Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Kolumne "Russendisko" Verpasst Putin der Nato eine schallende Ohrfeige?
Der Westen fürchtet eine russische Offensive in der Ukraine, Wladimir Putin will endlich Fortschritte im Krieg sehen. Ein Ende des Krieges ist aber so oder so nicht in Sicht, meint Wladimir Kaminer.
Eine der Folgen des russischen Einmarsches in die Ukraine im Februar 2022 war der Exodus der Kulturschaffenden, die den Krieg nicht unterstützen. Schriftsteller und Musiker, Schauspieler, Filmemacher und Fernsehmoderatoren, Komiker und Regisseure, die sich gegen den Krieg äußerten, wurden mit einem Arbeitsverbot belegt, viele von ihnen zum Auswandern gezwungen.
Ob ihr treues Publikum sie vermisst, lässt sich nicht eindeutig feststellen, zumal das Publikum nicht laut sagen darf, was es denkt. Die Bühnen sind auf jeden Fall nicht leer geblieben, anstelle der Ausgereisten kamen die anderen Kulturschaffenden, die aus der zweiten und dritten Reihe, die mit dem Krieg ihre Sternstunde gekommen sahen. Das Kulturleben in dem kriegführenden Land boomt. Fleißig werden Filme über das heldenhafte Soldatenleben gedreht, regimetreue Musiker tänzeln in Militäruniformen, sie besingen die russischen Streitkräfte und die Kompromisslosigkeit des Führers.
Zur Person
Wladimir Kaminer ist Schriftsteller und Kolumnist. Er wurde 1967 in Moskau geboren und lebt seit mehr als 30 Jahren in Deutschland. Zu seinen bekanntesten Werken gehört "Russendisko". Sein aktuelles Buch "Gebrauchsanweisung für Nachbarn" (mit Martin Hyun) ist im März 2024 erschienen.
Ein "Theater für Kinder und Jugendliche" geht mit einer Mai-Premiere an den Start, das Stück heißt "In meiner Kindheit gab es Krieg". Auf dem Plakat ist ein kleiner Junge in Uniform neben einem bunt bemalten Panzer zu sehen, dazu eine Friedenstaube, die über der Panzerkanone fliegt. Pünktlich zum "Tag des Sieges", dem wichtigsten Fest des Landes, das in Russland traditionell am 9. Mai gefeiert wird, eröffnete mitten in Moskau, im "Park des Sieges", eine Ausstellung abgeschossener und abgebrannter westlicher Militärtechnik.
Drei Dutzend Panzer, Abschussrampen und Kanonen, von den Organisatoren sorgfältig mit den Farben der Nato-Länder versehen, ziehen die Besucher in Mengen an, Familien mit Kindern, Schulklassen, Jugendliche, Rentner und chinesische Touristen, die neuerdings Moskau überfluten. Im chinesischen TikTok ist die Moskauer Ausstellung zu einem Hit geworden, millionenfach angeklickt. Hauptexponate sind zwei große Panzer, der deutsche Leopard und ein bis zur Unkenntlichkeit ausgebrannter amerikanischer Abrams.
Selfie mit Panzer
Niemand will sich den Spaß versagen, ein Selfie mit dem amerikanischen Panzer im Hintergrund zu machen. Der deutsche Leopard hat bereits vor der Eröffnung der Ausstellung in den russischen Propagandanachrichten eine Hauptrolle gespielt. Es wurde gezeigt, wie die Russen mit einem speziellen Kran versuchten, die Kanone des Panzers nach unten zu biegen. "Es war nicht leicht, aber wir haben es geschafft", sagte im Film der Ausstellungsverwalter.
Die ukrainischen Militärexperten wunderten sich, dass die russische Seite so leichtsinnig und unlogisch mit eroberter Technik umgeht. Sie hätten diese Panzer doch auseinandernehmen, ihre Panzerung und die Technologie der neuen Waffengeneration studieren und verstehen lernen können. Stattdessen machten sie daraus eine Publikumsattraktion. Anscheinend ist für die Russen der Propagandaeffekt wichtiger als die Technologie.
Diese Ausstellung macht noch einmal die schlichte Wahrheit deutlich, dass es bei diesem unsäglichen Krieg nicht um die Eroberung der Ukraine geht. Es ist ein Aufstand des russischen Regimes gegen eine Weltordnung, die von liberalen Demokratien des Westens vorgegeben wird. Die Ukraine ist "zufällig" zur Zone des Konflikts geworden, sie war sozusagen zur falschen Zeit am falschen Ort.
