Kreml-Expertin Catherine Belton "Möglicherweise ist Putin zu weit gegangen"
Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.An der Front befindet sich Russlands Armee im Vorteil, auch im Inneren des Landes muss sich Wladimir Putin keine Sorgen machen. Oder doch? Expertin Catherine Belton erklärt, woher Putins momentane Stärke stammt und warum man im Kreml trotzdem beunruhigt ist.
Russland stark und den Westen schwach machen – dieses Ziel verfolgt Wladimir Putin mit skrupellosem Ehrgeiz. Seine Strategie scheint aufzugehen: Die Ukraine befindet sich in der Defensive, der westliche Rückhalt schwindet. Doch Russland darf diesen Krieg nicht gewinnen, fordert Catherine Belton, führende Russland-Expertin und Autorin des Bestsellers "Putins Netz".
Wie sucht Russland unentwegt nach Schwachstellen in Deutschland und anderen westlichen Nationen? Weshalb ist Putins Macht derzeit auf einem Höhepunkt? Und warum könnte ihm der Tod seines größten Gegners Alexej Nawalny noch gewaltige Probleme bereiten? Diese Fragen beantwortet Catherine Belton im Gespräch.
t-online: Frau Belton, wie sicher ist Wladimir Putins Herrschaft im Augenblick?
Catherine Belton: Putin ist im Moment sehr mächtig. Ganz anders als noch vor gut einem Jahr – damals war Putin mit einer Menge Dissens konfrontiert. Die Hardliner forderten, dass der Krieg gegen die Ukraine noch aggressiver geführt werden müsse. Die Progressiven waren hingegen der Meinung, dass der ganze Krieg ein katastrophales Abenteuer sei und Putin einfach damit aufhören solle.
Die lauteste Stimme der Kritik war Jewgenij Prigoschin, der im Juni 2023 mit seinen Wagner-Söldnern gegen die russische Militärführung rebelliert hatte. Zwei Monate später starb er dann bei einem ominösen Flugzeugabsturz.
Besagte zwei Monate lang sah es tatsächlich so aus, als wüsste Putin nicht so recht, was er mit dem Söldnerführer anfangen sollte. Dieser Zustand fand dann sein schnelles Ende, als Prigoschins Flieger vom Himmel stürzte. Das war ein Signal an jeden, der sich gegen Putin stellen wollte.
Sie besitzen tiefe Einblicke in das russische Regime und haben mit "Putins Netz" einen Bestseller darüber geschrieben: Wagt es niemand mehr, Putin und seine Entourage zu kritisieren?
Vor nicht allzu langer Zeit sprachen Mitglieder der russischen Elite noch im privaten Rahmen darüber, dass Putin ersetzt werden könnte, sollte es zu weiteren schweren militärischen Niederlagen und Gebietsverlusten in der Ukraine kommen. In der russischen Elite hat sich die Stimmung seitdem aber völlig verändert. Das liegt zum einen an Prigoschins zur Vorsicht gemahnendem Tod, aber auch an der Tatsache, dass sich die ukrainische Gegenoffensive im vergangenen Jahr als ziemlich zahnlos erwiesen hat.
Catherine Belton, Jahrgang 1973, ist investigative Journalistin und Russland-Expertin. Für die "Financial Times" hat Belton über Jahre aus Moskau berichtet, mittlerweile arbeitet die Britin für die "Washington Post". 2020 erschien Beltons Buch "Putins Netz. Wie sich der KGB Russland zurückholte und dann den Westen ins Auge fasste" im englischen Original. Auf dem Klageweg versuchten mehrere russische Oligarchen und Unternehmen, eine Zurückziehung zu erreichen. Medien wie "The Economist" kürten "Putins Netz" zum Buch des Jahres, 2022 kam die deutsche Übersetzung heraus.
Die Frühjahrsoffensive wurde mit Erwartungen überfrachtet, insbesondere in den westlichen Staaten. War es naiv, mit einem Durchbruch der russischen Linien zu rechnen?
Der Westen war viel zu zaghaft, die Ukraine mit den dafür notwendigen Waffen zu versorgen. Zwölf Brigaden, die eine rund 1.000 Kilometer lange Frontlinie ohne ausreichende westliche Ausrüstung und Bewaffnung durchbrechen sollten? Diese Vorstellung ist völlig verrückt. Nun befinden sich die russischen Streitkräfte im Vorteil – und die russische Elite steht gerne auf der Seite der Gewinner.
- Tagesanbruch: Halbblinde deutsche Entscheider werden zum Risiko
Die westlichen Staaten wirken hingegen zerstritten bis gelähmt. Wie sieht uns die russische Elite?
