30 Grad im April Ein neues Zeitalter beginnt
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Was sich für den Moment schön anfühlt, ist in Wahrheit extrem. Das Wetter zeigt, wie akut die Situation ist: Jahreszeiten lassen sich in diesem Klima nicht mehr berechnen.
Viele Deutsche haben das Sommerwetter am vergangenen Wochenende genossen. Auch ich habe es genutzt. Erst habe ich draußen gefrühstückt, anschließend meinen Balkon bepflanzt. Gefühlter Hochsommer, dabei war der kalendarische Frühlingsanfang kaum zwei Wochen her. Im Innenhof blühte bereits, viel zu früh, der Flieder.
Ob das Wetter aktuell normal sei für die Region, fragt ein Gast aus Italien dieser Tage in der Kantine, oder ob das der Klimawandel sei. Ach, das sei April, antwortet eine Kollegin. Vor ein paar Jahren hätten wir auch an Ostern fast 30 Grad gehabt. Auch da steckten wir schon mitten in der Klimakrise, werfe ich ein und erwähne, dass am Wochenende im Süden Deutschlands eine neue Höchsttemperatur gemessen wurde: 30,1 Grad in Ohlsbach in Baden-Württemberg, am 6. April. Es ist der früheste Hitzetag seit Beginn der Wetteraufzeichnung. Ja, klar, antwortet die Kollegin – aber das hätten wir ja ständig.
Normal ist das nicht, aber wir haben uns daran gewöhnt. Von immer neuen "Hitzerekorden" höre ich in den Nachrichten, solange ich mich erinnern kann. Als Kind hat mir das Angst gemacht. Irgendwann hat es mich nicht mehr berührt. (Warum ich es für angemessener halte, von Höchstwerten zu sprechen, erkläre ich hier.)
Vom Geruch der Waldbrände aufgewacht
In den vergangenen 15 Jahren habe ich solche Temperaturausreißer zum Teil zwar wahrgenommen, mich auch leicht gewundert. Aber ich habe sie vor allem genossen. Einige sind mir in Erinnerung geblieben, die faulen Tage am See im Hitzesommer 2006 etwa und eine Nacht im Oktober 2009, während meines Erasmus-Semsters in Paris, als wir, nur mit T-Shirts und Strickjacken bekleidet, durch die Straßen zogen. 2018 kam bei mir zur Verwunderung über extreme Wetterlagen ein leichter Grusel dazu.
Im Sommer hatten wir auf der Arbeit ab mittags mehrere Tage am Stück hitzefrei und gingen ins Freibad. Nachts konnte ich in meiner Berliner Altbauwohnung vor Hitze kaum schlafen. Der Geruch von Waldbränden in Brandenburg ließ mich einmal sogar aufwachen. Im Klima-Risiko-Index der Entwicklungsorganisation Germanwatch landetet Deutschland damals erstmals auf Platz drei der Länder mit den meisten Klimaschäden. Hitzewellen, Dürren und Stürme hatten massive Folgen hinterlassen. Nur Japan und die Philippinen waren 2018 noch stärker von Extremwetter betroffen.
Als im Februar 2021 mehrere Tage in Folge 20 Grad gemessen wurden, strömten viele nach der langen Isolation des Coronawinters erleichtert nach draußen, genossen die Sonne und die Temperaturen. Innerhalb von sieben Tagen waren sie teils um 40 Grad gestiegen. Ich hielt es damals kaum aus.
Ein kleiner Kratzer in der Normalitätssimulation
Mir war in den Monaten zuvor immer klarer geworden, dass die Klimakrise keine ferne und diffuse Bedrohung war. Sondern, dass auch ich, sogar meine Eltern, ihre Auswirkungen massiv spüren werden.
Die Folgen der Klimakrise sehe ich seitdem jeden einzelnen Tag. Oft sind sie mir schmerzlich bewusst. Seit Kurzem kann ich Sonne und Wärme trotzdem wieder einigermaßen genießen. Nur wenn jemand von "schönem Wetter" spricht, zucke ich innerlich zusammen. Eine Freundin schlug vor, es "zu schönes Wetter" zu nennen. Das erkennt an, dass man sich nach einem langen Winter durchaus über Sonne freuen darf, hinterlässt aber immerhin einen kleinen Kratzer in der Normalitätssimulation, in der wir leben.
So akut wie heute war die Situation noch nie, betont der Klimawissenschaftler und Gründungsdirektor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, Hans-Joachim Schellnhuber, in einem Interview mit dem "Stern". Er habe vor 30 Jahren nicht damit gerechnet, dass die Lage so dramatisch werden würde: "Wir dachten, es geht immerhin um das Überleben unserer Zivilisation, die Menschheit kann gar nicht so verbohrt und gleichgültig sein, dass sie hier nicht entschlossen gegensteuert. Dass man zum kollektiven Selbstmord aus Bequemlichkeit bereit ist, ging über unsere Vorstellungskraft."
