Zeitenwende in der Formel 1 Totgesagte leben länger
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Noch vor wenigen Jahren wirkte die Formel 1 wie ein Auslaufmodell. Jetzt ist sie so beliebt wie kaum zuvor. Was ist passiert?
Junge, beliebte Fahrer, ausverkaufte Rennstrecken, Rekordumsätze: Die Formel 1 erlebt zurzeit einen Boom. Selten wurde die sogenannte Königsklasse des Motorsports ihrem Namen so sehr gerecht wie aktuell. Über fünf Millionen Zuschauer pro Jahr an den Strecken, die neben den Rennen rauschende Fan-Feste feiern. Auch in zuvor schwierigen Märkten wie den USA entsteht ein regelrechter Hype mit neuen Strecken. Große Marken wie Audi oder Ford haben schon ihren Einstieg verkündet, weitere Bewerber wollen es ihnen gleichtun.
Die Entwicklung der jüngsten Jahre ist bemerkenswert – denn sie ist keineswegs selbstverständlich. Vor gar nicht allzu langer Zeit wirkte die Formel 1 nämlich noch wie ein Auslaufmodell. Laute Motoren, die CO2 in die Umwelt pusten und dabei nicht nur Kraftstoff, sondern auch Geld ohne Ende verbrennen – das Konzept schien aus der Zeit gefallen. Große Autohersteller zogen sich reihenweise aus dem Sport zurück. Nun die Trendwende. Die neuerliche Erfolgsstory der Formel 1 ist vor allem ein Verdienst der neuen Besitzer – und einer Dokumentation, die zum Internethit wurde.
Höher, schneller, weiter
Ein Blick zurück: Bis ins Jahr 2017 hielt Bernie Ecclestone als CEO der Formel 1 die Zügel der Rennserie fest in der Hand. Ecclestone war in unterschiedlichen Funktionen schon seit den 1950er-Jahren in der Formel 1 aktiv. Vom Fahrer und Fahrer-Manager stieg er zum Teambesitzer und schließlich zum Chef der Rennserie auf.
Doch der alte Ecclestone stand symbolisch für ein Problem, das die Formel 1 zunehmend zu plagen begann: Genau wie ihr Chef schien die Rennserie ein Relikt aus einer vergangenen Zeit. Die Formel 1, die 1950 in die erste Saison ging, wurde in einer Welt groß, die sich nicht um Umweltthemen scherte. Die Teams verbrauchten massenhaft Ressourcen, ohne sich über die Konsequenzen Gedanken zu machen. Das Prinzip stand sinnbildlich für die Entwicklung im kapitalistischen Westen der Nachkriegszeit: höher, schneller, weiter.
Die Formel 1 in der Krise
Dabei unterschied und unterscheidet sich die Formel 1 in einem Punkt wesentlich von nahezu allen anderen Unternehmen. Denn in der Rennserie versucht niemand, Gewinn zu machen. Formel-1-Teams reinvestieren jeden Cent, den sie einnehmen, in die Weiterentwicklung der Autos – wer es sich leisten kann, gibt sogar noch mehr aus.
Für die großen Marken wie Ferrari oder Red Bull war die Formel 1 seit jeher eine Marketingveranstaltung, die am besten funktioniert, wenn sie sportlichen Erfolg haben – und für den nehmen sie auch ein Minus in Kauf. Bis zur Saison 2021 die Budgetobergrenze von 140 Millionen Dollar eingeführt wurde, gaben die größten Teams gerne auch mal über 400 Millionen Euro pro Saison aus.
Die Verschwendung passte ohnehin schon nicht mehr in die Zeit, da brach im Jahr 2008 die Finanzkrise über die Welt herein. Auf einmal waren selbst große Marken wie Honda, BMW oder Toyota nicht mehr bereit, das große Geldverbrennen zu finanzieren und zogen sich mit ihren Teams aus der Rennserie zurück. Das Imageproblem der Formel 1 war perfekt.
Neue Besitzer, neues Glück
Die Wende leitete die Formel 1 im Jahr 2017 ein. Das US-amerikanische Unternehmen Liberty Media kaufte die Rennserie. Ecclestone wurde als CEO abgelöst und die neuen Besitzer warfen die Marketingmaschine an. Mit dem Versprechen, die Rennserie bis 2030 klimaneutral zu machen, soll Kritikern der Wind aus den Segeln genommen werden.
Nach und nach sollen die ohnehin seit 2014 hybrid betriebenen Motoren auf synthetische, klimaneutrale Kraftstoffe umgestellt werden. Nur die Autos klimaneutral zu betreiben, reicht jedoch noch lange nicht aus. Die Formel 1 transportiert das ganze Jahr über Tausende Menschen und etliche Tonnen Material um den ganzen Planeten. Wie das in Zukunft klimafreundlich geschehen soll, ist noch offen.
