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Ukraine-Krieg | Ukrainischer Militär: "Die Russen sind einfach reingelaufen"


Russische Offensive auf Charkiw
Ukrainischer Kommandeur: "Die Russen sind einfach reingelaufen"

Von dpa, afp, reuters, csi, sic, cck

Aktualisiert am 12.05.2024Lesedauer: 5 Min.
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"Schwierige Lage": Aufnahmen zeigen die angespannte Situation in der Region Charkiw. (Quelle: reuters)

Seit Wochen wurde spekuliert, nun hat Russland einen Vorstoß in der ostukrainischen Region Charkiw gewagt. Ein Überblick über die aktuelle Lage.

Ein neuer russischer Großangriff bei der Millionenstadt Charkiw setzt die geschwächte ukrainische Armee noch stärker unter Druck. Das russische Verteidigungsministerium in Moskau hat am Samstag eine Offensive im Grenzgebiet zur ukrainischen Millionenstadt Charkiw bestätigt.

Russische Truppen haben sechs ukrainische Grenzdörfer besetzt, teilte das Ministerium in Moskau mit. Genannt wurden Striletsche, Krasne, Pylne und Boryssiwka, die etwa 30 Kilometer nördlich von Charkiw in der Nähe des Ortes Lipzy liegen, sowie Ohirzewe bei der Stadt Wowtschansk. Auch sei das Dorf Keramik in der Region Donezk unter russische Kontrolle gebracht worden.

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"Die Russen sind einfach reingelaufen"

Dies deckt sich mit inoffiziellen ukrainischen Militärangaben zu der Offensive, die in der Nacht auf Freitag begann. Die russische Armee nahm für sich in Anspruch, eine hohe Zahl ukrainischen Soldaten ausgeschaltet und deren Technik vernichtet zu haben.

Dafür gab es keine offizielle Bestätigung. Ein Kommandeur einer ukrainischen Spezialaufklärungseinheit, Denys Yaroslavskyi, sagte der britischen BBC: "Es gab keine erste Verteidigungslinie. Wir haben es gesehen. Die Russen sind einfach reingelaufen. Sie sind einfach hineingegangen, ohne irgendwelche verminten Felder." Er zeigte dem BBC-Reporter Videoaufnahmen davon.

Widerstandsbewegung Atesh: Soldaten verweigerten sich

Im Osten der Ukraine nahe Charkiw soll es auch zu einer Befehlsverweigerung innerhalb einer Einheit des russischen Militärs gekommen sein. Nach Informationen des "Kyiv Independent" verweigerte eine Einheit eines motorisierten Schützenbataillons der russischen Streitkräfte den Angriffsbefehl. Die Details dazu wurden von einem Mitglied der Widerstandsbewegung Atesh, welches offenbar im 44. Armeekorps der russischen Armee dient, über die soziale Plattform Telegram an die Öffentlichkeit gebracht. Diese Entwicklung könnte auf interne Spannungen und Probleme innerhalb der russischen Truppen hinweisen.

In Moskau hieß es, 34 ukrainische Soldaten seien gefangen genommen worden. Die Zahl konnte nicht bestätigt werden. Bilder einiger mutmaßlicher Soldaten wurden auf russischen Telegramkanälen veröffentlicht, auch wenn dies nach humanitärem Völkerrecht verboten ist.

"Der Besatzer muss spüren, dass es für ihn nirgendwo in der Ukraine leicht sein wird"

Die russische Offensive im Osten der Ukraine stößt ukrainischen Angaben zufolge auf entschlossenen Widerstand. Die feindlichen Truppen aufzuhalten, bleibe für den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj die dringlichste Hauptaufgabe, wie er am Samstag in seiner abendlichen Videoansprache sagte: "Das Erfüllen dieser Aufgabe hängt von jedem Soldaten, jedem Unteroffizier und jedem Offizier ab." Über die Verteidigungsbemühungen sagte der Präsident: "Unsere Truppen führen dort seit zwei Tagen Gegenangriffe durch, um ukrainisches Territorium zu verteidigen." Die ukrainische Militärführung habe bereits Verstärkungen in Richtung Charkiw in Marsch gesetzt.

"Das Zerschlagen der russischen Offensivpläne ist jetzt die Aufgabe Nummer eins", gab Selenskyj die Devise für die nächsten Tage und Wochen aus. Es gehe um die Zerstörung russischer Ausrüstung und die "Neutralisierung" der russischen Aggressoren. "Der Besatzer muss spüren, dass es für ihn nirgendwo in der Ukraine leicht sein wird."

