Influencerinnen Schützt endlich unsere Mädchen!
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Jahrelang galt Heidi Klums Model-Show als schlechter Einfluss für Jugendliche. Das ist er noch immer – aber Mager-Influencerinnen sind mittlerweile deutlich gefährlicher.
Es sind fürchterliche Bilder: Haut, die sich wie Pergament über grotesk hervorstehende Knochen spannt. Beine so dünn wie die Oberarme normalgewichtiger Frauen. Unterarme so mager, dass jede Sehne, jede Ader zu sehen ist. In die tiefen Mulden oberhalb des Schlüsselbeins kann man Münzen legen.
Man muss keine Ärztin sein, um zu erkennen: Diese junge Amerikanerin, die auf Tausenden Fotos stark geschminkt und in bauchfreien Tops ihre Rippen präsentierend posiert, immer hochprofessionell zurechtgemacht und ausgeleuchtet, mal am Strand, mal vor einer Backsteinmauer, leidet unter einer massiven Essstörung. Dass sie noch lebt, ist ein Wunder.
Die Fernsehjournalistin Nicole Diekmann kennt man als seriöse Politik-Berichterstatterin. Ganz anders, nämlich schlagfertig und lustig, erlebt man sie auf Twitter – wo sie über 120.000 Fans hat. Dort filetiert sie politische und gesellschaftliche Aufreger rund ums Internet. Ihr Buch "Die Shitstorm-Republik" ist überall erhältlich, ihr neues Blog findet man hier.
Nein, die Rede ist nicht von "Germany's Next Topmodel". Heidi Klum treibt zwar bis heute ihr Unwesen. Aktuell kann am Donnerstagabend wieder ein Millionenpublikum beobachten, wie sie junge Frauen wie würdelose Kleiderträgermaschinen behandelt. Dass die immerhin nicht mehr ganz so jung sind wie in den vielen Staffeln zuvor, hilft da nur unwesentlich.
Heidi Klums Show ist nicht mehr die größte Gefahr
Und trotz aller Neuerungen im Sendeformat, die wohl eher der Einschaltquote als einem Umdenken geschuldet sind, warnen Kinder- und Jugendtherapeuten weiterhin vor dem Einfluss dieses Formats. Allerdings wirken längst viel krassere, manipulativere und riskantere Einflüsse auf die Generation Z ein – von der Öffentlichkeit weitestgehend unbeachtet.
Der oben skizzierten Frau, deren Namen ich hier nicht nenne und gleich erklären werde, warum nicht, folgen 700.000 Menschen auf Instagram und mehr als zwei Millionen auf YouTube. Über 250 Millionen Mal wurden ihre Videos dort abgerufen.
Schließt man die Augen, hört man eine sehr helle, kräftige Stimme druckvoll und schnell sprechen, fast plappern. Man hört ein Lächeln. Öffnet man die Augen wieder, wünscht man sich, man hätte es nicht getan. Dieser ausgemergelte Körper, der aussieht, als würde er von seiner Besitzerin gehasst und gepeinigt, als würde er gleich durchbrechen – er verursacht extremes Unbehagen.
Man will das nicht sehen, denn es ist kaum auszuhalten. Es ist, als würde man einem Autofahrer dabei zuschauen, wie er oder sie ungebremst auf einen steilen Abhang zurast. Grinsend, winkend und einer applaudierenden Menge zurufend: "Alles ok hier, ich hab Spaß, guckt, ich lache! Da ist kein Abhang!"
Sie senden auf Instagram, TikTok oder Twitch
Auch auf Twitch, einer Plattform, die vor allem bei den Jüngeren immer beliebter wird, folgen ihr mehr als 400.000 Fans. Immer wieder thematisieren diese das Thema "Essstörung". Denn es ist offensichtlich: Diese Frau ist schwer krank. Aber sie wimmelt stets alle Nachfragen ab: Sie sei so dünn, von Natur aus.
Wer ihr Schaffen im Netz verfolgt, weiß: Sie sah mal anders aus. Das ist eine Lüge. Vielleicht auch vor sich selbst. Das Problem ist: Diese Frau ist ein Star. Und ein Vorbild für sehr, sehr viele junge Mädchen. Ein gefährliches Vorbild. Deshalb nenne ich ihren Namen nicht, ich möchte niemanden auf Ideen bringen.
Dasselbe gilt für eine andere Influencerin, die hier in Deutschland lebt. Auch sie verfügt über eine enorme Reichweite auf Instagram, auch sie ist stark untergewichtig, auch sie postet Videos von sich mit viel Haut und noch mehr Knochen. Sie thematisiert das, sie kokettiert damit. Bis zum Sommer, schreibt sie unter ein Bild von sich, wolle sie noch vier Kilo verlieren. Dann wäre sie bei 35 Kilo.
