"Letzte Generation" tritt zur Europawahl an "Das ist pervers und obszön"
Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Bisher war die "Letzte Generation" für Straßenblockaden bekannt, mit denen sie auf den Klimawandel aufmerksam machen wollte. Nun tritt die Bewegung zur Europawahl an. Auch dort will sie stören.
Die "Letzte Generation" hat in den vergangenen zwei Jahren stark polarisiert. Die Störaktionen der Aktivisten und der Kampf gegen den Klimawandel zogen neben Anerkennung vor allem auch viel Zorn auf sich – weil sie Innenstädte blockierten und Stau verursachten, weil sie Gebäude und Denkmäler mit Farbe bespritzen oder sich an Kunstwerke klebten.
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Nun sucht die Bewegung neue Formen des Protests und ist dabei ausgerechnet in der Politik fündig geworden. Sie steht bei der Europawahl am 9. Juni auf dem Wahlzettel. Weil es dort keine Fünfprozenthürde gibt, ist es bei der Wahl auch für kleine Parteien mit einer geringen Zahl an Stimmen möglich, in das Parlament einzuziehen.
Der Biochemie-Doktorand Theodor Schnarr ist einer von zwei Spitzenkandidaten bei der Wahl. Im Interview mit t-online erklärt er, wie sich die Mitglieder im Parlament verhalten würden und dass die Klebeaktionen vielleicht doch nicht ganz der Vergangenheit angehören.
t-online: Herr Schnarr, sehen Sie sich als Politiker?
Theodor Schnarr: (Lacht) Nein. Wir wollen im Europaparlament Unruhe stiften und existierendes Unrecht sichtbar machen.
Was planen Sie?
Wir sind noch in der Findungsphase und überlegen, wie wir vorgehen. Dazu sind wir jetzt in Kontakt mit anderen Bewegungen und bisherigen Abgeordneten, um herauszufinden, wie der Alltag im Parlament genau abläuft und wo man ihn am besten unterbrechen kann.
Sie wollen also gezielt den parlamentarischen Betrieb stören?
Absolut! Wir müssen diese gespielte Normalität durchbrechen. Uns brennt gerade die Erde unterm Arsch weg. Alles gerät aus dem Ruder und trotzdem wird so getan, als ob alles normal sei. Das ist pervers und obszön.
Wie sollen diese Störungen aussehen? Wollen Sie sich im Parlament festkleben?
Das kann ich nicht kategorisch ausschließen. Unseren Bezug zum Kleber haben wir nie ganz verloren.
Zur Person
Theodor Schnarr (33) promoviert an der Universität Greifswald in Biochemie. Er ist seit mehr als zwei Jahren bei der "Letzten Generation" tätig und hat in dieser Zeit bei über 20 Straßenblockaden teilgenommen. Vor der Kandidatur für das Europaparlament war er bereits Pressesprecher der Bewegung.
Die "Letzte Generation" wurde als Klimakleber-Bewegung bekannt, in diesem Jahr haben Sie einen Strategiewechsel vollzogen. Seitdem hört man kaum mehr von Ihnen. Ist das nicht gerade im Vorfeld einer Wahl sehr ungünstig?
Ich nehme ein großes Interesse wahr an dem, was wir machen. Die Leute wollen noch immer wissen, warum es die Blockaden gab und was es jetzt mit der Europawahl auf sich hat. Alles, was wir aktuell machen, ist Werbung für uns, denn wir wollen keine klassischen Politiker sein. Dementsprechend brauchen wir auch keine klassischen Wahlversprechen. Wir müssen auch nicht erklären, für wofür die "Letzte Generation" steht. Denn das wissen die Leute bereits.
Andere Parteien haben Stände in Fußgängerzonen und verteilen Sticker und Plakate. Wie genau sieht Ihr Wahlkampf aus?
Wir wollen einerseits Politiker mit ihrer Verantwortung konfrontieren, bei Veranstaltungen von anderen Parteien zum Beispiel. Darüber hinaus gibt es die Idee, gerettetes Essen zu verschenken.
Aber auch von diesen Störungen hat man bisher nicht viel mitbekommen. Wie kommt das?
Das läuft gerade an. Die Ideen und Konzepte sind da.
Reicht das? Wann wird es denn tatsächlich wahrnehmbare Aktionen geben?
