opfern spricht – ohne dass diese ihre Identität preisgeben müssen. Oder ihre Würde. Auch nicht ganz unwichtig.
"Die Person, die die Scheiße macht, ist immer noch die schuldige"
"Meine DMs sind offen", liest man in Tweets solcher Journalisten jetzt. Was bedeutet: "Ihr könnt mir eine Direktnachricht schicken. Nur ich lese sie. Ihr müsst Euch nicht vor Publikum entblößen."
Und es gibt einen weiteren, nicht zu verachtenden Effekt dieser sozialen Medien. Derlei Stuss wie oben geschrieben, wonach man ja selbst schuld ist, wenn man mitgeht und dann missbraucht wird – er wird dort zwar auch verbreitet, aber auch als solcher benannt. Denn so etwas ist natürlich Unsinn. Oder um es mit den Worten von Kayla Shyx zu sagen: "Die Person, die die Scheiße macht, ist immer noch die schuldige."
Schuldig, das ist an dieser Stelle wichtig, ist in diesem Text keine Kategorie im juristischen Sinne. Es gilt die Unschuldsvermutung natürlich auch für Till Lindemann. Und auch deshalb ist das Video von Kayla Shyx so wichtig: Sie listet darin eine Menge anderer Frauen auf, die sich, wie sie sagt, an sie gewendet haben.
Spätestens dieses Video sollte den Ausschlag geben für Ermittlungen. Die ja sicherlich auch im Interesse von Rammstein liegen.