In den zahlreichen russischen Propagandanews erzählen Soldaten, die oft frisch aus dem Knast an die Front geschickt wurden, wofür sie kämpfen. Einige von ihnen hatten eine spektakuläre kriminelle Kariere hinter sich. Der vor Kurzem an der Front interviewte Kannibale aus Chabarowsk, der dort zwei Mädchen ermordet und zerstückelt hatte, sagte, dass er nicht in einer Welt leben möchte, in der Kinder bereits in der Grundschule über Sexualität aufgeklärt werden und lernen müssen, wie man richtig Kondome überzieht. Der Kannibale meinte, er sei bereit, dafür zu sterben, damit es nicht passiert. Westliche Werte haben bei uns keinen Platz, sie sind Gift und bringen Verderbnis, sagte er.
Die Meinung des Kannibalen stimmt mit der Meinung der Regierung überein. Deswegen wird im "Park des Sieges" die Nato-Technik ausgestellt, die diese angeblich tödlichen Werte verbreiten sollte, aber nicht konnte. Und die Bevölkerung fühlt sich gut geschützt. Während die Russen Selfies mit dem ausgebrannten amerikanischen Panzer machen, überbieten sich die westlichen Zeitungen an düsteren Prognosen. Alle zittern vor der bevorstehenden russischen Sommeroffensive, die bereits im Mai beginnen soll.
Zugedröhnt mit Propaganda
Die sechsmonatige Waffen-Lieferpause hat die Wehrhaftigkeit der ukrainischen Armee deutlich geschwächt. Die träge und komplizierte Logistik der zahlreichen westlichen Partner erlaubt es nicht, deren bereits genehmigte Waffen- und Munitionslieferungen schnell an die Front zu bringen. Die Stimmung in der ukrainischen Armee ist nicht die beste, und auch die ukrainische Bevölkerung fühlt sich von ihrem Präsidenten in die Irre geführt, der sich seit Beginn des Krieges stets siegessicher gab.
Die Mobilisierungsprobleme machen den Ukrainern zu schaffen, während auf der russischen Seite die Bereitschaft, "für das Land zu sterben", so lange von den Staatsmedien als größte Tugend gepriesen und propagiert wurde, dass die Bevölkerung sich mit dieser Prämisse abgefunden hat. Die Bürger wurden mit der Alternativlosigkeit des Krieges hypnotisiert und sehen gerne zu, wie die Welt Angst vor ihnen hat.
Die Weltmeisterschaft im Zittern gewann neulich die "Neue Zürcher Zeitung". Sie brachte Putins Visage aufs Titelblatt mit der Überschrift "Was, wenn er gewinnt?" Und tatsächlich: Was kann die Nato tun, wenn Putin pünktlich in Richtung des Jubiläumsgipfels zum 75. Geburtstag der Nato in der Ukraine durchmarschiert? Für dieses Szenario werden sicher auch Pläne gemacht. Niemand will zum Geburtstag eine solche Ohrfeige bekommen.
Nato-Generalsekretär Stoltenberg flog zu einem außerplanmäßigen Besuch nach Kiew. Emmanuel Macron aus Frankreich betonte noch einmal, dass er die Fremdenlegion in die Ukraine entsenden würde, sollte Kiew danach fragen. Laut einem ehemaligen Offiziellen des US-Verteidigungsministeriums, so die "Asia Times", seien aber angeblich die französischen Legionäre schon länger in Slawjansk, erst einmal nur hundert Mann, als Vortrupp.
Chancen für alle?
Dieser Schritt der Franzosen wird das Fenster für die anderen europäischen Partner öffnen, jenseits eines Nato-Beschlusses zu handeln. Deutschland wird sicher nicht dabei sein, aber was ist mit Schweden, Tschechien, Polen? Könnten sie sich der französischen Initiative möglicherweise anschließen? Wie es scheint, brauchen alle Akteure diese Sommeroffensive.
Für die Nato wäre die Sommeroffensive eine Chance, dem russischen Regime mit neuen Waffen eine Ohrfeige zurückzugeben, für den Kreml eine gute Gelegenheit, sich weiter als Opfer der westlichen Verschwörung zu inszenieren. Für China und Amerika böte sich die Gelegenheit, weiter Druck aufeinander auszuüben. Es würde noch mehr tote Soldaten und kaputte Städte geben, das Ende des Krieges, den ersehnten Frieden würde die Offensive nicht bringen. Das Blutbad geht weiter.