Johnsons "Partygate" "Ich habe einen Sohn verloren und er feiert eine Party"
Dass der britische Premierminister Boris Johnson während des Lockdowns Partys feierte, stößt der Bevölkerung sauer auf. Langsam zeigt sich die Wut darüber auch in den Umfragen.
Seit Susan Whatmough aus dem ostenglischen Boston wählen darf, hatte die konservative Tory-Partei ihre Stimme sicher. "Ich habe immer die Tories gewählt – aber ich würde es nicht wieder tun", sagt die rothaarige Frau im Pelzmantel, während über den Fachwerkgassen der Kleinstadtidylle langsam die Sonne untergeht. Dass der britische Premier Boris Johnson während des Lockdowns in der Downing Street nicht nur Partys zugelassen, sondern wohl sogar selbst mitgefeiert hat, hat das Fass für sie zum Überlaufen gebracht. "Ich habe in dieser Zeit einen Sohn verloren und die Queen ihren Ehemann – und er feiert eine Party."
Sucht man Orte, an denen die Menschen zu den Tories halten, ist die Kleinstadt Boston eine sichere Bank. Bei der jüngsten Parlamentswahl 2019 erzielten die Tories rund 77 Prozent der Stimmen, der Wahlkreis ist schon immer eine Bastion der Partei gewesen. Beim Brexit-Referendum stimmten in Boston drei von vier Bürgern dafür. Was denkt man hier also über die "Partygate"-Affäre, die seit Wochen in Westminster Gesprächsthema Nummer eins ist? Will man in Boston weiter von Partykönig Boris Johnson regiert werden? Oder interessiert das Thema in der "echten Welt" gar nicht, wie es der neue Brexit-Staatssekretär Jacob Rees-Mogg zuletzt vermutete?
Lockdown-Party? "Haben alle gemacht"
"Ich bin für ihn", sagt Kelly Brandon, die auf dem Marktplatz Obst und Gemüse verkauft. "Alle haben das gemacht", meint sie zu den Lockdown-Partys. "Ich weiß, er sollte ein Vorbild sein, war er aber nicht. Kommt darüber hinweg, es ist keine so große Sache." Es ist nicht das einzige Mal auf diesem Streifzug, dass jemand eingesteht, auch selbst das ein oder andere Mal gefeiert zu haben – nur eben nicht erwischt worden zu sein. Ein Rentner mit dickem, braunem Schnäuzer hofft, dass Johnson von seinen Kollegen nicht so bald gestürzt wird. Zwar sei der Premier ein "bisschen ein Clown" – aber auch "brillant für unser Land".
Doch so klare Fürsprecher finden sich nicht an jeder Ecke. Die Tories gewählt, ja, das haben in Boston viele – der Mann im Karohemd, der in der blauen Daunenjacke, Susan Whatmough und ihr Mann und viele andere mehr. Dass die Zeit des Premiers abgelaufen ist, finden sie trotzdem.
Fährt man in diesen turbulenten Wochen durchs Land, hört man viele Bezeichnungen für Boris Johnson – "Clown" ist eine der harmloseren davon. Verlässt man die Tory-Hochburg Boston, werden die Begriffe derber und sind die Unterstützer schwieriger zu finden. So auch in der Hafenstadt Hartlepool an der Nordostküste Englands – und das, obwohl die jahrzehntelange Bastion der sozialdemokratischen Labour-Partei seit einer Nachwahl im vergangenen Jahr ebenfalls fest in Tory-Hand ist. Die grüne Aufschrift "Jill Mortimer MP" auf den Scheiben des Wahlkreisbüros glänzt noch.
Region ist jetzt "Red Wall Seat"
Boris Johnson fuhr damals, im Frühjahr 2021 auf dem Höhepunkt der Impfkampagne, gute Umfragewerte ein und seine Parteikollegin Mortimer zog mit 60 Prozent der Stimmen als erste konservative Abgeordnete für Hartlepool ins Unterhaus. Die Region ist damit der jüngste "Red Wall Seat" – so werden die Wahlkreise genannt, die traditionell in Labour-Hand waren und erst kürzlich an die Tories gingen.
"Er muss zurücktreten. Er hat das Parlament angelogen, er muss gehen!", sagt der Rentner Dougie Maclean, den man am Abend im "Three Brass Monkeys"-Pub beim Pint antrifft, und der sein Kreuz auf dem Wahlzettel üblicherweise bei Labour setzt. Die Maskottchen des Pubs sind die drei berühmten Affenköpfe, von denen sich einer den Mund, einer die Augen und der dritte die Ohren zuhält. Nicht ganz so genau hinzuschauen, was denn nun eine Party war und was nicht, hält auch Carol Brown vom Nebentisch für angebracht. Sie und ihr Mann haben nie gewählt, interessieren sich nicht besonders für Politik. Johnson habe es wirklich schwer gehabt – und wenn jemand anderes Premierminister gewesen wäre, hätte der sicher auch gefeiert. "Ich finde, er sollte bleiben. Ich mag ihn", sagt Brown.
Für einige ist es unvorstellbar, wie man in Hartlepool leben und die Tory-Partei unterstützen kann. "Hartlepool hat nichts, die Menschen in Hartlepool haben rein gar nichts", sagt einer von wenigen Spaziergängern am Strand der Stadt, ein 77 Jahre alter Anwohner, der sich noch daran erinnert, wie in seiner Jugend die heute fast verfallene Pier gebaut wurde.
"Eigentlich egal, wer Premierminister ist"
Mit seinem breiten Sandstrand und den sanften Dünen könnte Hartlepool eigentlich ein Touristenparadies sein. Doch es gibt keine Strandkörbe, keinen Steg, nicht einmal einen Kiosk, an dem man sich im Sommer ein Eis kaufen könnte. An einem sonnigen Februartag liegt die Küste fast verlassen da, ein paar Gassi-Gänger lassen sich an einer Hand abzählen. Wer in Hartlepool lebt, kann es sich meist nicht leisten, einfach nur die Natur zu genießen.
In der Innenstadt stehen viele Ladenlokale leer oder haben ihre Rollläden bis ganz nach unten gezogen. An einem ehemals prachtvollen Bau fehlt eine der großen Lettern, das einstige "Grand Hotel" ist heute nur noch "Rand Hotel". Viele hier eint, dass sie wenig Hoffnung haben. "Es ist eigentlich egal, wer Premierminister ist", meint Rosemary Sladden, die schon in aller Welt, auch in Deutschland, gelebt hat. "Der eigentliche Schaden ist entstanden, als wir Europa verlassen haben." Sie selbst hat mit der Politik abgeschlossen.
So geht es auch zwei Taxifahrern, die vor dem Bahnhof auf Fahrgäste warten und für Boris Johnson nur ein müdes Lachen übrighaben. Beide hatten zumindest gehofft, dass der Brexit ihr Leben verbessern würde – doch sind bislang auch sie davon enttäuscht. Sie empören sich, dass sich politische Kontrahenten in Westminster im Parlament scharf angehen und danach zusammen im Pub ein Bier trinken. Eine korrupte, elitäre Hauptstadtblase, die nichts davon wisse, was die Menschen hier im Norden beschäftigt. "Die sind doch alle gleich", meint einer von beiden. Ob Boris Johnson oder nicht – das ist hier eine Nebensache.
- Nachrichtenagentur dpa