Wenn diese Leute den Westen betrachten, sehen sie Schwäche und Unordnung. Die extreme Rechte befindet sich in Europa im Aufschwung, in den Vereinigten Staaten könnte Donald Trump wieder an die Macht kommen. Der US-Kongress ist bereits jetzt blockiert, was die amerikanische Hilfe für die Ukraine angeht. Der obendrein die Munition ausgeht. Im Moment gibt es keinen Grund für die russische Elite, Putin zu kritisieren oder mit ihm unzufrieden zu sein. Zumal er noch lange nicht fertig ist.
Worin besteht sein endgültiges Ziel?
Putin glaubt, dass er die Weltordnung neu gestalten kann. Russland hat seine Bündnisse mit China, Iran und Indien, mitsamt der russischen Elite denkt Putin, dass dies ein Block ist, der den Westen ersetzen wird. Denn er sieht, wie schwach wir sind. Niemand sollte vergessen, dass das russische Regime ausdrücklich dem "kollektiven Westen" den Krieg erklärt hat. Das ist kein Zufall, Putin geht es um mehr als die Ukraine.
Das russische Regime droht immer wieder mit Atomschlägen – sollten sich die westlichen Regierungen davon einschüchtern lassen?
Warum sollte uns Putin mit Atomwaffen angreifen? Die bloße Drohung damit reicht doch bereits, um die westlichen Führer derart zu erschrecken, dass sie nicht ausreichend Waffen an die ukrainische Armee liefern. Putin wird uns also nicht nuklear attackieren, das ist nichts weiter als ein Bluff. Großbritannien und Frankreich haben der Ukraine Marschflugkörper vom Typ Storm Shadow und Scalp geliefert. Was ist passiert? Nichts. Putin ist sicherlich kein Selbstmörder, aber sehr gewieft darin, unsere Ängste und Schwächen auszunutzen.
In Deutschland tobt ein Streit über die Lieferung von Taurus an die Ukraine, zuletzt sorgte ein von Russland abgehörtes Gespräch von Offizieren der Luftwaffe über das Waffensystem für Aufruhr. Meinen Sie das mit Schwächen?
Da ist ein Beispiel. Die Russen überwachen und studieren uns genau. Im Zuge meiner Tätigkeit für die "Washington Post" haben wir Einsicht in Dokumente des Kremls bekommen, die zeigen, wie das Team des Ersten stellvertretenden Chefs der Kremlverwaltung, Sergei Kirijenko, etwa politische Spin-Doktoren, Beamte der UN sowie deutsche und französische Medien überwacht: Sie suchen nach Schwachstellen.
Wie genau werden diese Schwachstellen ausgenutzt?
Vor allem in Form von Kampagnen in den sozialen Medien. Dort werden sie auch verstärkt, um Uneinigkeit zu erzeugen. Die Gesellschaft soll gespalten und polarisiert werden. Das Luftwaffenleak hat dieses Ziel noch einmal demonstriert: Viele Deutsche sind seitdem verunsichert und verängstigt, weil die Russen das abgehörte Gespräch im Zuge ihrer Propagandakampagne zum rechten Zeitpunkt innerhalb der Taurus-Debatte veröffentlicht haben. Damit ist Taurus für die Ukraine unwahrscheinlicher – dies ist zumindest das Ziel Russlands.
Wie wichtig ist neben den Kampfhandlungen an der Front diese Art der Kriegsführung für Russland?
Der Kreml nimmt das fast so wichtig wie die militärische Kampagne, für die Russen ist es eine zweite Front. Warum auch nicht? Derartige Einflusskampagnen untergraben die Unterstützung für die Ukraine, spalten und zerstören Demokratien im Westen. Für Putin und seinen innersten Kreis zahlt sich das doppelt aus: Die russische Elite glaubt mittlerweile, dass seine Strategie, den Westen zu zermürben, funktioniert.
Wer gehört zu Putins innerstem Kreis?
Da wäre an erster Stelle Nikolai Patruschew zu nennen. Patruschew ist Chef des Sicherheitsrates und geradezu die Verkörperung des Kampfes gegen den Westen. Stets hat er darauf gedrängt, die globale Machtposition Russlands wieder zu stärken. Nicht durch die Schaffung einer wettbewerbsfähigen Wirtschaft, sondern durch die Unterminierung der sogenannten Rivalen im Westen. Und Patruschew ist immer noch sehr, sehr einflussreich.
Das klingt, als wenn andere Männer ebenfalls an Macht und Einfluss gewinnen?
