Fitness-Influencerin Sophia Thiel Bei ihr ist jede Wandlung inszeniert
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Im digitalen Rampenlicht wird das eigene Leben als Show verkauft. Glaubwürdig sind Influencer wie Sophia Thiel aber nicht, findet unsere Kolumnistin Nicole Diekmann.
Es heißt ja immer: Das Netz vergisst nichts. Das stimmt. Was aber auch stimmt: Die Netz-User vergessen sehr schnell. In Kombination mit dem Umstand, dass das Netz reich machen kann, ergibt sich daraus ein Mechanismus, der erstaunt, befremdet – und viele Frauen in alten, ungesunden Mustern verharren lässt.
Sophia Thiel hat gut Kasse gemacht. Jahrelang diente sie ihren – vorsichtig geschätzt – zu 100 Prozent weiblichen Followern in den sozialen Netzwerken als Identifikationsfigur. Als Fitness-Influencerin machte Thiel jahrelang vor, dass und wie er möglich ist: der Traumkörper. Das, wonach immer noch die meisten von uns lechzen. Und ich gebe offen zu: auch ich.
Zur Person
Die Fernsehjournalistin Nicole Diekmann kennt man als seriöse Politikberichterstatterin. Ganz anders, nämlich schlagfertig und lustig, erlebt man sie auf Twitter – wo sie über 120.000 Fans hat. Dort filetiert sie politische und gesellschaftliche Aufreger rund ums Internet. Ihr Buch "Die Shitstorm-Republik" ist überall erhältlich. In ihrem Podcast "Hopeful News" spricht Diekmann jede Woche mit einem Gast über die schönen, hoffnungsvollen – einfach GUTEN Nachrichten. Bei t-online schreibt sie jeden Mittwoch die Kolumne "Im Netz".
Natürlich möchte ich schlank sein, natürlich möchte ich alles aus mir rausholen an Attraktivität, was möglich ist. Dem ordne ich nicht alles unter, aber der Impuls ist da. Auch ich bin, wie so viele andere Frauen meines Alters, aufgewachsen mit einer von "Brigitte"-Diäten geprägten Mutter, die mir vorgelebt hat: Genuss ist eine Sünde. Das heißt: Es ist möglich, am Tisch mal über die Stränge zu schlagen – aber nur, wenn man es am nächsten Tag dann wieder ausgleicht.
Generationen von Frauen unterwerfen sich dem Schönheitsideal, das bei allem Aktivismus nach wie vor knallhart dominiert. Und so komplex unsere Welt auch ist, so gut informiert, so klug und reflektiert wir auch sind – dieses Ideal lässt sich sehr einfach zusammenfassen. Es lautet "Größe 36".
Body-Positivity: Ausnahme statt Wandel
Ja, es gibt die Body-Positivity-Bewegung. Also Frauen, die nicht schlank sind und für die Aufweichung des Diktats werben, indem sie ein zufriedenes, erfülltes und selbstbewusstes Dasein vorleben jenseits von Größe 44. Aber sie sind die Ausnahme, eben weil sie sich über ihre Abgrenzung von der Norm definieren. Sie sind nicht die Neuen. Sie sind die anderen. Sie lösen damit kein Ideal ab, sondern schaffen ein weiteres – eines, mit dem sich ebenfalls gut verdienen lässt. Was übrigens auch die allzeit findige Heidi Klum weiß: Bei "Germany’s Next Topmodel" kommen inzwischen auch Vertreterinnen dieser anderen Frauen als Kandidatinnen vor. Aber sie sind und inszenieren sich eben auch als die anderen. Als die, die bewundert werden, weil sie sich widersetzen. Der Maßstab bleibt davon jedoch unberührt, wird sogar noch zementiert. Ob wir das wollen oder nicht. Und Klum plus Maschinerie können sich nebenbei reinwaschen von dem Vorwurf, junge Mädchen und Frauen nicht nur auf ihr Äußeres zu reduzieren, sondern sie auch leichtfertig und wider besseres Wissen zu fragwürdigen Idealen zu treiben, die einen hohen Preis kosten können. Die Gesundheit, im schlimmsten Falle das Leben.
Zurück zu Sophia Thiel. Die zeigte sich beim Training, präsentierte ihren Waschbrettbauch und ihre definierten Arme und stieg auf zum viel bewunderten Beweis dafür, dass man sich nur doll genug anstrengen muss. Und dafür, dass ein gewiefter Umgang mit den sozialen Netzwerken zu finanziellem Reichtum führen kann. Denn der Markt ist da. Der Markt sind in diesem Fall wir Frauen, der Markt regelt allzu oft unsere Sozialisation. Wir Menschen wollen festhalten an der Illusion, dass es jeder schaffen kann. Und viele von uns Frauen speziell an der, dass wir alles haben können. Wir müssen nur wollen.