Wir fokussieren uns aktuell mehr auf lokale Proteste und bekommen dafür dann auch vor allem lokale Aufmerksamkeit.
Aber wie wollen Sie darüber hinaus auch bundesweit auf sich aufmerksam machen? Wird es klassische Plakatkampagnen geben?
Die sind geplant. Es gibt aber auch die Ideen, auf die Plakate von anderen Parteien ein bisschen augenzwinkernd Bezug zu nehmen. Aber das ist alles noch in Ausarbeitung.
Ist es nicht zu spät? Alle anderen Parteien sind mit den Plakaten schon sehr präsent.
Eine Menge Menschen stecken da eine Menge Energie und Zeit rein und alle machen das mit viel Elan. Wenn man das Gefühl hat, dass in einer Stadt noch mehr laufen sollte, kann man uns kontaktieren. Unsere Kernkompetenz ist es, in kurzer Zeit, große Dinge auf die Beine zu stellen. Deswegen ist es gar nicht so schlimm, wenn wir uns nicht im klassischen Wahlkampf zeigen. Zudem war es bei vergangenen Wahlen oftmals so, dass sich viele Dinge erst in den letzten Wochen vor der Wahl entschieden haben. Und viele Leute sind doch ohnehin genervt von der Wahlwerbung, weil sie überall falsche Versprechen lesen.
Sie brauchen mehr als 200.000 Stimmen, um als Partei ins Parlament einzuziehen. Mit welchen Erwartungen gehen Sie in die Wahl?
Mein persönliches Gefühl entspricht da einer Achterbahnfahrt. Es gibt Tage, da denke ich: Klar, natürlich kommen wir rein. Aber es gibt auch Momente, in denen ich denke: Wir kommen da nie rein. Als ob 200.000 Menschen uns wählen würden. Wo sollen die herkommen? Wer soll das sein?
Genau: Wer soll das denn sein, wenn Sie niemand kennt und Sie kaum präsent sind? Viele Leute, auch junge Menschen, wissen überhaupt nicht, dass Sie antreten.
Zum Glück führen wir gerade dieses Interview. Wir nutzen alle Kanäle, die wir haben. Gerade für junge Menschen haben wir aktuell eine TikTok-Challenge, wir sind auf den sozialen Medien gut aufgestellt. Und wir wollen auch nicht nur stören. In Präsenz sind wir ab dem 20. Mai eine Woche lang intensiver vor Ort, um mit Menschen ins Gespräch kommen. Ich selbst war gerade erst auf einem Stadtfest, um darauf aufmerksam zu machen, dass man uns wählen kann.
Wenn überhaupt, werden Sie mit ein oder zwei Abgeordneten in das Parlament einziehen. Was kann man da bei über 700 Abgeordneten ausrichten?
Greta Thunberg hat allein etwas Großes angestoßen. Und wir sind ja nicht allein. Es kann sein, dass nur eine Person gewählt wird, aber die hat dann einen neuen Zugang und mehr Möglichkeiten, um etwas auf die Beine zu stellen.
Sie haben kein Wahlprogramm, Ihre Inhalte beschränken sich auf vier Forderungen: das Einsetzen von Gesellschaftsräten, den Ausstieg aus Öl, Gas und Kohle, soziale Gerechtigkeit und die Förderung von Bewegungen, die sich für soziale und Klimagerechtigkeit einsetzen. Reicht das, um Wähler zu gewinnen, wenn Sie zu einem Großteil der Themen überhaupt keine Meinung und keine Position haben?
Genau das haben wir uns auch gefragt. Deswegen haben wir sogenannte Runde Tische ausgerufen. Dazu werden in vielen Städten Menschen eingeladen, die mitbestimmen: Wie könnte eine klimagerechte Welt denn aussehen, auch lokal gesehen? Dabei kommen Menschen zusammen, die sich vorher gar nicht kannten, und diskutieren. Später soll es einen deutschlandweiten Runden Tisch geben und daraus wird sich das Programm ergeben.
Bis zur Wahl dauert es allerdings nur noch knapp einen Monat. Bis dahin werden sie kein Programm haben. Ist das ein Hindernis, dass Sie dann nur auf vier Forderungen festgelegt sind?
