Jewgeni Prigoschin Fürchtet Putin diesen Mann?
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Russische Männer wollen nicht in den Krieg. Wladimir Putin setzt deshalb auf die Hilfe seines brutalen "Kochs". Wo das alles hinführen soll? Das fragt sich auch Wladimir Kaminer.
In der letzten Zeit hat ein Mann aus Russland beinahe für noch mehr Aufsehen im Westen gesorgt als Wladimir Putin höchstpersönlich. Der als "Putins Koch" verspottete "Geschäftsmann" Jewgeni Prigoschin aus Sankt Petersburg ist zu Putins wichtigstem Kriegsherrn aufgestiegen.
Man munkelt, seine aus Knackis und Profikillern bestehende Söldner-Brigade "Wagner", die Kriegserfahrung in Syrien und Zentralafrika gesammelt hat, sei zurzeit die einzige funktionierende Einheit an der ukrainischen Front. Sie untersteht jedoch nicht dem russischen Generalstab, sondern dem "Koch" persönlich. Mit einer Troll-Fabrik – Prigoschin ist recht umtriebig – hat er weltweit in sozialen Netzwerken immer wieder Stimmungsmache für Putin und das Regime betrieben. Jetzt droht Prigoschin, bei den US-Präsidentschaftswahlen 2024 wieder kräftig mitzumischen.
Wladimir Kaminer ist Schriftsteller und Kolumnist. Er wurde 1967 in Moskau geboren und lebt seit mehr als 30 Jahren in Deutschland. Zu seinen bekanntesten Werken gehört "Russendisko". Kürzlich erschien sein neues Buch "Wie sage ich es meiner Mutter. Die neue Welt erklärt: von Gendersternchen bis Bio-Siegel".
Der "Koch" scheint radikaler als sein Präsident zu sein. Er schickte, während Emmanuel Macron und Olaf Scholz Ende November noch mit dem Kremlchef telefonierten, einen mit Blut verschmierten Hammer an das EU-Parlament. Als eine Art barbarische Absage gegenüber jedem Versuch des Westens, Frieden im Osten zu stiften. In russischen Regierungskreisen schlagen Prigoschin ambivalente Gefühle entgegen: Von alteingesessenen politischen Eliten und hohen Armeeoffizieren wird er gehasst, von kriminellen Autoritäten vergöttert.
Immerhin hat der "Koch" angeblich eine Begnadigung für jeden einzelnen Knastinsassen Russlands in der Hosentasche, die er vom Präsidenten persönlich erhalten hat. Mörder und Vergewaltiger, Schwerverbrecher jeder Couleur – mit einem Wort: Jeder, der bereit ist, in den Krieg zu ziehen, wird seine Strafe erlassen bekommen. Dabei muss dieser Gefangene nicht unbedingt an die Front gelangen, er könnte auch unterwegs als "verschollen" gelten oder sich infolge eines feindlichen Raketenangriffs in Luft auflösen und wenig später mit einer neuen Identität in friedlicheren Teilen des Landes wiederauferstehen.
Wer ist Koch und wer ist Kellner?
Damit hat das Zerbröseln des Staatswesens in Russland einen neuen Höhepunkt erreicht, denn auf den Knast war eigentlich noch immer Verlass. Nach der Vernichtung der unabhängigen Gerichte, der ideologischen Säuberung des Parlaments, der Schließung oppositioneller Institute und der Legalisierung privater Militäreinheiten sowie dem ständigen Umschreiben der Verfassung blieb nur der Knast als letztes Bollwerk der Staatsgewalt unangetastet.
Ein Mörder, ein Vergewaltiger, sollte er einmal vor Gericht kommen, musste eine lange Haftstrafe absitzen. Jetzt nicht mehr. Der "Koch" hat einen Blankoscheck für alle Gefangenen des Landes in der Hand. Man darf jetzt morden und rauben, in den Knast kommen und gleich am nächsten Tag wieder raus – als "Soldat", versteht sich.
Der Präsident bestreitet in der Öffentlichkeit hingegen jegliche Verbindung zu dem mysteriösen "Koch". "Alle Küchenmitarbeiter in der Administration des Präsidenten sind geprüfte und entsprechend ausgebildete Offiziere der Staatssicherheit. Andere Köche haben keinen Zugang zur Präsidentenküche", lautet die offizielle Erklärung aus dem Kreml.
Wer also ist dieser Prigoschin wirklich?
Wie alle in der Sowjetunion geborenen Menschen hatte auch "Putins Koch" zwei Leben, eins vor und eins nach dem Zusammenbruch der UdSSR. In der Sowjetunion hatte Prigoschin selbst Schwierigkeiten mit dem Gesetz. In seiner Karriere als Krimineller hatte der "Koch" gegen so ziemlich alle Paragrafen des Strafgesetzbuchs verstoßen, die Liste seiner Vergehen reicht von Diebstählen und Schlägereien bis hin zum versuchten Raubüberfall, Zuhälterei und Erpressung.
Zumindest der Knast funktionierte
Die Haftanstalten funktionierten in der Sowjetunion vorbildlich, also verbrachte der "Koch" einen beträchtlichen Teil seiner Jugend hinter Gittern. Kaum wurde er aus dem Knast entlassen, löste sich die Sowjetunion auf. Der neue kapitalistische Lebensabschnitt begann für die meisten Bürger des Landes mit einer Katastrophe. Für sie war der Zusammenbruch der Sowjetunion mit Verlust ihres sozialen Status verbunden, sie waren auf einmal Ingenieure ohne Arbeit, Beamte ohne Staat, Generäle ohne Armee.
