Enthüllte Verbrechen Ist das noch gerechtfertigt?
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Er wird als Held der Pressefreiheit verehrt. Und als Verräter von Staatsgeheimnissen verfolgt. Julian Assange ist eine schillernde Figur des 21. Jahrhunderts. Ist er Täter? Oder Opfer?
Schon damals, im Jahr 2010, als alles anfing, forderten sie bei Fox News seinen Kopf. Gerade hatte Assange auf seiner Plattform Wikileaks interne Dokumente der US-Streitkräfte veröffentlicht und damit Kriegsverbrechen der Amerikaner im Irak und in Afghanistan dokumentiert. Ein Video zeigte, wie Soldaten aus einem Apache-Hubschrauber das Feuer auf eine Gruppe von Menschen in Bagdad eröffneten. 12 Zivilisten starben, darunter zwei Reuters-Reporter. Der Starmoderator von Donald Trumps Haussender, Bill O'Reilly, teilte seinem Publikum mit, er würde sich freuen, wenn Assange von einer kleinen Drohne getroffen würde. "Ein toter Mann kann keine Sachen veröffentlichen", sagte sein Kollege Bob Beckel.
Jetzt fordert das höchste britische Gericht ganz formell von der US-Regierung die Zusicherung, dass Assange nicht die Todesstrafe droht. Sonst könne er auf keinen Fall ausgeliefert werden.
Im August 2017 reiste Dana Rohrabacher, ein Abgeordneter der US-Republikaner im Repräsentantenhaus, nach London, um dem Wikileaks-Gründer einen Deal anzubieten: keine Strafverfolgung, wenn er die Quelle offenlegte, aus der die "Podesta-Mails" sprudelten – Zehntausende gehackte Nachrichten aus dem Mailaccount von Hillary Clintons Wahlkampfmanager John Podesta. Die Mails hatten Trumps Rivalin im Wahlkampf 2016 diskreditiert.
Zur Person
Uwe Vorkötter Uwe Vorkötter gehört zu den erfahrensten Journalisten der Republik. Seit vier Jahrzehnten analysiert er Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, er hat schon die Bundeskanzler Schmidt und Kohl aus der Nähe beobachtet. Als Chefredakteur leitete er die "Stuttgarter Zeitung", die "Berliner Zeitung" und die "Frankfurter Rundschau". Er ist Herausgeber von "Horizont", einem Fachmedium für die Kommunikationsbranche. Nach Stationen in Brüssel, Berlin und Frankfurt lebt Vorkötter wieder in Stuttgart. Aufgewachsen ist er im Ruhrgebiet, wo man das offene Wort schätzt und die Politik nicht einfach den Politikern überlässt. Bei t-online schreibt er jeden Dienstag seine Kolumne "Elder Statesman".
Diese Enthüllung auf Assanges Plattform ging auf einen Informanten zurück, der sich Guccifer 2.0 nannte und der dem russischen Geheimdienst zugeordnet werden konnte. Wikileaks und Trump, so die Schlussfolgerung, hatten gemeinsam mithilfe aus Moskau Clintons Kampagne attackiert. Rohrabacher wollte diesen Vorwurf offenbar entkräften. Später beteuerte er, nicht im Auftrag der Regierung gehandelt zu haben. Assange lehnte den Deal ab.
Die Geschichte von Julian Assange ist reich an solch bizarren Verwicklungen. Seit über einem Jahrzehnt ist er die Hauptperson in einem schwer entwirrbaren Knäuel aus juristischen Verfahren, politischen Interessen und diplomatischen Schachzügen. Die Liste seiner tatsächlichen oder vermeintlichen Delikte ist lang: Illegale Beschaffung geheimer Unterlagen, Spionage, Vergewaltigung, sexuelle Nötigung, Verstoß gegen Kautionsauflagen.
Droht ihm auch die Todesstrafe?
Jetzt, im Showdown all dieser Prozesse, geht es um eine einfache Frage: Wird Julian Assange an die Vereinigten Staaten ausgeliefert? Dort soll er in 17 Punkten angeklagt werden, unter anderem aufgrund des "Espionage Act". Assange droht eine – theoretische – Höchststrafe von 175 Jahren Gefängnis. Vielleicht sogar die Todesstrafe? Absurd.