Angriffe begannen am Freitag

Am Freitagmorgen ab 5 Uhr Ortszeit (4 Uhr MESZ) waren russische Bodentruppen im Schutz von Panzerfahrzeugen vorgerückt. Die Bewohner von Wowtschansk wurden kurz darauf dazu aufgerufen, den Ort zu verlassen, wie der britische "Guardian" unter Bezug auf den Leiter der Militärverwaltung der Stadt, Tamaz Gambarashvili, berichtete. Der Großteil der etwa 17.000 Bewohner wurde dazu aufgerufen, die Stadt mit eigenen Fahrzeugen zu verlassen, zusätzlich wollte das humanitäre Zentrum der Ukraine Evakuierungen für Personen organisieren, die keine Fahrzeuge besitzen.

Bis Sonntag wurden nach Behördenangaben mehr als 4.000 Menschen aus den grenznahen Gebieten evakuiert. "Insgesamt wurden 4.073 Menschen evakuiert", erklärte Regionalgouverneur Oleh Synegubow am Sonntag in den Onlinenetzwerken. Er gab überdies an, dass ein 63-Jähriger am Sonntag bei Artilleriebeschuss im Dorf Hlyboke getötet und ein 38-Jähriger in Wowtschansk verletzt worden sei.

Der für die russisch besetzten Teile der Region Charkiw zuständige, von Moskau installierte Vertreter Witali Gantschew erklärte im Onlinedienst Telegram, es fänden Kämpfe an "mehreren Abschnitten der Kontaktlinie" statt, "einschließlich der Grenzgebiete". Er rief die Bewohner betroffener Gebiete auf, "vorsichtig" zu sein und ihre Schutzräume nur in dringenden Fällen zu verlassen.

Russische Truppen könnten mit Zehntausenden vor Ort sein

Ziel der russischen Armee ist es nach Einschätzung eines hochrangigen ukrainischen Militärvertreters, eine "Pufferzone" zu schaffen, um das ukrainische Militär daran zu hindern, die auf russischer Seite gelegene Region Belgorod weiter unter Beschuss zu nehmen. Über entsprechende Pläne hatte im März bereits der russische Präsident Wladimir Putin gesprochen.

Ukrainische und russische Militärbeobachter wie auch ausländische Experten gingen davon aus, dass der Vorstoß zumindest derzeit nicht auf die Stadt Charkiw ziele. Das Institut für Kriegsstudien ISW in den USA sprach von "begrenzten operativen Zielen". Die Angriffe sollten die ukrainischen Kräfte von der Grenze abdrängen; durch das Vorrücken solle Charkiw wieder in die Reichweite russischer Rohrartillerie kommen. Mehr zu den möglichen Zielen Russlands mit der Offensive lesen Sie hier.

Über eine mögliche russische Offensive bei Charkiw wird seit Wochen spekuliert, die Grenzregion um die Großstadt Charkiw im Nordosten der Ukraine ist schon seit einigen Wochen erneut unter verstärktem russischem Beschuss. Es gibt Berichte, dass die russischen Truppen dort mehrere Zehntausend Mann zusammengezogen haben.

Russland nutzt Zeitfenster

Für die ukrainische Armee bedeutet die Offensive ein weiteres Problem an der etwa 1.000 Kilometer langen Front im Osten und Süden, nachdem sie zuletzt schon bei Bachmut und Awdijiwka zurückgedrängt wurde. Den Verteidigern fehlen immer noch Waffen und Munition, nachdem innenpolitischer Streit in den USA über Monate einen regelmäßigen Nachschub verhindert hatte.

Mittlerweile ist ein milliardenschweres Rüstungspaket beschlossen. Doch Russland versuche die Zeit bis zum Eintreffen dieser Waffen an der Front auszunutzen, sagte der Kommandeur des ukrainischen Heeres, Olexander Pawljuk, der britischen Zeitschrift "Economist". "Russland weiß, dass sich die Lage gegen sie wenden könnte, wenn wir in ein bis zwei Monaten genügend Waffen bekommen."

Ukraine beschießt Grenzregion, um Nachschubwege zu stören

Die russische Seite des Grenzgebiets ist die einzige Region, die bislang vom Krieg erfasst worden ist. Die ukrainische Armee beschießt die Großstadt Belgorod und ihr Umland mit Drohnen und Artillerie. Sie will damit den russischen Nachschub stören und den Beschuss auf Charkiw unterbinden. Zudem griffen pro-ukrainische, russische Milizen Belgorod und Kursk vom Boden der Ukraine ausgehend an. Die Kämpfe auf russischem Boden waren für Moskau gerade während der Präsidentenwahl Mitte März ein Problem. Putin drohte damals an, ukrainisches Gebiet als Sicherheitszone zu erobern, um Belgorod und andere Städte in Grenznähe zu schützen.

Russland versucht seit Beginn seiner Invasion im Februar 2022, die Grenzregion Charkiw zu erobern. Im Herbst 2022 musste sich die Armee von dort zurückziehen. Doch wie überall an der Front sind es auch in dieser Region seit dem Scheitern der ukrainischen Gegenoffensive im Sommer 2023 die russischen Streitkräfte, die derzeit die Initiative ergreifen.

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