Zielgewicht 35 Kilo – so wenig wie ein Golden Retriever
35 Kilo. So viel wiegt ein Golden Retriever. Die unzähligen Fotos auf dem Account dieser jungen, mutmaßlich an Magersucht leidenden Frau bestätigen ein viel zu niedriges Gewicht. Sie sei schon einmal in einer Klinik gewesen, bejaht sie eine Frage eines Followers, aber sie wolle sich lieber selber helfen.
Sie beantwortet viele Fragen, viele kommen von jungen Mädchen, viele drehen sich um Essen (sie habe seit Jahren nichts anderes mehr als Salat zu sich genommen), viele um ihre Selbstwahrnehmung. Manche sind besorgt, erschreckend viele aber sind bewundernd: Ob sie das Geheimnis ihrer Selbstdisziplin verraten könne, ihr Workout-Programm posten, die Medikamente verraten, die ihren Hunger stillen.
All das tut sie auch. Es sind bizarre Dialoge, öffentlich nachzulesen für jedermann, in denen eine psychisch Kranke keinen Hehl aus ihrer potenziell tödlichen Erkrankung macht, diese jedoch auch nicht weiter problematisch findet. Im Gegenteil: in denen sie Fremden noch Tipps gibt, um es ihr gleichzutun. Unter jedem Foto finden sich Dutzende Herzchen, Liebesbekundungen. Sie wird vergöttert, angeschmachtet und beneidet.
Die Propagierung von Essstörungen in den sozialen Netzwerken ist kein neues Problem. Seit Aufkommen der sogenannten Pro-Ana Bewegung in den Nullerjahren gibt es immer wieder Medienberichte. Ana steht für Anorexia nervosa, das ist der Fachausdruck für Magersucht.
Junge Mädchen, aber zunehmend auch Jungen, finden in Pro-Ana-Foren Anregungen, Anleitungen und Ansporn zum lebensbedrohlichen Hungern. Junge Menschen, deren Selbstbild noch instabil ist. Die anfällig sind für äußere Einflüsse, für absurde Schönheitsideale, für Gruppendynamiken.
Während die Foren vor dem Zeitalter von Social Media jedoch meist geschlossen waren, wird der hochbrisante Kult ums Magersein auf Instagram, Twitch, TikTok, Twitter, YouTube – kurz: überall in den sozialen Netzwerken öffentlich und offen zelebriert. Subtilität ist dort ein ebenso großer Störfaktor wie jedes Gramm auf der Waage: Essstörungen werden nicht verharmlost, sondern verherrlicht. Es laufen regelrechte Wettbewerbe. Frauen wie die beiden beschriebenen dienen der Szene als Galionsfiguren. Jugendtherapeuten warnen seit Langem vor den Gefahren.
Natürlich wissen auch die Plattformbetreiber davon. Im Falle der ersten oben skizzierten Frau unterzeichneten über 50.000 Menschen eine Onlinepetition, die ihre Verbannung von sämtlichen sozialen Plattformen forderte. Vergeblich. Wiederholt, so berichten mehrere Nutzer auf Twitter, hätten sie Instagram angeschrieben und um die Löschung des Accounts der zweiten Frau gebeten. Auch dies lief bisher ins Leere.
Dabei schaut beispielsweise Instagram sehr genau hin: In einer der sogenannten Storys dort berichtet eine der beiden Influencerinnen in mehreren Sequenzen im munteren Plauderton über ihre gestörte Selbstwahrnehmung. Dann erscheint plötzlich ein Warnhinweis: Die folgenden Bilder beinhalteten sensibles Material.
Die Netzwerke wissen Bescheid – und tun nichts
Als User muss man anklicken, ob man die Story weiterschauen will. Ich tue das, befürchte noch schrecklichere Bilder von der dürren jungen Frau – aber, aus welchem Grund auch immer, es folgt ein krasser Bruch in der Geschichte. Es geht nicht mehr um sie, es geht nicht mehr ums Nicht-Essen. Völlig zusammenhanglos erscheint vor mir auf dem Smartphone eine Szene, rechts im Bild irgendein Mann, neben ihm ein Kind. Links erscheint ein anderer Mann, schreitet eilig auf die beiden zu – und schlägt heftig auf sie ein. Ich bleibe verwirrt zurück, geschockt – keine Erklärung, keine Einordnung."
Ich wünschte, ich hätte das nicht gesehen. Und zwar alles. Die Gewalt gegen die beiden Menschen und die Gewalt, die die beiden Frauen sich selbst antun. Für mich kann ich keinen Unterschied machen, was mich mehr bestürzt hat.
Warum Instagram das eine kennzeichnet und das andere nicht? Die Antwort ist so wahr wie entsetzlich zynisch: Gewalttäter werden sozial geächtet. Dünne Frauen werden weiterhin von vielen bejubelt. Und diese vielen hinterlassen ihre Daten. Und mit genau diesen Daten machen die Netzwerke Geld. Viel Geld. Und in diesem Falle schmutziges Geld. Aber das scheint den Plattformbetreibern egal zu sein. Wieder einmal.