Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Unser klägliches Versagen Das ist der wahre Grund für das deutsche Corona-Desaster
Es ist nicht die Politik, die gerade in erster Linie scheitert und versagt. Sondern eine hedonistische Wohlstandsgesellschaft, die es verlernt hat, mit ernsten Lagen angemessen umzugehen.
Neulich stand irgendwo zu lesen, ich meine, es war sogar hier bei t-online, dass das Erzgebirge die höchste Corona-Inzidenz weltweit aufweise. Auf diesen traurigen Weltrekord hätten wir gut verzichten können.
Ebenso wie auf die überraschende, für die dortige Bevölkerung natürlich beglückende Nachricht, dass Brasilien das Virus so gut wie besiegt hat und dass in Rio de Janeiro ein genesener (und geimpfter) 70-Jähriger unter dem Beifall der Belegschaft als letzter Corona-Patient der Metropole das Krankenhaus gesund verlassen hat – in einem Land, in dem der Präsident der letzte Wirrschädel zu sein scheint, der das Impfen ablehnt und Covid-19 für einen etwas hartnäckigeren Schnupfen hält.
Was, zur Hölle ist im Vergleich dazu nur bei uns los? Ein Land, in dem es verglichen mit Brasilien an nichts fehlt, versagt Ende des zweiten Pandemie-Jahres kläglich und wird von der vierten Welle auf beschämende Weise erwischt – während sich zugleich die nächste Mutante auf den Weg macht, über deren etwaigen neuen Schrecken wir alle noch zu wenig wissen.
Christoph Schwennicke ist Geschäftsführer der Verwertungsgesellschaft Corint Media. Er arbeitet seit mehr als 25 Jahren als politischer Journalist, unter anderem für die "Süddeutsche Zeitung" und den "Spiegel". Zuletzt war er Chefredakteur und Verleger des Politmagazins "Cicero".
Deutschlands Problem (und das seiner einschlägig ebenso betroffenen Nachbarn) ist nicht der Mangel, wie er anderswo herrscht. Deutschlands Problem ist sein Überfluss. Und sein jahrzehntelanges Dasein in einer puppenstubig heilen Welt, in der nicht die Gefahr von außen für den Nervenkitzel sorgte, sondern ersatzweise eine unselige Freude an einer circensischen Talkshow-Kultur, die jedes Thema gleichermaßen nur zum Anlass nimmt, noch den schrägsten Vogel aus dessen sinistrer Ecke zu ziehen, auf dass er mit seinen kruden Thesen zu einer Vielfalt der Meinungen beitrage und die Zuschauer am Bildschirm mit seinem steil vorgetragenen Unsinn unterhalte.
Damit das klar ist: Es gibt große und wichtige Themen, bei denen man mit guten Gründen dieser ebenso wie jener diametral entgegengesetzten Meinung sein kann. Rentensysteme, kapitalgedeckt ja oder nein, Bürgerversicherung ja oder nein, doppelte Staatsbürgerschaft ja oder nein, Mindestlohn ja oder nein. "Out of area"-Einsätze der Bundeswehr ja oder nein. Alles Themen, über die es sich zu streiten lohnt.
In den Sumpf des Unsinns gezogen
Aber Corona? Vergangene Woche hatte die Mediensendung des Deutschlandfunks (DLF) einen rechtschaffenen und beredten Mann eingeladen, der sich als Handwerker vorstellte. Und in dessen Wahrnehmung die klassischen Medien in Sachen Corona total versagten.
Wieso er das so sehe, wollte die Moderatorin wissen. Weil es nichts Kritisches zum Impfen in den Medien gebe, sagte der Mann. Weshalb er sich in alternativen Medien informiere. Und von denen in den Sumpf des Unsinns gezogen wird.
Es ist genau andersrum, als der Handwerker vom DLF meint: Die Medien, die sich professionell und gemäß unserem Berufsethos verhalten, verweigern sich ihrer Informationspflicht nicht. Sie nehmen sie verantwortungsbewusst wahr. Sie sagen, sie berichten: Ja, es bedarf einer Risikoabwägung, einen so schnell und noch auf der Basis einer neuen Wirkweise entwickelten Impfstoff weltweit milliardenfach einzusetzen.