Prigoschin aber hatte nichts zu verlieren, er war nur ein Ex-Knacki, es konnte also nur besser werden. Er begann mit Hot Dogs in Sankt Petersburg, die Würstchen galten damals als Inbegriff des Kapitalismus, in allen amerikanischen Filmen aßen die Menschen Hot Dogs – bevor sie ihre Millionen verdienten. Also versuchten die Russen, es den Amerikanern nachzumachen, sie rissen Prigoschin die Würstchen buchstäblich aus der Hand.
Es hat nicht lange gedauert, da eröffnete unser angehender "Koch" sein erstes Restaurant, dann das zweite und dritte. In einem solchen Restaurant hat der zukünftige Präsident Putin damals gerne gespeist, natürlich auf "Rechnung". Und obwohl er zu jener Zeit noch ein kleiner Fisch im Petersburger Beamtenbecken war, bediente der "Koch", der selbst niemals kochte, ihn persönlich, er hatte in dem kleinen Mann dessen wahre Größe erkannt.
Als Gage bekam der "Koch" den Auftrag, für alle Schulen der Stadt Frühstücksmenüs zu liefern. Als Putins Mann im Hintergrund blieb er immer im Schatten, großen Teilen der Bevölkerung war Prigoschin vollkommen unbekannt. Erst mit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine wurde er für den Präsidenten unverzichtbar. Denn der Krieg lief plötzlich aus dem Ruder.
Putin lügt vor sich hin
Statt ein Spaziergang zu sein, entwickelte sich die Aggression gegen die Ukraine zu einer blutigen und andauernden Schlacht. Die Loyalität der Bürger gegenüber dem Regime hielt so lange stand, bis der Krieg aus dem Fernseher tatsächlich zu ihnen in die Wohnung kam. Der erste Versuch, die Menschen zu mobilisieren, scheiterte kläglich. Die verwirrten Bürger versteckten sich, liefen weg oder verließen das Land.
Alle Versuche der Propaganda, den Angriffskrieg als einen "Volkskrieg zur Heimatverteidigung" zu verkaufen, scheiterten. Es ist eben sehr schwierig, Menschen zu erklären, warum ihr Land ein Nachbarland angreift, unschuldige Zivilisten tötet und sie nun dafür auch noch ihr Leben aufs Spiel setzen sollen.
Putin gab sich Mühe bei der Aufklärung der Bevölkerung. Er traf sich öffentlichkeitswirksam mit speziell dafür ausgewählten, loyalen Soldatenmüttern, die ihre Söhne bereits in den Schützengraben der Ukraine verloren hatten. Und erzählte ihnen, dass jährlich im Land durch Genuss von gepanschtem Alkohol 30.000 Bürger umkommen, noch mehr durch Verkehrsunfälle auf schlechten Straßen und mindestens eine Million einfach so.
Es sei also ein großes Glück gewesen, so Putin, dass ihre Söhne für etwas wirklich Wichtiges sterben konnten. Zum Beispiel für die Vergrößerung der Heimat, dazu noch für gutes Geld. Die Mütter nickten zwar nach jedem Satz des Präsidenten, zeigten jedoch keine größere Begeisterung. Allen Anstrengungen der Propaganda zum Trotz, die Bürger darüber aufzuklären, dass der Tod sowieso unvermeidlich sei und dass es eigentlich sogar viel besser sei, jetzt in der Ukraine zu sterben als später zu Hause auf dem Sofa. Aber die Russen wollen einfach keine Todeslust entwickeln, jedenfalls nicht in dem von der Regierung erwarteten Ausmaß.
Der "Koch" auf Anwerbetour
Es ist klar: Eine zweite Mobilisierungskampagne würde diese Gesellschaft brechen. Irgendeiner muss aber den Krieg weiterführen, um das Regime vor einer Niederlage zu bewahren. Da kam der "Koch" mit einer erlösenden Idee: Es gibt doch noch seine alten Freunde, die Knackis! In den russischen Knästen sitzen eine halbe Million Menschen, das ist doch eine ganze Armee, wenn man sich das mal genau überlegt.
Die Mobilisierung dort läuft vorzüglich, nach neuesten Informationen haben sechs Straflager bereits mangels Insassen zugemacht, Zehntausende sind raus, vom "Koch" befreit. Sie sind bewaffnet und in Richtung Ukraine geschickt worden. Interessanterweise stieg die Kriminalität in den russischen Regionen, die nahe der ukrainischen Grenze liegen, in den letzten Monaten sprunghaft um 600 Prozent an.
Egal, wie der Krieg ausgeht, die befreiten und bewaffneten Sträflinge werden niemals wieder in den Knast zurückkehren. Inzwischen wirbt Prigoschin in Zentralafrika und in Mali Söldner an, ehemalige Kindersoldaten, die nichts zu verlieren haben. Auch sie, einmal nach Russland ausgeflogen, werden dort bleiben, unabhängig vom weiteren Verlauf des Krieges.
Der "Koch" nutzt die Schwäche des Staates und kocht sein eigenes Süppchen, an dem sich der Kreml früher oder später verschlucken wird.