Netflix bringt den Durchbruch
An anderer Stelle haben die neuen Besitzer allerdings schon jetzt ganze Arbeit geleistet. Seit 2018 produziert der Streamingdienst Netflix eine Dokumentationsreihe unter dem Namen "Drive to Survive". Dabei begleitet ein Kamerateam Teams und Fahrer über den Verlauf einer kompletten Saison. Anfang 2019 ging die erste Staffel an den Start und erzählte in insgesamt zehn Folgen die Geschichte der vorangegangenen Saison aus unterschiedlichsten Perspektiven.
Die Dokumentation wurde zum Hit, 2023 läuft nun bereits die fünfte Staffel. Dabei ist die Faszination recht simpel erklärt: Die Doku gewährt einen zuvor nicht dagewesenen Blick hinter die Kulissen – und dort gibt es einiges zu sehen: Teamchefs im Clinch, die versuchen, den Erfolg des eigenen Teams zu maximieren und die anderen Teams zu sabotieren. Darüber hinaus: bittere Rivalitäten zwischen einzelnen Fahrern, teils gar zwischen Teamkollegen.
Das Drama Formel 1
"Die Formel 1 liefert ja so viele Dramen, die passen in keinen Film. Da braucht man gar nicht viel dazutun, um es interessant zu machen", berichtet auch Ex-Williams-Teamchef Jost Capito im Interview bei t-online (das ganze Gespräch lesen Sie hier).
Der Blick hinter die Kulissen sorgt auch für Drama, wenn es sportlich auf der Rennstrecke eintönig zugeht. Ein ganz wichtiger Aspekt darüber hinaus: Die Zuschauer lernen die Fahrer besser kennen, die sonst anonym unter Helmen in ihren Boliden stecken.
"Auch die Fahrer sind Charaktere, gute Typen", sagt Capito. "Das ist erst durch 'Drive to Survive' wirklich an die Öffentlichkeit gekommen. Davor war es schwierig bis unmöglich, mal hinter die Kulissen zu schauen und die Persönlichkeiten kennenzulernen. Es ist nun mal so: Im Training und im Rennen haben die Fahrer ihre Helme auf, man kann kein Gesicht sehen."
Fahrer werden zu Superstars
Einzelne Fahrer, wie etwa der Australier Daniel Ricciardo, wurden durch die Serie zu regelrechten Superstars. Regelmäßig ist es Ricciardo, der eine neue Staffel der Serie auch in den größten US-Talkshows, wie jüngst der "Late Show", bewirbt. Dabei hat der 33-Jährige in diesem Jahr nicht mal mehr ein Stammcockpit in der Formel 1.
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Aufgrund seiner großen Beliebtheit bei Fans und Sponsoren holte ihn das Weltmeister-Team Red Bull, für das Ricciardo bereits von 2014 bis 2018 an den Start ging, jedoch als hauseigenen "Promotional-Fahrer" zurück. Als solcher darf er unter anderem bei Werbeevents für die angemessene Show im Formel-1-Wagen sorgen.
Größere und diversere Fanbase
Diese Entwicklung wäre nicht ohne die zahlreichen neuen Fans möglich, die durch die Dokumentation auf die Formel 1 aufmerksam wurden. "Auch dank 'Drive to Survive' ist das Interesse besonders in der jungen Fangruppe enorm gestiegen", berichtet Capito. "Ganz speziell bei weiblichen Zuschauern ist der Zuwachs stark. Man erfährt mittlerweile viel mehr über unseren Sport, als dass nur Autos im Kreis fahren", so Capito weiter.
In der Tat hat die Formel 1 ein jüngeres und diverseres Publikum als noch vor wenigen Jahren. Eine vom "Motorsport Network" und der Formel 1 im Jahr 2021 gemeinsam durchgeführte Umfrage ergab: Die Fans sind im Schnitt vier Jahre jünger als 2017. Zudem hat sich der Frauenanteil von zehn auf 18,3 Prozent fast verdoppelt.
Exemplarisch dafür steht der Mexiko-GP. Das Rennen meldete schon 2019 einen Zuwachs von 30 Prozent bei den Zuschauerinnen an der Rennstrecke. Auch Veranstalter Alejandro Soberón sagte damals: "Wir sind davon überzeugt, dass dabei die Netflix-Serie über die Formel 1 eine ganz elementare Rolle gespielt hat." Und weiter: "Netflix hat die tolle Story der Formel 1 aus einer ganz frischen Perspektive gezeigt und die Menschlichkeit in den Mittelpunkt gestellt, nicht die Technik. Das scheint zu wirken."
