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Zum journalistischen Leitbild von t-online."Ich bin einfach zu blöd" Wie Verbitterung uns vergiftet – und was dagegen hilft
Der Partner geht fremd, der Chef bevorzugt ständig die Kollegin, eine Kündigung kommt aus heiterem Himmel. Wir erleben immer wieder
Wie wir auf schmerzliche Erfahrungen reagieren, unterscheidet sich. Bei wem sie sich in der Seele einnisten, wird verbittert, eine Emotion, die – wie auch Angst – wahrscheinlich jeder kennt.
Die Weltgesundheitsorganisation WHO führt jetzt in ihrem Krankheitskatalog erstmals "Verbitterungsreaktionen" auf.
Wann Menschen verbittern
Menschen reagieren bitter auf Herabwürdigungen, Erniedrigungen, Ungerechtigkeit oder Vertrauensbruch. Auch wenn der Partner sich nicht so verhält, wie wir es uns wünschen oder wir einen Misserfolg erleben, was ja eigentlich zum Leben dazu gehört, kann man darüber verbittern. Ebenso können eigene "Unzulänglichkeiten", etwa Übergewicht oder Nikotinsucht zu Verbitterung führen. "Ich bin einfach zu blöd, mich zusammenzureißen", "Diese Bohnenstangen überall…"
Jeder Mensch empfindet anderes als kränkend, jeder Mensch reagiert unterschiedlich. Selbst eine kleine Bemerkung, ein Nichtgrüßen, ein genervter Blick können Verbitterungsreaktionen hervorrufen.
Welchen Schaden Verbitterung anrichten kann
Bei Verbitterung können zu dem schlimmen Gefühl weitere auftauchen, wie Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Niedergeschlagenheit. Oft nimmt jemand dann eine Opferhaltung an oder wird aggressiv oder entwickelt Rachephantasien. Oder Groll und Wut richten sich gegen einen selbst: "Wie konnte ich nur so blöd sein, dem Mann zu vertrauen?", "Wer so doof ist wie ich, an das Gute im Menschen zu glauben..." Wieder andere werden antriebsarm oder entwickeln sogar körperliche Beschwerden.
Einige Reaktionen zeigen alle Verbitterten:
- Rückzug aus sozialen Kontakten,
- Abkapselung und
- Verhärtung.
Die neue psychiatrische Diagnose "Posttraumatische Verbitterungsstörung"
Mit Bitterkeit auf kränkende Ereignisse zu reagieren, ist normal und menschlich. Aber unter bestimmten Bedingungen wird Verbitterung ab 2022 als Störung mit Krankheitswert diagnostiziert: In der Neuauflage des International Diagnostic Catalogue ICD-11, nach dem Ärzte Krankheiten diagnostizieren, ist die "Posttraumatische Verbitterungsstörung" erstmals als Unterklasse der Anpassungsstörungen auf Belastungen wie etwa ein Trauma oder einen Verlust aufgeführt.
Wie unterscheidet sich also die manchmal zum Leben gehörende Bitterkeit von der diagnostizierten?
Der Unterschied zu gewöhnlicher Verbitterung
Eine "Posttraumatische Verbitterungsstörung (Posttraumatic Embitterment Disorder = PTED)" liegt vor, wenn jemand ein einschneidendes negatives Ereignis mit Unrecht, Erniedrigung, psychischer oder körperlicher Gewalt dauerhaft als ungerecht oder herabwürdigend empfindet. Der- oder diejenige ist ständig damit beschäftigt und misslaunig, reagiert emotional erregt, fremd- oder selbstaggressiv. Es kommt oft zu Schlafstörungen, Appetitverlust oder körperlichen Schmerzen. Dabei ist über viele Monate keine psychische Bewältigung möglich.
Man geht zurzeit davon aus, dass dies bei etwa zwei bis drei Prozent der Bevölkerung auftritt. In Zeiten von großen sozialen Umbrüchen, wie nach der deutschen Wiedervereinigung, tritt diese Störung verstärkt auf.
Wie man Verbitterung entkommt und wieder Freude am Leben findet
Wenn man sich bewusst macht, dass die Verbitterung nur EINE Reaktion der seelischen Verarbeitung auf belastende Erlebnisse ist, hilft schon allein das, davon wegzukommen: Man kann sich zudem vor Augen führen, dass jemand anderes bei dem gleichen Anlass vielleicht lediglich eine Weile um einen Verlust oder eine Niederlage trauert und dann neue Wege geht.
