Schwerer Konflikt Im Fernen Osten kam es beinahe zum Atomkrieg
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.China steht heute treu zu Russland. Doch 1969 stürzte ein Streit zwischen den beiden Riesenreichen die Welt fast in den Abgrund.
Ein verstörender Anblick erwartete sowjetische Grenzsoldaten jeden Morgen am fernen Fluss Amur im Jahre 1967. Chinesische Kommunisten marschierten auf ihrer Seite des Stroms auf, ließen ihre Hosen runter und präsentierten den Beobachtern ihre blanken Hinterteile. Bis die Sowjets ein probates Gegenmittel fanden: Sie hielten den entblößten Pobacken Bilder von Mao Zedong entgegen, dem starken Mann der Volksrepublik China.
Damit endeten derartige Provokationen, wie das Nachrichtenmagazin "Spiegel" seinerzeit berichtete, die zu den eher harmloseren an der sowjetisch-chinesischen Grenze gehörten. Denn zwei Jahre später – am 2. März 1969 – wurde am Ussuri, einem anderen Grenzfluss zwischen den beiden Staaten, scharf geschossen. Die Welt stand, so die Befürchtung, am Rande eines Atomkriegs zwischen der Supermacht Sowjetunion und dem bevölkerungsreichen China.
Macht vor Recht?
Wie kam es inmitten des Kalten Krieges ausgerechnet in den Weiten des Fernen Ostens zu einer derartigen Eskalation zwischen zwei kommunistischen Staaten? Ausgerechnet zwischen Moskau und Peking, das in der Gegenwart der tatkräftigste Unterstützer des Putin-Regimes ist? Weil das Verhältnis zwischen Russland und China über Jahrhunderte alles andere als konfliktfrei war.
1689 hatten sich das Zarenreich und China im Vertrag von Nertschinsk erstmals auf einen Grenzverlauf geeinigt. Zumindest teilweise, wie der Historiker Sören Urbansky schreibt. Mitte des 19. Jahrhunderts wuchs allerdings der russische Landhunger ungeheuer, mehr und mehr Gebiete im Norden des Amur und im Osten des Ussuri wurden okkupiert. Schienen der berühmten Transsibirischen Eisenbahn verlegten russische Ingenieure kurzerhand teilweise über chinesisches Territorium.
Möglich war dies, weil Peking in dieser Zeit schwach war, herumgestoßen von den imperialistischen Mächten. In sogenannten Ungleichen Verträgen, wie sie in China bis in die Gegenwart genannt werden, schrieben nach Einfluss strebende Staaten wie Russland das von Peking Abgepresste fest. Auch die Bolschewiki änderten an diesem Umgang mit China in der Praxis wenig, für den Sowjetdiktator Josef Stalin war ohnehin einzig Macht relevant. Und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war die Sowjetunion ohne jeden Zweifel sehr, sehr mächtig.
Entsprechend interessierte es den Kreml herzlich wenig, als Mao Zedong am 1. Oktober 1949 die kommunistische Volksrepublik China ausrief – und daher aufgrund der reinen Lehre beide Staaten "per se keine Konflikte untereinander hätten haben sollen", wie Urbansky betont. Peking gab sich in dieser Situation teils moderat, Moskau eher unnachgiebig, bis zu Beginn der Sechzigerjahre zumindest der Beginn einer Verständigung möglich zu werden schien.
Provokation in Dauerschleife
Wenig hilfreich war da eine Äußerung des greisen Mao. "Wir haben noch nicht unsere Rechnung für jene Gebiete gestellt", äußerte er sich 1964 – und spielte auf Teile des Territoriums der UdSSR an. Die sowjetische "Prawda" tat empört, beharrte darauf, dass die "Grenzen der Sowjetunion" als "Resultat des freien Willens der Völker" zustande gekommen sei, wie Urbansky zitiert.
An der Grenze herrschten bald statt Worten Taten. Besser gesagt, Gewalt. Es begann mit "Fischern" aus China, die auf dem Wasser für Provokation sorgten. Die Sowjets "erwehrten" sich ihrer, indem sie die "Fischer" mit Wasserkanonen angriffen oder deren Boote gleich rammten. Am besagten 2. März 1969 kam es dann zur vollkommenen Eskalation am Ussuri, Schauplatz war die Insel Damanskij, in China Zhenbao genannt. Winzig, klein, kaum bedeutend und bis dahin kaum einem Menschen bekannt.
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Chinesische Soldaten griffen die dort anwesenden sowjetischen Grenztruppen an, mehr als zwei Dutzend Mann sollen gefallen sein. So zumindest die offizielle Darstellung. Einen halben Monat darauf erfolgte dann der Gegenschlag in Form von Granaten und Raketen, mit denen die Sowjets die Chinesen auf der anderen Seite des Ussuri unter Feuer nahmen.