Aber erstens hat dieser weltweite Einsatz (da hatte Olaf Scholz mit seinen Versuchskaninchen schon recht, auch wenn der Begriff unglücklich war) ergeben, dass er hochwirksam ist und zweitens im Grundsatz keine nicht zu verantwortenden Nebenwirkungen aufweist.
Was, wenn Corona ein Fliegeralarm wäre?
Aber das wollen Leute wie der Handwerker im Deutschlandfunk nicht hören. Sie wollen hören, dass dem Zeug nicht zu trauen ist, obwohl das Gegenteil weltweit bewiesen ist. Oder sie wollen aus reiner Lust am Labern und Lamentieren weiter über individuelle Freiheit und den bösen Staat reden, dem die Sache gerade recht kommt, um sich in eine Art Diktatur zu verwandeln. Und die Kinder mit Maskentragen schikaniert und traumatisiert.
Kleines Gedankenspiel: Stellen wir uns vor, es wäre Fliegeralarm. Und die Debatte würde in etwa so geführt wie bei Corona.
Dann würde der Erste, kaum wäre die Meldung da, schon mal die Tödlichkeit der Bomben infrage stellen, die da demnächst vom Himmel fallen (oder am besten schon den Anflug der Flugzeuge. Und vielleicht werfen sie ja auch Kamellen ab?). Der nächste würde sagen: Luftschutzbunker – da bekomme ich immer solche Beklemmungen, und die Kinder! Denen fehlen die frische Luft und das Licht und die Bewegung! Und der Hedonist, der seine Selbstsucht als Freiheitskampf verbrämt, würde von seinem Recht Gebrauch machen, dennoch auf den Tennisplatz zu gehen. Mit dem Unterschied übrigens, dass im Fall der Fliegerbomben nur sein Leben von seinem Fehlverhalten abhängt und nicht ebenso das seiner Mitmenschen wie bei Corona.
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Italien: Mit militärischer Disziplin und Präzision
Es ist möglicherweise kein Zufall, dass ein Land wie Israel, gewohnt an ein Leben in permanenter Gefahr, erwachsener und damit erfolgreicher mit Covid-19 umgeht als Deutschland und mancher seiner ebenso friedens- und wohlstandsverwöhnten Anrainer.
Es ist möglicherweise kein Zufall, dass der zupackende italienische Regierungschef Mario Draghi einen dekorierten Afghanistan- und Kosovo-Veteranen zum obersten Corona-General gemacht hat und Italien, einstmals mit Südtirol und Bergamo ein Ground Zero des Virus, inzwischen zum Musterland in Sachen Covid mutiert ist. Weil es hier nichts mehr zu diskutieren gibt, sondern nur noch zu handeln. Mit militärischer Disziplin und Präzision. Auch in Deutschland wird nun offenbar ein Bundeswehrgeneral an die Spitze des Corona-Krisenstabs gesetzt.
Hierzulande wurde viel zu lange (und wird immer noch) jeden dritten Abend die Glotze angeschaltet, und wir ergötzten uns bei Chips und Bier daran, wenn ein abgehalfterter Professoren-Scharlatan bei zu Unrecht vermuteter Kompetenz gemeingefährlich verharmlosenden Unsinn über das Virus verbreitete und für Quote sorgte. Sucharit Bhakdi hat sich zwar inzwischen endgültig ins Abseits manövriert. Aber vorher Unmengen von Menschen wie den Handwerker aus dem Deutschlandfunk mit seinem Unfug infiziert, während das Virus weiter tobte und die Intensivstationen füllte.
Vor vielen Jahren hat der amerikanische Medienwissenschaftler Neil Postman über die sedierende und verblödende Wirkung des Talkshow-Trash-TV geschrieben. "Wir amüsieren uns zu Tode" hieß das Buch. Jahrzehnte später, in Zeiten von Corona, offenbart dieser Titel seine bittere und buchstäbliche Wahrheit.