Seit Kriegsausbruch 2022 ist das Ansehen des schon erwähnten Sergej Kirijenko exponentiell gestiegen. Kirijenko bekleidet die Position eines Ersten stellvertretenden Leiters der Präsidialadministration, vor Kriegsbeginn war er für die Überwachung der Innenpolitik in Russland zuständig – ein enorm wichtiger Posten.
Weil Kirijenko bei Regionalwahlen Ergebnisse zu "liefern" hatte, die dem Kreml gefielen?
Genau. Nach Beginn der Vollinvasion hat Kirijenko seinen Aufgabenbereich erheblich ausgeweitet. Wir von der "Washington Post" haben uns Dokumente angesehen, die das belegen: Er hat das Ressort übernommen, das Propaganda- und Einflusskampagnen in Europa durchführt. Eine Personalie, die durchaus logisch ist: Kirijenko verfügte bereits über ein erfahrenes Team, das es gewohnt war, Wahlen in Russland im Sinne Putins abzuhalten. Nun manipulieren sie Menschen über die Grenzen Russlands hinaus.
Was treibt Kirijenkos Abteilung konkret?
Kirijenko und seine Leute – ergänzt durch weitere Experten – operieren im europäischen Medienbereich: Die Verbreitung von Fake News gehört dazu, auch das Anheizen von subversiven Kampagnen, selbst das Fälschen von Webseiten wie der französischen Zeitung "Le Monde" oder des französischen Außenministeriums. Bei Putin scheint Kirijenko hoch im Kurs zu stehen, auch unterhält er wohl enge Verbindungen zu den Sicherheitsdiensten.
Putin unterhält wiederum eine enge Verbindung zum Medienmogul Juri Kowaltschuk, der als eifriger Verfechter des Krieges gegen die Ukraine gilt. Welche Rolle spielt er?
Putin kennt Kowaltschuk schon seit seiner Zeit in St. Petersburg in den Neunzigerjahren. Während der Corona-Pandemie hat sich Putin dann zusammen mit Kowaltschuk in seiner Residenz in Waldai verkrochen, wie wir durch Geheimdienstoffiziere erfahren haben.
Gerade in dieser Zeit der Isolation soll sich Putin radikalisiert haben. Was ist Ihre Einschätzung?
Putin und Kowaltschuk haben in der Isolation Geschichtsbücher durchforstet – und anscheinend gehörte Kowaltschuk zu denjenigen, die Putin zum Krieg gegen die Ukraine überredet oder ihm einen solchen Schritt zumindest nahegelegt haben. Wie anekdotische Äußerungen von hochrangigen Geheimdienstoffizieren zeigen, glaubt Kowaltschuk genau wie Putin daran, dass die Ukraine ein Teil Russland sei.
Putin hat seine entstellte Sichtweise der Geschichte immer wieder dargelegt, zuletzt im vergangenen Februar während eines Interviews mit dem ultrarechten US-Moderator Tucker Carlson. Glaubt Putin wirklich, was er behauptet?
Er tut es wirklich, fürchte ich. Das ist eine weitere der vielen Tragödien im Rahmen der Pandemie: Putin saß in seiner Residenz, allein und isoliert, nur Kowaltschuk bei sich. Die Isolation war sehr, sehr streng, wir wissen, dass damals selbst ein Igor Setschin …
… ein enger Vertrauter Putins und Chef des staatlichen Ölkonzerns Rosneft …
… zwei Wochen in Quarantäne verbringen musste, bevor man ihn zu Putin vorließ. Putin hatte kaum Zugang zu gemäßigteren Menschen, möglicherweise steigerte er sich zusammen mit Kowaltschuk in einen paranoiden Zustand über angebliche feindliche Absichten des Westens gegenüber Russland hinein. Zusammen haben sie dann ihre eigene Version der Geschichte kreiert.
Gibt es weitere Schlüsselmomente, die Aufschluss über Putins Psyche und seine Rachegelüste bieten?
Putin gibt sich in der Regel verschlossen, aber im Jahr 2000 erschien ein Buch mit Interviews von ihm darin. An einer Stelle schildert Putin recht authentisch, wie er im Herbst 1989 nach dem Fall der Berliner Mauer in Dresden in der KGB-Villa saß, die von Demonstranten umzingelt war.
Putin forderte Verstärkung von der in der Nähe befindlichen sowjetischen Militärbasis an.
Was aber geschah? Der zuständige Offizier antwortete, dass sie nichts tun könnten, solange kein Befehl aus Moskau vorliege. Aber Moskau schwieg. Für Putin war das eine persönliche Demütigung, aber auch ein Moment der Erkenntnis, wie schwach die Sowjetunion geworden war. Seiner Ansicht nach waren Macht und Einfluss einfach aufgeben worden. Beispiele der russischen Ohnmacht folgten dann noch viele.