Schon einmal hat er sich einer Auslieferung entzogen, damals nach Schweden, wo ihm zwei Frauen vorwarfen, er habe sie vergewaltigt. Die Verfahren sind inzwischen eingestellt. Er flüchtete sich in die Botschaft Ecuadors in London, dort gewährte man ihm Asyl. Sieben Jahre lang verließ er das Gebäude nicht. Es heißt, er sei kein einfacher Gast gewesen. Wenn er jetzt in die USA ausgeliefert werde, sagt seine Frau, werde er sterben. Assange hat einen Schlaganfall gehabt, er leidet unter Depressionen. Besucher beschreiben den 52-Jährigen als einen früh gealterten, gebrochenen Mann.
Ist dieser Julian Assange ein investigativer Journalist, der die dunkelsten Geheimnisse der Mächtigen ans Tageslicht fördert? Ein Whistleblower im Dienst der Aufklärung? Seine Freunde und Unterstützer sehen ihn so. Aber Assange hat nie journalistisch gearbeitet. Er hat eine technische Plattform gegründet, auf der Dokumente veröffentlicht werden. Whistleblowerin aus den US-Streitkräften war Chelsea Manning. Sie wurde 2013 wegen Geheimnisverrats und Spionage zu 35 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Kurz vor seinem Abschied aus dem Weißen Haus begnadigte Barack Obama sie.
Obama hatte ausgeschlossen, auch Assange wegen Spionage zu verfolgen. Denn wenn der Wikileaks-Gründer ein Spion wäre, was sind dann seine Medienpartner: "Guardian", "New York Times", "Le Monde", "El Pais", "Spiegel"? Ebenfalls Agenten fremder Mächte oder deren Helfer? Die prominentesten Medien der westlichen Welt! So handhabt man das in Russland. Trump hat Obamas Haltung trotzdem revidiert und die Verfolgung wegen Spionage zugelassen. Biden hat Trumps Haltung nicht revidiert.
Mit der Veröffentlichung des als "Collateral Murder" bekannt gewordenen Videos aus dem Irak und den anderen geleakten Dokumenten hat Assange der Freiheit einen Dienst erwiesen. Genau das unterscheidet die liberale Demokratie von den autoritären Regimen dieser Welt: Alexej Nawalny wurde erst vergiftet und dann in Putins Gulag zugrunde gerichtet. Jamal Khashoggi transportierten die saudischen Schergen zerstückelt in seine Heimat zurück. Die Unterdrückungsapparate im Iran und in China arbeiten ohne öffentliche Kontrolle. Der Westen stellt sich der Wahrheit, so schmerzhaft sie auch sein mag. Assange ist ein Held, der Schmerzen verursacht.
Anhänger einer libertären Ideologie
Und er ist ein widersprüchlicher Held. Seit seiner Jugend folgt er einer libertären Ideologie, die kein schützenswertes Geheimnis kennt. Assange wollte nie entscheiden, welche Veröffentlichung notwendig, gerechtfertigt oder zulässig ist. Er wollte alles veröffentlichen. Verantwortung ist in seiner Welt keine relevante Kategorie. Außerdem hat er den Schutz seiner Quellen vernachlässigt, sonst hätte Chelsea Manning niemals im Gefängnis gesessen. Politisch ist er unberechenbar, er ließ auch schon Sympathien für die rechte Tea-Party- Bewegung in den USA erkennen. Aber kommt es darauf an? Es geht nicht um seine Gesinnung, sondern um seine Handlungen.
Julian Assange hat Gerechtigkeit verdient, aber die wird es in seinem Fall nicht mehr geben. Ein Fall, der drei amerikanische Präsidenten beschäftigt hat und sechs britische Premierminister von Gordon Brown bis Rishi Sunak. Zwei Präsidenten Ecuadors haben in seiner Angelegenheit völlig gegensätzliche Entscheidungen getroffen, die schwedische Regierung war involviert, natürlich auch Australien, sein Heimatland. Politisch ist der Fall Assange festgefahren. Rechtlich wird der Londoner High Court in Kürze über die Auslieferung entscheiden. Assanges Anwälte sind darauf vorbereitet, auch noch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anzurufen. Vielleicht bringt das noch einmal Zeit. Ihr Mandant sitzt seit fünf Jahren im Gefängnis.
Ein einziger Ausweg aus dieser Tragödie bleibt noch: eine Geste der Menschlichkeit. Lasst Julian Assange frei, lasst ihn in Australien unbehelligt leben! Lasst ihn seine beiden Kinder kennenlernen, die er im Botschaftsasyl mit seiner früheren Anwältin und heutigen Ehefrau Stella Morris bekommen hat; die Hochzeit fand im Hochsicherheitstrakt des Gefängnisses statt. Humanität kann helfen, wo sonst nichts hilft.
- Eigene Überlegungen