Unselige Debattenkultur Baerbock-Bashing geht immer
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Außenminister sind bekannt und beliebt, über die Parteigrenzen hinweg. Bei Annalena Baerbock ist das anders: Geht gar nicht, lautet ein verbreitetes Urteil über ihre Amtsführung, vor allem in den Medien. Macht die Frau wirklich so viel falsch?
In der vergangenen Woche hat sie wieder einen Fehler gemacht. In den Tagesthemen sprach Annalena Baerbock vom 9. September, dem Tag des Terrorangriffs auf die USA. Sie meinte den 11. September, hatte offenbar Nine-Eleven im Kopf, die amerikanische Variante des Datums. Also ein Versprecher. Unsere Kollegen von "Focus Online" machten ein Video daraus, garniert mit hämischen Kommentaren aus dem Internet. Mein geschätzter Kollege Ulrich Reitz schrieb in seinem Kommentar, das dürfe einer Außenministerin nicht passieren. Ein Versprecher!
Diese Interview-Episode ist typisch für den Umgang mit der grünen Außenministerin. Auf TikTok, X und Instagram schlägt ihr eine Welle der Ablehnung entgegen. In scheinbar lustigen Memes wird sie als Dummchen verächtlich gemacht. Ein Brachialkomiker erheitert sein Publikum mit drastischer Baerbock-Comedy, das Video ist ein Hit auf TikTok. "Nius", die Plattform des ehemaligen Bild-Chefs Julian Reichelt, stellte nach dem ARD-Interview gleich eine Liste zusammen: die zehn peinlichsten Versprecher der Außenministerin. So was klickt gut. In der rechten Gosse erzählt man sich auch gern Herrenwitze über Annalena.
Zur Person
Uwe Vorkötter Uwe Vorkötter gehört zu den erfahrensten Journalisten der Republik. Seit vier Jahrzehnten analysiert er Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, er hat schon die Bundeskanzler Schmidt und Kohl aus der Nähe beobachtet. Als Chefredakteur leitete er die "Stuttgarter Zeitung", die "Berliner Zeitung" und die "Frankfurter Rundschau". Er ist Herausgeber von "Horizont", einem Fachmedium für die Kommunikationsbranche. Nach Stationen in Brüssel, Berlin und Frankfurt lebt Vorkötter wieder in Stuttgart. Aufgewachsen ist er im Ruhrgebiet, wo man das offene Wort schätzt und die Politik nicht einfach den Politikern überlässt. Bei t-online erscheint jeden Dienstag seine Kolumne "Elder Statesman".
Mit diesem Schund werde ich mich hier nicht auseinandersetzen. Sondern nur mit der Kritik an Baerbock, die von ernstzunehmenden Journalisten wie Reitz, Jan Fleischhauer ("Der schwarze Kanal") oder Nikolaus Blome ("Spiegel") formuliert wird. Es sind überwiegend konservative Autoren, aber auch Linke wie der "Freitag"-Herausgeber Jakob Augstein stimmen in diesen Chor ein. Ihre Kritik findet viel Resonanz im Publikum, jedenfalls außerhalb des Fanclubs der Ampelkoalition. Aber der kann seine Mitgliederversammlung ja inzwischen im Wohnzimmer des Kanzlers veranstalten.
Was also macht Baerbock falsch? Als erstes Stichwort fällt: China. Sie hat Xi Jinping öffentlich einen Diktator genannt. Xi, den sein Volk "Überragender Führer" nennen darf. Ist es falsch, die Wahrheit auszusprechen? Ja, wenn man in und gegenüber China so auftritt, wie Olaf Scholz das gerade vorgeführt hat, begleitet von einem Trupp von Dax-Vorständen. Wie Markus Söder das kurz vorher gemacht hat, begleitet von einem Trupp bayerischer Unternehmer. Wie Angela Merkel das sechzehn Jahre lang gemacht hat. Da gilt es als Gebot der asiatischen Höflichkeit, den Chef von China nicht zu brüskieren. Und die Weltmacht China, der Rivale des Westens, Taiwan und Hongkong? Huch, das gibt nur Ärger, da halten wir doch besser unsere Klappe!
Floskelhaftes ist nicht ihr Ding
Annalena Baerbock hat in den internationalen Beziehungen von Anfang an eine klare Sprache gesprochen, das Floskelhafte ist nicht ihr Ding. Das trägt ihr den Vorwurf ein, sie sei undiplomatisch. Ein anderer Vorwurf lautet, sie sei diplomatisch. Als sie kürzlich beim Palästinenser-Präsidenten Mahmud Abbas zu Besuch war, hielt "Bild" ihr vor, sie habe einem Terror-Verharmloser und Holocaust-Leugner die Hand geschüttelt.
Mein Kollege Fleischhauer sah das offizielle Begrüßungsfoto und fragte sich, ob sie den alten Abbas "angeschmachtet" habe. Jedenfalls schaute sie ihm zu freundlich. Zur Sache: Kann man im Nahen Osten Politik machen, ohne Israel-Hassern und Antisemiten die Hand zu schütteln?
