Phänomen Tipflation Hier gerät das Trinkgeld außer Kontrolle
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Die Inflation hat das Essen in der Gastronomie verteuert. Nun steigen auch die Trinkgelder – und das noch stärker als die Inflation.
Dass die Gastronomie derzeit über hohe Herstellerpreise klagt und über zu wenig Kundschaft, die zu ihnen in die Restaurants kommt, ist Inhalt zahlreicher öffentlicher Debatten. Bisher fruchtet die Forderung nicht, den ermäßigten Mehrwertsteuersatz in Höhe von sieben Prozent auf Speisen beizubehalten. Der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband (Dehoga) befürchtet deshalb die massenhafte Schließung gastronomischer Betriebe.
Steigende Kosten für Speisen und Getränke und die nagende Inflation im Budget der zahlenden Gäste sorgen für Katerstimmung. Doch so manches Geschäft versucht, die Einnahmelücke auf andere Weise zu schließen – nämlich durch höhere Trinkgelder. Die Folge: der Restaurantbesuch wird noch teurer. Das Phänomen der Trinkgeldinflation (Tipflation) hat seinen Ursprung in den USA und ist inzwischen auch in Deutschland angekommen.
Trinkgeld als Teil des Gehaltes
Als Konsens gilt in Deutschland ein Trinkgeld von zehn Prozent des Umsatzes. Anders in den USA, wo durch die prekären Beschäftigungsverhältnisse Trinkgelder zwischen 15 und 20 Prozent nötig sind, um davon leben zu können. In Deutschland ist das Trinkgeld eine freiwillige Leistung und gilt als Wertschätzung des Personals und als Dank für den Service. Aus diesem Grund steht das Trinkgeld auch dem Personal zu und nicht dem Inhaber.
- Extra-Dankeschön?: So viel Trinkgeld gibt man beim Friseur
In der Realität sind die zehn Prozent vom Umsatz aber nicht immer so einfach auszurechnen. Zehn Prozent sind bei Weitem nicht erreicht, wenn zum Beispiel von 33,80 Euro auf 35 oder 36 Euro aufgerundet wird. Richtig wären hier inklusive Trinkgeld 37,18 Euro – in der Praxis kaum umsetzbar, weil Gäste in der Regel auf den vollen Betrag runden und eher weniger Trinkgeld zahlen.
Inflation des Trinkgeldes: Tipflation
Nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland waren nach der Corona-Pandemie viele Gäste bereit, die Gastronomie mit großzügigen Trinkgeldern zu unterstützen. Als sich nach und nach die Realität wieder einstellte, hofften die Betriebe auf mehr Kunden und steigende Einnahmen. Doch das Gegenteil war der Fall.
Die Lösung für das Problem, das korrekte Trinkgeld einzusammeln, ist recht simpel: digitale Bezahlgeräte übernehmen das Ausrechnen des Trinkgeldes, und zwar auf den Cent genau. Die Digitalisierung spielt auch hier eine wichtige Rolle.
Die sogenannte Tipflation – die Trinkgeldinflation – wird zu einem immer größeren Thema. Die Einführung dieser digitalen Kassensysteme in Restaurants, Geschäften, Läden, Supermärkten, Cafés und auf Flughäfen führt dazu, dass Kunden bei Kartenzahlung über die Touchscreens der Geräte überall aufgefordert werden, Trinkgeld zu bezahlen – in den USA sind das zum Teil über 30 Prozent des Umsatzes.
Trinkgeld ohne Serviceleistung
Die neuen Geräte, die es auch immer häufiger in Deutschland gibt, bieten auf ihren Touchscreens eine Auswahlmöglichkeit von 10, 15 oder 20 Prozent Trinkgeld. Ein Button zum Ablehnen von Trinkgeld findet sich bei vielen Geräten nicht auf den ersten Blick. Erst über die manuelle Eingabe des Zahlbetrags kann das Trinkgeld vermieden werden.
Hinzu kommt, dass inzwischen sogar in Restaurants, Bars oder Cafés mit Selbstbedienung an der Theke Trinkgeld eingefordert wird, ohne dass es eine Serviceleistung des Personals gegeben hat. Der Gast, dem das Bezahlgerät zum Auflegen der Karte vor die Nase gehalten wird, muss – ob er will oder nicht – eine Auswahl treffen, bevor er bezahlen kann. Oder er muss dem Mitarbeiter mitteilen, dass er kein Trinkgeld geben möchte – oft eine große Hürde.
US-Umfrage: Trinkgeld "außer Kontrolle"
Durch diese Praxis wird automatisch mehr Trinkgeld gegeben und auch viel häufiger, als es noch vor der Corona-Pandemie der Fall war. Plötzlich scheinen Trinkgelder von 15 oder 20 Prozent normal zu sein. Die Kunden ärgern sich, weil der Kaffee oder die Pizza dadurch noch teurer werden.
Daten von Finanzapps aus den USA zeigen, dass die Trinkgelder zum Beispiel in New York von sonst durchschnittlich 19 Prozent auf volle 25 Prozent gestiegen sind. Der Zahlungsdienstleister Block (vormals: Square) ermittelte, dass die US-Amerikaner im vierten Quartal 2022 17 Prozent mehr Trinkgeld in Restaurants gegeben haben als im Vorjahreszeitraum. Bei einfachen Fastfood-Geschäften ohne besonderen Service waren es 16 Prozent.
Dass immer höhere Trinkgelder verlangt werden, auch dort, wo früher nie Trinkgeld erwartet wurde, sorgt bei vielen Amerikanern für Unmut. Rund 30 Prozent der Befragten einer Umfrage von Bankrate in den USA sind der Meinung, dass die Trinkgeldkultur "außer Kontrolle" geraten sei, da immer mehr Unternehmen ihre Kunden an den Schaltern um Trinkgeld bitten. 32 Prozent empfinden die Trinkgeldbildschirme als lästig und 41 Prozent sind der Meinung, dass die Unternehmen ihre Mitarbeiter besser bezahlen sollten.
Fazit
Auch in Deutschland wird in Restaurants immer häufiger per Karte oder Handy bezahlt. Die entsprechenden Geräte mit den festgelegten Trinkgeldprozenten kommen immer häufiger zum Einsatz. Dennoch gilt: Nach Paragraf 107 der Gewerbeverordnung hat jeder Gast das Recht, ganz gleich aus welchen Gründen, selbst zu entscheiden, ob und wie viel Trinkgeld er geben möchte. Wer bei digitalen Bezahlgeräten die psychologische Mitte wählt, landet am Ende meist bei einem Trinkgeldaufschlag von 15 Prozent. Aber möglicherweise ist das für besonders freundliche Bedienung und das gute Essen im Restaurant angemessen.
- Eigene Recherche
- forbes.com: „Tipflation: Americans Think Tipping Culture Is ‘Out Of Control’ And Workers Should Be Paid More”
- bankrate.com: "66% of Americans have a negative view of tipping"
- stern.de: "Die Inflation hat das Trinkgeld erreicht"