Haben Sie ein Beispiel?
Zu Beginn seiner Präsidentschaft war Putin sicherlich offener für ein Auskommen mit dem Westen. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 öffnete Russland etwa in Zentralasien einen militärischen Korridor für die USA, die ihre Operationen in Afghanistan begannen. Zugleich schloss Putin die russische Abhörstation auf Kuba. Dafür erwartete er sicherlich ein gewisses Entgegenkommen der USA in anderen Gelegenheiten. Stattdessen bekam Putin einen Schlag ins Gesicht.
Weil sich die Vereinigten Staaten kurz darauf einseitig aus dem ABM-Vertrag zurückzogen, der die Begrenzung von antiballistischen Raketenabwehrsystemen regelte?
Ja. 2007 wetterte Putin in seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz gegen die Raketenschilde, die zu dieser Zeit an den Grenzen Polens und Rumäniens aufgestellt worden sind. Aber niemand wollte Putin ernst nehmen, keiner der westlichen Staats- und Regierungschefs wollte ihm in München die Augen sehen. Putin fühlte sich schwer gekränkt: Russland, das er wieder zu einer Großmacht aufbauen wollte, wurde vom Westen ignoriert. Als der damalige US-Präsident Barack Obama Russland 2011 dann als Regionalmacht bezeichnete, war Putin völlig verärgert.
Vor allem war die Äußerung Wasser auf die Mühlen der Hardliner im Kreml?
Unbedingt. Putin hatte nun endgültig das Gefühl, dass seine Nation systematisch immer wieder gedemütigt wurde, in Kombination mit seinem Minderwertigkeitskomplex wandte er sich dann einer extremeren Politik zu. Selbstverständlich hätte Putin Russlands Bedeutung in der Welt auch erhöhen können, indem er eine lebendige Wirtschaft geschaffen hätte, die mit dem Westen konkurrieren kann. Leider wusste Putin aber nicht, wie er das anstellen sollte. Entsprechend griff er auf die KGB-Drehbücher der Siebziger- und Achtzigerjahre zurück.
Also Desinformation und Unterminierung anstelle von Kooperation und Koexistenz mit dem Westen?
Putin versucht seither, Russland wieder groß zu machen, indem er die Demokratien im Westen beschädigt. Es gibt mit hoher Wahrscheinlichkeit noch viele unentdeckte Wege der russischen Finanzierung von extremen rechten und linken Parteien wie Politikern in Europa. Darüber müssen wir noch mehr herausfinden.
Worin liegt Putins größte Stärke?
Putin ist eine Art politisches Chamäleon. Er kann stark und selbstbewusst auftreten, aber auch konziliant und unterwürfig. Als sein Vorgänger Boris Jelzin mitsamt seiner Familie 1999 wegen Korruption unter Beschuss stand, präsentierte sich Putin als Retter. Er sagte allen, was sie hören wollten – und sie glaubten ihm.
Und worin besteht Putins größte Schwäche?
Er ist sehr schlecht darin, in Zeiten extremer Krisen zu agieren. Das hat er bei unzähligen Gelegenheiten demonstriert, dann wirkt Putin wie gelähmt. Als 2000 das russische U-Boot "Kursk" in der Barentssee sank, verschwand er aus der Öffentlichkeit, Putin wusste nicht, was er tun sollte. Dieses Verhalten hat sich nicht geändert: Wir haben glaubwürdige Geheimdienstberichte, dass Putin im vergangenen Jahr zunächst verschwand, als Prigoschin meuterte. Es gab keine Anweisungen des Kremls an die Sicherheitschefs in den Regionen, niemand wusste, was zu tun war.
Also verhielten sich alle lieber still, bis Moskau wieder reagierte?
So ermöglichte Putins Zögern den Vormarsch der Wagner-Söldner Richtung Moskau überhaupt erst. Erinnern Sie sich an die Bilder Putins aus den ersten Monaten des Krieges 2022, als es alles andere als nach Plan für die russische Armee verlief? Man sah Putin den psychischen Druck an, man konnte sehen, dass er nahezu körperliche Schmerzen hatte.
Beides dürfte nachgelassen haben, seit der Vorteil an der ukrainischen Front aufseiten Russlands liegt – und Putin mit Alexej Nawalny seinen größten Gegner endgültig losgeworden ist. Warum musste Nawalny zu diesem Zeitpunkt sterben?
Wir wissen immer noch nicht, wie und warum es passiert ist. Einerseits hat Nawalny fast ein Jahr in Einzelhaft in Straflagern verbracht, andererseits sah er am Tag vor seinem Tod relativ gesund aus. Möglicherweise fühlt sich Putin im Moment derart sicher, dass er wegen der Beseitigung Nawalnys keine Konsequenzen befürchtet.