Auch wenn sich das im Alltag oft verdrängen lässt: Normal ist es wirklich nicht, was wir seit Jahren erleben. Eine Grafik der US-Raumfahrtbehörde Nasa verdeutlicht das besonders gut, meiner Meinung nach sollte sie jede und jeder einmal gesehen haben. Sie zeigt die Temperaturentwicklung in den vergangenen 20.000 Jahren; wie wir sehen, war sie rund 11.000 Jahre relativ stabil. Diese Periode wird als Holozän bezeichnet – und wir haben sie bereits verlassen.
Dieses Klima haben wir bereits verlassen
Holozän, den Begriff kannte ich seit Jahren. Was er genau bedeutet, war mir lange nicht klar. Historisch gesehen war diese erdzeitgeschichtliche Epoche ein Glücksfall für uns Menschen. Denn das vergleichsweise stabile und berechenbare Klima mit seinen wiederkehrenden Jahreszeiten ermöglichte es uns, Landwirtschaft zu entwickeln und zu betreiben. Und eben das war die Voraussetzung dafür, dass wir eine Arbeitsteilung entwickeln konnten.
Einige Menschen konnten Lebensmittel anbauen, andere sich im Handwerk spezialisieren oder damit beschäftigen, wie sie den menschlichen Körper heilen können. Diese Arbeitsteilung war die Grundlage dafür, dass wir Siedlungen und Städte entwickeln, Wege und Straßen anlegen und die Zivilisation aufbauen konnten, in der wir heute leben. Mit all den globalen Lieferketten und Verflechtungen, die heute zu unserem Alltag gehören und die uns oft selbstverständlich erscheinen.
Zur Person
Die Lage ist extrem ernst, aber nicht hoffnungslos. Nach diesem Motto erklärt die freie Journalistin Sara Schurmann die großen Zusammenhänge und kleinen Details der Klimakrise so, dass jede und jeder sie verstehen kann.
Etwa in ihrem Buch "Klartext Klima!" – und jetzt in ihrer Kolumne bei t-online. Für ihre Arbeit wurde sie 2022 vom Medium Magazin zur Wissenschaftsjournalistin des Jahres gewählt.
Schauen wir ans rechte Ende der Grafik, sehen wir, dass wir dieses Klima bereits verlassen haben. In den vergangenen 100 Jahren hat die Menschheit die Erde bereits um rund 1,3 Grad erhitzt. Zuletzt wurde erstmals 12 Monate am Stück sogar die Marke von 1,5 Grad überschritten.
Klimaklage bekommt recht
Nicht nur Pflanzen und Tiere sind verwirrt und leiden. Auch für uns Menschen hat das chaotischer werdende Klima drastische Konsequenzen. Weder unsere Landwirtschaft noch unsere Infrastruktur ist darauf ausgelegt. Um unsere Zivilisation und unser Leben, wie wir es kennen, zu schützen, geht es jetzt darum, die Erderhitzung so schnell und so stark wie möglich zu begrenzen und auf einem Level zu stabilisieren, an das wir uns einigermaßen gut anpassen können. Den Rahmen dafür gibt das Pariser Klimaschutzabkommen vor. 195 Staaten dieser Erde haben sich darin verpflichtet, die Erderhitzung auf möglichst 1,5, wenigstens aber "deutlich unter 2 Grad" zu begrenzen. Ernsthaft probiert wird das bisher nicht.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat daher vor ein paar Tagen einer Klage von Schweizer Seniorinnen recht gegeben. Die unzureichenden Klimaschutzmaßnahmen der Schweiz würden die Rechte älterer Frauen besonders verletzen. Denn sie seien stark von der extremen Hitze betroffen, die aufgrund der globalen Erwärmung immer häufiger auftritt. Die Klägerinnen hatten, initiiert und unterstützt von Greenpeace, argumentiert, dass die Untätigkeit der Schweizer Regierung sie in Gefahr brächte, bei Hitzewellen zu sterben.
Auch wenn das Urteil zunächst nur für die Schweiz gilt, ist es ein wichtiger Sieg. Mit einer Mehrheit von 16 zu eins haben die Richterinnen und Richter entschieden, dass der Schutz vor den Auswirkungen des menschengemachten Klimawandels zu den europäischen Grundrechten gehört. Das gibt Hoffnung, dass das Urteil bei ähnlichen Klagen künftig als Präzedenzfall dient. Und dass es so Klagenden und Gerichten gelingt, die Politik zum Handeln zu bewegen.