Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Kolumne "Russendisko" Das wird große Folgen haben
Der Anschlag auf die Crocus City Hall erschütterte Russland, das Regime nutzt den Schrecken für seine Zwecke. Die Auswirkungen ließen sich bereits jetzt spüren, meint Wladimir Kaminer.
Nach dem Anschlag bei Moskau, der mehr als 140 Menschen das Leben gekostet hat, haben die Sicherheitsorgane der Russischen Föderation der Öffentlichkeit elf Verdächtige präsentiert. Alle Festgenommenen sind Bürger der Republik Tadschikistan. Der Anschlag scheint die Führung im Kreml kalt erwischt zu haben.
Nach seiner Abkehr von Europa sucht Russland verstärkt nach neuen Freunden in der islamischen Welt. Hamas-Funktionäre wurden im Kreml empfangen, der Iran als enger Verbündeter gelobt und die afghanischen Taliban, die in Russland weiter offiziell als extremistische Organisation eingestuft sind, wurden zum Wirtschaftsforum "Russland ‒ Islamische Welt" eingeladen, das für Mitte Mai in Kasan geplant ist.
Zur Person
Wladimir Kaminer ist Schriftsteller und Kolumnist. Er wurde 1967 in Moskau geboren und lebt seit mehr als 30 Jahren in Deutschland. Zu seinen bekanntesten Werken gehört "Russendisko". Sein aktuelles Buch "Gebrauchsanweisung für Nachbarn" (mit Martin Hyun) ist gerade erschienen.
"Wir sitzen mit der Welt des Islams im gleichen Boot, wir rudern gegen den amerikanischen Imperialismus", sagte Präsident Putin sinngemäß. Deswegen glaube er, dass die Terroristen von der Nato, von ukrainischen Faschisten und deren Handlangern in Washington nach Moskau geschickt wurden. Es ist traurig und skurril zugleich, in diesen Tagen russische Politik zu kommentieren: Wie ein Blinder läuft das große Land durch einen Sumpf von Irritationen und glaubt, mit den Muslimen in einem Boot zu sitzen. Weiß der russische Präsident wirklich nicht, wie zerstritten die islamische Welt ist?
Der radikale Flügel der Terrororganisation Islamischer Staat (IS), der für das Attentat in Moskau die Verantwortung übernommen hat, ist mit den Taliban nicht befreundet und hält den Iran für einen noch größeren Feind als die USA. Und während die russische Führung mit ihrem Wunschfeind, dem Westen, kämpft, wird sie von einem real existierenden Feind geschlagen. Für die IS-Kämpfer ist Russland nämlich kein Freund des Islams, sondern ein Teil der "weißen Welt", der für den Tod von Hunderttausend Syrern verantwortlich sei und die Republiken Zentralasiens unterdrücke.
Verunsicherung allerorten
Aus Sicht des IS sind die Russen daran schuld, dass in Tadschikistan, Turkmenistan, Usbekistan, Kirgistan und Kasachstan die Frauen keine Kopftücher tragen und die Männer keinen Harem besitzen dürfen. Und warum müssen die Menschen in diesen Ländern die kyrillische statt arabische Schrift benutzen? Russland wurde als Opfer des Terroranschlags nicht zufällig ausgewählt. Das Land ist durch den Krieg und seine irre politische Führung geschwächt, die Menschen sind mehr und mehr verunsichert – und das wird große Folgen haben. Drei davon sind bereits zu vermerken.
Die erste Folge des Attentats war eine Welle der Xenophobie. Russland, ein alterndes Land, ist schon lange auf Arbeitsmigranten aus Zentralasien angewiesen, laut staatlich produzierter Statistik befinden sich zwischen sieben und zwölf Millionen Menschen aus den zentralasiatischen Republiken in Russland. Sie fegen und bauen Straßen, pflegen alte Menschen und sitzen an den Kassen der Supermärkte.
In den Herkunftsländern findet ab und zu ein Wandel statt. In den Jahren des hohen Ölpreises, als der Rubel noch etwas stabiler war, kamen hauptsächlich Menschen aus Usbekistan nach Russland. Heute sind es Tadschiken. Viele von ihnen arbeiten illegal, wohnen zu zwanzig Personen in einem Zimmer. Für ihre Arbeitgeber ist das von Vorteil: Diese rechtlosen Menschen sind vom Gesetz nicht geschützt, allerdings müssen sie als Gesetzlose das Gesetz auch nicht befolgen.
Die Einheimischen brauchen die Migranten und haben gleichzeitig Angst vor ihnen. Sollten die Migranten ihnen an die Gurgel gehen, wird die Polizei sie nicht einmal suchen. Das nährt die Fremdenfeindlichkeit der Russen, die ihre Straßen aber trotzdem nicht selbst fegen wollen. Gleich nach dem Attentat waren viele Tadschiken nach Hause gefahren, aus Angst vor Pogromen. Für eine kurze Zeit versank das Land im Müll, niemand fegte mehr und die Baustellen blieben still. Nach zwei Wochen merkten die Tadschiken, dass die Situation doch nicht so schlimm ist und kehrten zurück.
Putin hat sich völlig verrannt
Die zweite Folge des Attentates ist die voranschreitende Umverteilung der Vermögenswerte. Im Schatten des Krieges ist in Russland eine heftige Umverteilung in Gang gekommen. Zuerst wurden die Vermögenswerte der ausländischen Firmen, die Russland verlassen haben, enteignet und unter patriotischen Kapitalisten verteilt. Danach wurden die Vermögenswerte der Kriegsgegner, der russischen Migranten und der aus dem Land geworfenen Regimegegner umverteilt. Nun wird jedes Eigentum als unpatriotisch angesehen, besonders, wo etwas so schiefläuft wie in der Crocus City Hall. Alle sind gespannt, wer der neue Besitzer des Komplexes sein wird.
Die dritte Folge des Attentates ist eine Stärkung des repressiven Staatsapparats. Der Präsident rief die Sicherheitsorgane dazu auf, den Kampf gegen "Extremisten" und "Terroristen" zu intensivieren und zu beschleunigen. Letztes Jahr waren in Russland mehr als 3.000 Menschen wegen Terrorismus und Extremismus verurteilt worden, in erster Linie für Facebook-Einträge zum Krieg.
Schriftsteller und Musiker wurden als Extremisten eingestuft, Maler und Dichter für ein freies Wort wegen "Beihilfe zum Terrorismus" verhaftet. Und der Präsident gibt sich siegessicher in seinem Kampf "gegen die Nato", der nur in seinem Kopf stattfindet. Auf beiden Augen blind, marschiert das große Land ins Ungewisse und die Welt schaut verblüfft zu.