Sie war seit Ausbruch des Gaza-Krieges im Oktober schon sieben Mal vor Ort, in Israel, in Jordanien, Ägypten, Katar. Nikolaus Blome nennt das beim "Spiegel" eine sinn- und ergebnisfreie Kilometer-Diplomatie. Ja, die israelischen Geiseln sind immer noch in der Hand der Hamas, im Gazastreifen herrscht Chaos, die iranischen Ajatollahs haben Raketen auf Israel geschossen. Amerikaner, Briten und Franzosen, Katarer, Ägypter und Jordanier haben allerdings nicht mehr bewirkt als Baerbock. Sie sind auch sehr viel unterwegs. Glauben Sie, dass Außenpolitik aus dem Homeoffice bessere Ergebnisse bringt?
Wer war hier undiplomatisch?
Noch ein Beispiel aus der vergangenen Woche: Die Außenministerin war bei Benjamin Netanjahu. In dessen Büro kam es offenbar zu einem Wortwechsel. Ihre Kritiker schreiben, sie sei von Netanjahu abgekanzelt worden. Baerbock lässt keinen Zweifel daran, dass Deutschland im Krieg gegen die Hamas an der Seite Israels steht. Zugleich weist sie auf Israels Verantwortung für die humanitäre Lage im Gazastreifen hin. Darüber gab es eine Meinungsverschiedenheit unter engen Partnern, hinter verschlossenen Türen. Netanjahu hat den Disput öffentlich gemacht. Wer war hier undiplomatisch?
Ein Name taucht fast immer auf, wenn es um Baerbocks Politik geht – Genscher. Für die Jüngeren: Hans-Dietrich Genscher war von 1974 bis 1992 Außenminister, eine Lichtgestalt der deutschen Politik. Seine rastlose Reisediplomatie war legendär, es hieß, er begegne sich bisweilen selbst im Flugzeug über dem Atlantik. Genscher erklärte die Politik in langen, verschachtelten Sätzen, die niemand verstand. Aber man vertraute ihm, er kannte sich ja aus. Generationen von deutschen Diplomaten wurden zu Genscheristen, sie redeten wie er, machten Politik wie er. Es war eine gute Zeit, aber sie liegt lange zurück.
Baerbocks Vorgänger war Heiko Maas. Sie erinnern sich vielleicht, er wurde einmal zum bestangezogenen Politiker der Republik gekürt. Vor Maas führte Sigmar Gabriel das Auswärtige Amt. Der Mann überzeugt heute mit klugen geopolitischen Analysen. Früher hat er Israel als Apartheid-Staat bezeichnet. Gabriel war entschiedener Verfechter der Pipeline Nord Stream 2. Er stand ganz in der Tradition seines Vorgängers Frank-Walter Steinmeier, des Architekten der komplett gescheiterten deutschen Russlandpolitik.
Späte Milde umweht ihre Vorgänger
Sie können selbst entscheiden, ob Ihnen einer dieser Vorgänger heute als Außenminister lieber wäre als Annalena Baerbock. Ich persönlich müsste dann schon bis zu Klaus Kinkel zurückgehen, dem Nachfolger Genschers. Als er vor fünf Jahren starb, schrieb der "Spiegel" über ihn: "Er war ein undiplomatischer Diplomat, ein schwäbischer Rauhbautz, ein Politiker mit offenem Visier."
Annalena Baerbock ist ganz sicher nicht fehlerfrei im Auswärtigen Amt. Ja, ihr verrutschen manchmal die Sätze. In Straßburg hat sie eine einstündige Rede auf Englisch gehalten, ganz am Ende sagte sie mit Blick auf die Europäer: "Wir kämpfen einen Krieg gegen Russland und nicht gegeneinander." Wir kämpfen einen Krieg gegen Russland? Ein fataler Satz. In Kinkels Zeiten konnte man so etwas wieder einfangen und klarstellen. In Zeiten von X und TikTok und Insta ist das aussichtslos.
Zwei Bemerkungen zum Schluss, noch eine zu Baerbocks Politik, eine zu ihrem Auftreten. Als deutsche Außenministerin hat sie in Brüssel der künftigen EU-Asylpolitik, also der Begrenzung der irregulären Migration, zugestimmt. Wer nur einen Hauch von Ahnung von den Befindlichkeiten der Grünen hat, weiß, was sie ihrer Basis mit diesem Votum zumutet. Man könnte es pathetisch sagen: Baerbock stellt in der Asylfrage die Interessen Deutschlands über die ihrer Partei. So wollen wir es doch, oder?
Alles nur Männer
Jetzt zu ihrem Auftreten: Annalena Baerbock trifft auf ihren Reisen nicht nur Staatschefs und Außenminister, sondern auch einfache Menschen, viele Frauen, besonders oft Mütter. In Afrika wird sie geradezu überschwänglich empfangen, manchmal wie ein Popstar. Die Bilder sind dann auf ihrem eigenen Instagram-Account zu besichtigen, der wird professionell betreut. Jakob Augstein nennt sie deshalb eine Repräsentationskünstlerin. Sie mache im Ausland nur Bella Figura, ohne politischen Inhalt. Der erste Teil stimmt, der zweite nicht.
Vielleicht ist Ihnen beim Lesen dieser Kolumne etwas aufgefallen: Alle zitierten Kritiker von Annalena Baerbock sind Journalisten. Keine Journalistin. In den sozialen Medien ist das verbissene Annalena-Bashing erst recht ein durch und durch männliches Phänomen. Ich erspare Ihnen meine küchenpsychologischen Vermutungen, warum das so ist.
- Lektüre und eigene Überlegungen