Verbitterte fühlen sich oft als Opfer von Ungerechtigkeit, Betrug, Dummheit und Bosheit und beklagen sich recht permanent darüber. Dann kann es sein, dass sie mit selektiver Wahrnehmung alle weiteren Erlebnisse als Bestätigung der Verbitterung sehen und so auch immun gegen Einwände sind. Es ist deshalb für Außenstehende schwer, an diesen Menschen mit seinem Groll heranzukommen, denn er verschließt sich gegen Einwände, gute Ratschläge, Tröstungsversuche.
Zwei Dinge sind zentral, um aus krankhafter Verbitterung herauszukommen: Das Beenden von unrealistischen Wünschen und Erwartungen sowie ein Perspektivenwechsel:
- Perspektivenwechsel, Verstehen, Vergeben: Wenn man die Perspektive wechselt und sich in eine andere Person hineinversetzt, kann man damit aus seiner Selbstbezogenheit und Isolation aussteigen, die die Verbitterung kennzeichnet. Man distanziert sich auch von seinen Verletzungen und gewinnt Souveränität zurück. Außerdem kann man so die Gründe verstehen, weshalb jemand einen gekränkt, betrogen oder unfair behandelt hat.
- Verständnis ist der Gegenpol zu Verbitterung: Die Übung "Rollenwechsel" kann hier gut helfen: Man wechselt probeweise den Standpunkt und setzt sich auf einen Stuhl, der die andere Person verkörpert. Auf dieser Position erzählt man in der Ich-Perspektive der anderen Person über deren Gefühle, Beweggründe, Sichtweisen. Man muss schon über seinen Schatten springen, aber der Effekt ist verblüffend, denn in der Folge können vollkommen neue Erkenntnisse und eine versöhnliche Haltung zu der Person entstehen. Dazu gehört als Steigerung das Vergeben: Indem man anderen ihre Fehler vergibt, findet man in eine großzügige Haltung mit einer positiven Stimmung. Viele Opfer von Gewalt und anderem Unrecht finden damit zu innerem Frieden. Voraussetzung ist die Bereitschaft, nicht mehr zu leiden und die Beschäftigung mit dem Thema zu lassen.
- Unrealistische Wünsche und Erwartungen beenden / Haltung der Akzeptanz: Es gibt unzählige Vorstellungen, Wünsche und Erwartungen an uns selbst, an andere Menschen und das Leben allgemein, die partout nicht in Erfüllung gehen. Diese zu erkennen und zu beenden ist eine zentrale innere Bewegung, um aus der Verbitterung herauszukommen. Der Umgang mit Verbitterung ist also auch eine Haltungsfrage: Wir sollten Unrecht und Unzulänglichkeit als Teil des Lebens akzeptieren, denn so ist das Leben. Das bedeutet auch, dass wir Reste kindlichen Wunschdenkens beenden müssen. Dann können wir akzeptieren: "Das Leben läuft nicht unbedingt so, wie ich es mir wünsche." Oder auch: "Das Leben ist ungerecht." In dem Moment, in dem wir das akzeptieren, gewinnen wir innere Freiheit.
- Verbindung mit anderen Menschen: Groll macht uns einsam und Einsamkeit schadet uns psychisch und körperlich – das ist nachgewiesen. Wenn wir unsere Isolation beenden, flauen auch negative Gedanken ab. Man kann wieder zu einem Menschen Kontakt aufnehmen, dem man sich persönlich öffnet.
- Dankbarkeit ist ein Gegengewicht zur Fokussierung auf das Negative. Je mehr man sich mit einem negativen Inhalt beschäftigt, desto mehr Gewicht bekommt er auch. Finden Sie täglich mindestens drei Dinge, für die Sie dankbar sind, und fühlen Sie sie.
- Verantwortung: Wer Verantwortung für das eigene Leben übernimmt anstatt in der Opferrolle zu verharren, stärkt das Gefühl von Selbstwirksamkeit: "Ich kann etwas tun, entscheiden oder beeinflussen und bin damit Herr oder Herrin über mein Leben." Dann erkennt man auch, dass man selbst verantwortlich für seine Reaktionen ist: Verbittern – oder Vergeben, Beiseite-Legen, Trauern, darüber lachen. Gerade das Vergeben ist ein interessantes Gegenmittel bei Verbitterung.
Ulrike Scheuermann ist Diplom-Psychologin und Bestsellerautorin. Seit 25 Jahren hilft sie Menschen dabei, gut für sich zu sorgen. Ihre Self-Care-Programme finden in ihrer Akademie in Berlin statt.
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
- Ulrike Scheuermann