Bulimie als Folge
Sophia Thiel, die einst übergewichtig war, konnte durch Bodybuilding viele Kilos abnehmen und ihren Körper formen. Sie kreierte aus ihrem Erfolg im Kampf gegen Pfunde und Schweinehunde ein Geschäftsmodell aus Fitnesskursen, Ratgebern und einer eigenen Duftmarke. Wenn sie das kann, gelingt das auch anderen. Dann ist alles möglich. Thiel avancierte zur Kombination aus dem zum Millionär gewordenen Tellerwäscher und dem hässlichen Entlein, das sich selbst zum Schwan hochgearbeitet hat, aber in der dem Zeitgeist der Selbstoptimierung und des Feminismus perfekt entsprechenden Variante. Thiel wurde reich und ließ uns teilhaben an ihrem reichhaltigen Schatz an Tipps, Erfahrungen und Erfolgen.
Dann aber kam die große Wende, die große Beichte: Sie ziehe sich zurück aus den sozialen Netzwerken, verlautbarte sie 2019, und meldete sich 2021 in der Öffentlichkeit zurück. Mit einem anderen Körper – und mit der Wahrheit. Sie leide unter Bulimie, erzählte Thiel in Interviews, und schilderte ihr Leben zu Zeiten des schillernden Erfolgs. 2017 sei ihr schlimmstes Jahr gewesen, erzählte sie später der "Bravo": "Damals drehte sich alles nur noch um Essen und Sport. Ich hatte null Lebensfreude mehr. Ich habe gehungert, täglich mehrere Stunden trainiert, dann kamen tagelang die unkontrollierten Fressattacken, sodass ich abends zur Tankstelle gefahren bin, mir Süßigkeiten und Eiscreme gekauft und alles in mich reingestopft habe. Ich habe das Leben nicht mehr gespürt. Das war der Punkt, an dem ich realisierte: Ich muss etwas ändern."
Desaster hinter Social-Media-Fassade
Das Leben hinter der sehr erfolgreichen Fassade war also ein Desaster gewesen. Thiel hatte diesen Teil jedoch verschwiegen. Und dabei hatten ihr die Mechanismen von Social Media geholfen: Dort lässt sich ganz hervorragend suggerieren, seine Followerschaft maximalstmöglich an sich und seinen Alltag heranzulassen. Sich tatsächlich authentisch zu präsentieren. Thiel hatte dies für sich genutzt.
Man könnte auch sagen: Thiel hatte gelogen.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Bulimie ist eine ernsthafte Krankheit; Essstörungen sind gefährlich. Sie sind eine Qual für Betroffene, Angehörige und Freunde. Ich habe Freundinnen, die entweder selbst durch diese Hölle gegangen sind oder aber sie bei ihren eigenen Kindern entweder fürchten oder sogar durchleiden.
Und deshalb war es gut, dass Thiel mit ihren Problemen an die Öffentlichkeit gegangen ist. Influencer haben einen gewaltigen Einfluss auf ihre Followerschaft – gerade, wenn diese jung ist.
Nur: Damit war nicht Schluss. Nach einer Pause tauchte Thiel 2021 schon wieder auf. Hatte zugenommen, hatte dazugelernt, wie sie sagte. Und verdiente wieder Geld, nun mit dem neuen Image. Hatte ein Buch geschrieben über ihre Essstörung, ihren Kampf gegen sich selbst. Und leider, ohne in derselben Ausführlichkeit zu thematisieren, wie fahrlässig sie mit ihrer Verantwortung als Influencerin umgegangen war. Wie sie Zigtausenden etwas vorgemacht hatte – und dazu animiert, es ihr gleichzutun.
Transformation als Geschäftsmodell
Inzwischen hat Thiel wieder abgenommen. Und macht auch daraus wieder ein Thema. Eifrig flankiert von "Gala", "Bunte" und anderen: Der neue Bikini-Body haue alle um, ist da zu lesen. Und Thiel zu sehen, wie sie stolz posiert. Die Kasse, Sie ahnen es, klingelt.
Thiel steht nicht für sich allein. Thiel steht für die Mechanismen in uns, denen die Mechanismen der sozialen Netzwerke noch mal enorm viel Schlagkraft verschafft haben. Es gibt noch viele andere Frauen wie Sophia Thiel, die sich erst ganz dünn, dann ganz geläutert, und gerne weinend vor der zuvor eigens gut eingerichteten Kamera zeigen. Nichts ist Zufall, alles ist Show. Und: The Show Must Go On. Dieses Credo ist älter als die sozialen Medien, es ist älter als die "Brigitte"-Diät. Und es stirbt nicht aus. Leider.
- Eigene Meinung