"Netflix-Serie war wie ein Turbo"
Zuvor habe der Sport "unnahbar und elitär wirken können", so Soberón. Netflix habe gezeigt: "Das ist ein Sport zum Anfassen, mit einer atemberaubenden Weltraumtechnik und diesen Irren, die mit diesen Autos 300 Sachen fahren. Aber wer in diesem Zirkus arbeitet, ist eben kein Außerirdischer, sondern das sind alles Menschen, und die Serie hat es geschafft, die Leidenschaft dieser Menschen zu zeigen, ihre Gefühle, ihre Sorgen und ihre Freude." Er bekundet: "Für den Mexiko-GP war die Netflix-Serie wie ein Turbo."
Auch insgesamt macht sich das gesteigerte Faninteresse an den Rennstrecken bemerkbar. Immer mehr Rennen sind ausverkauft. Für die Saison 2022 meldete "Liberty Media" eine Gesamtbesucherzahl von 5,7 Millionen Zuschauern auf den Tribünen. Regelmäßig wird der Zuschauerrekord eines Wochenendes gebrochen. Jüngst kamen beim Großen Preis von Australien an den drei Tagen 444.631 Besucher an die Strecke – so viele wie nie zuvor an einem Formel-1-Wochenende. Auch immer mehr Teams wollen in die Formel 1 einsteigen. Mit Audi wird eine große Marke ab 2026 im Feld vertreten sein. Auch Ford wird die Teams künftig zumindest mit Motoren versorgen. Andere Bewerber wie unter anderem Cadillac stehen Schlange.
Formel 1 macht Rekordgewinne
Junge Fahrer mit Starpotenziel und eine junge, diversere sowie äußerst aktive Fangemeinde: Es sind Faktoren, die die Formel 1 so attraktiv machen wie nie zuvor. Der Pool der Werbepartner vergrößert sich stetig. Auch die Antrittsgebühren, die die Betreiber der Rennstrecken für ein Gastspiel der Formel 1 zahlen müssen, können die Bosse um den aktuellen CEO Stefano Domenicali weiter erhöhen.
Entsprechend freut sich die Formel 1 über Rekordeinnahmen. Seit der Übernahme durch Liberty Media und der Einführung von "Drive to Survive" steigen die Zahlen – mit Ausnahme des Corona-Jahres 2020 – kontinuierlich. Während 2017 Einnahmen von 1,78 Milliarden Dollar zu Buche standen, waren es in der vergangenen Saison 2,57 Milliarden Dollar.
Neuer Markt USA
Das liegt auch daran, dass die neuen US-amerikanischen Besitzer erfolgreich ihren Heimatmarkt erobert haben. Für die europabasierte Formel 1 waren die USA stets ein schwieriger Markt. Motorsportbegeisterte US-Amerikaner gucken traditionell eher die einheimischen Rennserien Nascar und Indy Car.
Entsprechend schwer hatte es die Formel 1. Zahlreiche Austragungsorte für den US-Grand-Prix wurden ausprobiert, keiner mit wirklichem Erfolg. Nach dem Rennen im Jahr 2005, zu dem aufgrund von Problemen mit den Reifen nur sechs Autos auf dem legendären Kurs in Indianapolis antraten, war der Ruf der Rennserie in den Staaten endgültig ruiniert. Nach der Saison 2007 wurde das US-Rennen gänzlich aus dem Kalender gestrichen.
Drei Rennen in den USA
Seit 2012 fand zwar wieder ein Rennen im texanischen Austin statt, doch den Durchbruch brachte auch in den USA erst die Netflix-Dokumentation. Auf einmal schoss das Zuschauerinteresse in die Höhe und setzte eine rasante Entwicklung in Gang. Neben dem Grand Prix in Austin kam zur vergangenen Saison ein Rennen in Miami hinzu, das rund um das Stadion des dort beheimateten Football-Teams ausgetragen wird. In dieser Saison erhalten die USA bereits ein drittes Rennen: Auf einem Stadtkurs werden die Boliden durch die Straßen der Metropole Las Vegas rasen.
Die rasante Entwicklung in den USA steht sinnbildlich für das Wachstum der ganzen Rennserie. Schaffen es die neuen Besitzer nun tatsächlich, die Formel 1 klimaneutral und damit zukunftssicher zu machen, steht einem weiteren Wachstum nichts im Wege. Doch schon jetzt haben sie bewiesen: Totgesagte leben länger.
- auto-motor-und-sport.de: "Teams kassieren mehr Geld"
- Interview mit Jost Capito
- statista.com: "Einnahmen der Formel 1 in den Jahren 2016 bis 2022"
- auto-motor-und-sport.de: "La-Ola-Welle auf den Tribünen"
- youtube.com: "Formula 1, explained for rookies" (Englisch)
- speedweek.com: "Frauen-Power in Mexiko: 30 % mehr weiblich Fans!"
- motorsportnetwork.com: "Formula 1 in 2021, Global fan insight into the world's largest annual sportin series (2005-2021)" (Englisch)