Der Ussuri und die Damanski-Insel befanden sich plötzlich im Mittelpunkt des Weltgeschehens. Die Propaganda auf beiden Seiten der Grenze lief ebenfalls zur Hochform auf: In China wurde der sowjetische Imperialismus gegeißelt, in der Sowjetunion vor der "gelben Gefahr" gewarnt, wie der "Spiegel" berichtete. Leonid Breschnew, Generalsekretär der sowjetischen Kommunisten, war entschlossen, die Provokation zurückzuweisen. Das gegenseitige "Zerwürfnis" strebte einem Höhepunkt entgegen.
Nicht erwünscht
In die zu China gehörende autonome Region Xinjiang drangen 1969 zeitweilig sowjetische Einheiten vor. "Eine regional begrenzte, aber blutige sowjetische Invasion", schreibt der Sinologe Klaus Mühlhahn. Angst ging um in China, so Mühlhahn: "Das Schreckgespenst eines Krieges mit der Sowjetunion, vielleicht sogar eines Atomkrieges, machte die politische Führung nervös."
Eine Nervosität, die Mao durchaus begrüßte. Denn das Spiel mit dem Feuer an der chinesisch-sowjetischen Grenze war eine willkommene Ablenkung von seiner katastrophalen und menschenverschlingenden Politik im Inneren des Landes. Zudem wollte die Volksrepublik ihr darniederliegendes Verhältnis zu den USA verbessern. Allerdings war es nicht nur riskant, die Supermacht Moskau zu provozieren, sondern geradezu selbstmörderisch. Denn im ohnehin militärisch überlegenen Moskau stellte man durchaus Überlegungen an, ob dieser Konflikt nicht auch nuklear geführt werden sollte.
Da auch China damals seit einigen Jahren zum Kreis der Atommächte gehörte, war die Nervosität weltweit groß. Zum Glück bewahrten die Entscheider einen kühlen Kopf: Noch im September 1969 schwebte der sowjetische Premier Alexei Kossygin in Peking ein und beratschlagte sich mit seinem chinesischen Amtskollegen Zhou Enlai. Die Spannungen ließen nach, der Grenzverlauf blieb aber noch lange strittig.
Kein Wunder, solange "Betonköpfe" wie Breschnew in Amt und Würden waren. Bis 1997 hatte man sich immerhin über die Zugehörigkeit von "2.444 Flussinseln in Argun, Amur und Ussuri" geeinigt, wie der Historiker Urbansky schreibt. 1.281 gingen an China, 1.163 an Russland. Drei Eilande blieben allerdings weiterhin umstritten. Nachdem auch deren Zugehörigkeit geklärt war, gibt es seit 2008 offiziell keine Gebietsansprüche mehr an die jeweils andere Seite.
Ganz anders sehen das Wladimir Putin und Xi Jinping als gegenwärtige Machthaber Russlands und Chinas in Bezug auf andere Regionen. Peking bedroht das demokratische Taiwan, das es als "abtrünnige Provinz" betrachtet, Russland will sich die nach Westen strebende Ukraine mit Gewalt wieder einverleiben.
Doch so ganz einig scheinen sich Russland und China immer noch nicht in Sachen Grenzverlauf zu sein, wie Sören Urbansky in der "Neuen Zürcher Zeitung" im vergangenen Frühjahr schrieb. Erst recht nicht in Zeiten, in denen Moskau immer schwächer und immer abhängiger von Peking wird. So verfügt die von China im Februar dieses Jahres erlassene Verfügung zur "Darstellung kartografischer Inhalte", dass chinesische Kartenwerke etwa die russische Stadt Wladiwostok auch unter dem Namen Haishenwai verzeichnen müssen. Insgesamt wenig erfreulich für Wladimir Putin.
- Eigene Recherche
- Miles Maochun Yu: "The 1969 Sino-Soviet Border Conflicts As A Key Turning Point Of The Cold War", in: Military History in the News, 2022 (The Hoover Institution)
- spiegel.de "Zwei Fronten"
- Sören Urbansky: "Grenze im Fluss. China - Russland: Das Echo des Territorialdisputs", in: Osteuropa, 65. Jg., 5–6/2015, S. 125–136
- Sören Urbansky: "An den Ufern des Amur Die vergessene Welt zwischen China und Russland", München 2021
- Klaus Mühlhahn: "Geschichte des modernen Chinas. Von der Quing-Dynastie bis zur Gegenwart", München 2021
- nzz.de: "Zwischen China und Russland gibt es eine 'grenzenlose Freundschaft'"