Ist das denn nicht der Fall?
Putin ist möglicherweise zu weit gegangen. Denn nach Nawalnys Ende zeigt sich, dass die russische Opposition nicht mit ihm gestorben ist. Zigtausende Menschen kamen zu Nawalnys Beerdigung, sie trotzten der enormen Polizeipräsenz und manche riefen sogar "Nein zum Krieg". Manche Teilnehmer sagten meinen Kollegen vor Ort, dass sie sich zum ersten Mal seit Jahren wieder lebendig fühlen würden – und nicht mehr allein.
Was bleibt von Nawalny?
Nawalny lebt weiter in der Erinnerung der Menschen. Das haben wir an der regen Teilnahme an seiner Beerdigung gesehen, das sehen wir jetzt an den Aufrufen seiner Witwe Julia Nawalnaja, den Protest fortzusetzen.
Vor allem an den Wahltagen?
Das haben Nawalny und sein Team sehr geschickt geplant. Die Leute sollen um 12 Uhr an den Wahlkabinen während der Präsidentschaftswahl protestieren. Denn wer will schon Leute festnehmen, die zur Wahl erscheinen? Bilder von Massenverhaftungen an dem Tag, an dem Putin wiedergewählt wird, werden dem Kreml kaum recht sein.
Besteht also Hoffnung für die russische Opposition?
Die große Beteiligung an Nawalnys Beerdigung untergräbt den Mythos, dass sich die gesamte russische Bevölkerung hinter Putin schart. Das ist eindeutig nicht der Fall. Für jede Person, die auf der Beerdigung war, gibt es Tausende oder Zehntausende, die zu viel Angst hatten, um hinzugehen. Obwohl sie an das Gleiche wie Nawalny glauben. Es gibt also immer noch einen großen Teil der russischen Gesellschaft, der gegen das Putin-Regime und den Krieg ist.
Sie haben es gesagt: Der überwiegende Teil dieser Menschen wiederum schweigt, während es die Elite mit Putin hält. Was nun?
Es wird keinen Aufstand geben, der Putin direkt bedrohen könnte. So etwas halte ich für unwahrscheinlich. Aber es gibt trotzdem noch Hoffnung.
Müsste die westlichen Staaten diese Möglichkeit nicht viel stärker nutzen?
Der Westen muss sich endlich zusammenreißen, die Ukraine ausreichend bewaffnen und Putin so den Sieg verwehren. Denn wenn Putin gewinnt, wird das seine Legitimität und sein Regime stärken. Dann beginnt der Kreml mit der Suche nach neuen Zielen, sei es im Baltikum oder anderswo. Russland braucht eine schwere Niederlage – nur so lässt sich dieses Szenario verhindern.
Insbesondere in Deutschland ist die Angst vor einem Ende Putins groß, denn ein unberechenbarer Nachfolger könnte in den Kreml ziehen. Was halten Sie davon?
Putin vertritt doch bereits eine sehr aggressive Position. Das Ergebnis seiner Ablösung bedeutet keineswegs automatisch die Etablierung eines noch radikaleren Machthabers. Nein, wenn Putins Legitimität durch den Verlust von Territorium in der Ukraine getrübt wird, ist es wahrscheinlicher, dass fortschrittliche Elemente innerhalb der Sicherheitsdienste aktiv werden.
Wie es in der Endphase der Sowjetunion der Fall gewesen ist?
Ja. Diese würden aller Wahrscheinlichkeit nach versuchen, Russland wieder auf den Weg einer Integration mit dem Westen zu bringen. Nicht, weil sie sich der westlichen Weltordnung beugen wollen, sondern aus der Erkenntnis heraus, dass Russland global nur konkurrieren kann, wenn es in den Westen integriert ist.
Würden Hardliner wie Patruschew dem nicht entschieden Widerstand leisten?
Die Falken würden die Schuld einer Niederlage in der Ukraine tragen, entsprechend wären sie delegitimiert.
Nun will Putin mit hoher Zustimmung im Präsidentenamt bestätigt werden, der Kreml will 80 Prozent der Stimmen für den Amtsinhaber sehen.
Die Wahl ist geradezu ein öffentliches Referendum über den Krieg. Putin will ein Signal, dass die Russen voll und ganz hinter ihm stehen. Der Kreml ist tatsächlich besorgt – das sieht man deutlich.
Frau Belton, vielen Dank für das Gespräch.
- Persönliches Gespräch mit Catherine Belton via Videokonferenz