Das wäre vielleicht hinderlich, wenn wir eine klassische Partei wären. Aber das wollen wir ja gar nicht sein. Wir wollen ins EU-Parlament, um auf Unrecht hinzuweisen und darüber weitere Menschen für unseren Widerstand zu gewinnen. Unser Angebot ist klar.
Ihre erste Forderung ist die Einsetzung von Gesellschaftsräten. Was genau kann man sich darunter vorstellen?
Der Gesellschaftsrat ist nach wie vor eine der stärksten Lösungsmöglichkeiten, wie wir einen grundlegenden Wandel demokratisch organisieren können. Die Räte aus zufällig ausgewählten Bürgern kommen zusammen und erarbeiten Lösungen anhand ihrer Lebensrealität. Die Politik muss es nur noch umsetzen.
Und Sie glauben, dass die Räte eine bessere Politik machen als die Politiker?
Ja, denn wenn es funktionieren würde, dass die Politiker sich an unsere Verfassung halten, bräuchte es unsere Proteste nicht. Im Grundgesetz steht geschrieben, dass die Regierung dafür verantwortlich ist, die Lebensgrundlagen von uns allen und zukünftiger Generationen zu schützen. Das ist nachweislich nicht der Fall.
Sie bewegen sich thematisch auf einem ähnlichen Gebiet wie die Grünen. Es gibt bei der Europawahl noch fünf weitere Parteien, die sich hauptthematisch mit dem Umwelt- und Klimaschutz auseinandersetzen. Ist Ihre Kandidatur wirklich nötig?
Ich wünsche mir nichts so sehr, als dass wir überflüssig wären. Das würde bedeuten, dass es eine realitätsbezogene Politik gäbe. Die gibt es aber nicht. Deswegen sollte man uns wählen, wenn man sich denkt, dass es fast egal ist, wo man sein Kreuz macht. Wir sind da für diejenigen, die keinen Bock mehr auf Korruption und Hinterzimmerpolitik haben.
Auch die Grünen entstammen aus einer Umweltbewegung, sind nun eine etablierte Partei. Sehen Sie Parallelen?
Der Unterschied ist: Wir wollen nicht eine Stimme unter vielen sein, sondern wollen wirklich eine grundlegende Veränderung, in der Menschen mehr Möglichkeit haben, sich einzubringen. Und in Ihrer Frage schwingt ein bisschen mit, dass wir auch irgendwann ein Teil vom großen Apparat sind. Das sehe ich nicht.
Was ist Ihre persönliche Motivation, anzutreten? Es ist eine ganz andere Art des Engagements, im Parlament zu sitzen, als sich auf die Straße zu kleben.
Das ist ein sehr großer Unterschied, ja. Es fühlt sich schon sehr merkwürdig an, wenn ich meine Jahresplanung mache: Ich könnte bald in Brüssel sein. Aber ich will mich da einsetzen, wo meine Talente möglichst effektiv sind: Ich habe Presseerfahrung und mir wurde gesagt, dass ich Menschen begeistern kann. Also habe ich das mit meiner Frau und der anderen Spitzenkandidatin Lina Johnsen besprochen. Wir kamen zu dem Schluss: Lasst uns das machen, das wird wild.
Sie sagen, Sie wollen nicht Teil des großen Apparats werden. Wird die "Letzte Generation" dennoch bei weiteren Wahlen antreten?
Es gibt Leute, die schon darüber nachdenken. Ich habe schon Leute scherzen hören: 'Wenn wir fünf Prozent bekommen, probieren wir es auf Bundes- oder Landesebene.' Aber da gibt es noch keine konkrete Planung,
Wenn Sie ehrlich zu sich sind: Wollen Sie persönlich denn tatsächlich ins Parlament einziehen oder war die Zeit des Wahlkampfes am Ende ausreichend?
Da bin ich zwiegespalten. Der Gedanke an das Parlament ist super aufregend. Aber gleichzeitig gibt es diesen Punkt, der mich in Greifswald hält, weil ich meine Doktorarbeit so gut wie möglich abschließen möchte. Und ich möchte auch in meinem Umfeld bleiben. Insofern gibt es beides, eine massive Aufregung und gleichermaßen den Wunsch: Ach komm, bleib doch einfach zu Hause.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Schnarr!
- Interview mit Theodor Schnarr