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Stefan Effenberg zur WM 2022 in Katar: "Wir erleben Debakel über Debakel"


Interview
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Effenberg zur DFB-Pleite
"Ein Gegner wie Spanien kommt uns entgegen"

InterviewVon Nils Kögler

Aktualisiert am 24.11.2022Lesedauer: 9 Min.
Hansi Flick ärgert sich: Scheidet das DFB-Team erneut in der Vorrunde einer Weltmeisterschaft aus?Vergrößern des Bildes
Hansi Flick ärgert sich: Scheidet das DFB-Team erneut in der Vorrunde einer Weltmeisterschaft aus? (Quelle: IMAGO/Moritz Mueller)

Deutschland hat das Auftaktspiel einer hochumstrittenen WM verloren. Im t-online-Interview erklärt Stefan Effenberg die Gründe, wirft einen Blick auf Stimmung und Niveau bei dem Turnier und bezieht klar Stellung gegenüber der Fifa.

Stefan Effenberg ist umgeben von Fans als er die 1:2-Niederlage der deutschen Nationalmannschaft im WM-Auftaktspiel gegen Japan verfolgt. In der t-online-Redaktion in Hamburg schaut er das Spiel zusammen mit einigen Leserinnen und Lesern. Doch während sich die meisten um ihn herum laut freuen und ärgern, verfolgt Effenberg das Spiel konzentriert, verliert kaum ein Wort.

Seine Worte hat sich Effenberg für nach dem Spiel aufgehoben. Im großen WM-Interview analysiert er die Schwächen der deutschen Mannschaft, unternimmt den Favoritencheck und übt scharfe Kritik an der Fifa.

t-online: Herr Effenberg, die deutsche Nationalmannschaft ist mit einer Niederlage gegen Japan in die WM gestartet, erneut droht das Aus schon in der Vorrunde. Was hat die Mannschaft falsch gemacht?

Stefan Effenberg: Ich habe vor allem zwei Probleme gesehen. Zum einen war es die mangelnde Effektivität in der Offensive. Wir haben zu viele Chancen liegen lassen und das 2:0 einfach nicht gemacht. Auf der anderen Seite waren wir in der Defensive deutlich zu instabil und haben den Japanern zu viele Chancen gestattet, die sie, anders als wir, dann genutzt haben.

Video | Effenberg kritisiert DFB-Elf nach WM-Auftakt
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Quelle: t-online

Fangen wir mit der defensiven Instabilität an. Welche Gründe haben Sie dafür ausgemacht?

Wir haben zu viele individuelle Fehler gemacht. Im Spielaufbau, gerade im Zentrum, hatten wir viele leichte Ballverluste, die Japan ermöglicht haben, ihre temporeichen Konter zu fahren. In solchen Spielen darf das nicht passieren.

Speziell in der zweiten Hälfte hat Deutschland die Kompaktheit verloren.

Absolut. Dafür mache ich auch die Auswechslungen verantwortlich. Ilkay Gündoğan hat nicht nur das Tor gemacht, sondern viel Sicherheit ins Spiel gebracht. Diese Sicherheit haben wir nach seiner Auswechslung verloren. Jamal Musiala war im Spiel nach vorne sehr kreativ. Wenn es gefährlich wurde, dann durch ihn. Auch das haben wir durch die Auswechslung hergegeben. Die Japaner haben es dann aber gut ausgespielt.

Deren Wechsel haben deutlich besser funktioniert.

Absolut. Sie haben offensiv gewechselt, viel Tempo und Qualität hereingebracht. Dadurch wurden sie gefährlich und man hat gespürt, dass das Spiel kippen kann. Genau das ist dann auch passiert.

Haben die Defensivspieler des DFB-Teams genug Qualität, um auf internationaler Bühne zu bestehen? Schlotterbeck hat etwa beim zweiten Gegentor keine gute Figur gemacht.

Das ist wohl wahr, das weiß er auch selbst. Bei einem langen Flugball kann man sich schon mal verschätzen, aber danach hätte er viel konsequenter im Zweikampf sein müssen, um das Tor zu verhindern. Nur an den Einzelspielern Schlotterbeck, Süle und Rüdiger in der Dreierkette hat es aber nicht gelegen. Die Mannschaft hat auch im Verbund nicht funktioniert. Japan hat im Gegensatz hervorragend im Kollektiv funktioniert und das hat den Unterschied ausgemacht.

Video | Effenberg trifft ehemaligen Lehrer
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Quelle: t-online

Bei der offensiven Effektivität stellt sich eine ähnliche Frage: Fehlt der deutschen Nationalelf da der Topstürmer oder war es heute einfach nur Pech?

Ein Stück weit war es Pech, ein Stück weit aber auch Unvermögen. Die Chancen waren da. Ich denke etwa an die 71. Minute, wo wir innerhalb von 15 Sekunden drei Torchancen hatten. Dann musst du halt das zweite Tor machen. Das haben wir nicht geschafft, und dann haben eben auch die vermeintlich "kleinen" Mannschaften mittlerweile genug Qualität, um das Spiel zu drehen.

Die Japaner waren nicht die Ersten, die das unter Beweis gestellt haben.

Stimmt. Auch Marokko, Tunesien und Saudi-Arabien haben toll gespielt. Viele Länder, die du noch vor 15 oder 20 Jahren mit drei, vier Toren geschlagen hast, können mittlerweile auch richtig guten Fußball spielen. Das sind nicht mehr irgendwelche Mannschaften, wo du die drei Punkte sicher hast. Die Spitze im Weltfußball ist ganz, ganz eng zusammengerückt.

Und trotzdem: Wenn schon Japan in der Lage ist, Deutschland zu schlagen, was blüht dem DFB-Team dann gegen Spanien?

Wir stehen jetzt schon mit dem Rücken zur Wand. Ein Unentschieden zwischen Spanien und Costa Rica wäre ideal gewesen. Durch den Sieg der Spanier stehen wir vor einem Alles-oder-nichts-Spiel. Aber das haben wir uns selbst zuzuschreiben.

Die Spanier haben Costa-Rica mit 7:0 vom Platz gefegt. Was macht da überhaupt noch Hoffnung auf ein Weiterkommen?

Erstens: Wenn jemand mit Druck umgehen kann, dann ist das die deutsche Nationalmannschaft. Zweitens kommt ein Gegner wie Spanien uns entgegen. Die Spanier werden viel offensiver spielen als die Japaner und selbst versuchen, das Spiel zu bestimmen. Das gibt uns die Möglichkeit, die Partie aus einer defensiveren Grundordnung anzugehen und im Umschaltspiel Chancen zu kreieren. Ich würde jetzt noch nicht anfangen, komplett schwarzzusehen. Das dürfen Hansi Flick und die Jungs auch nicht.

Die Favoriten auf den Turniersieg sind dennoch sicherlich andere. Die Engländer haben gegen den Iran überzeugt. Sind sie die Topfavoriten?

England stand nicht umsonst letztes Jahr im Europameisterschaftsfinale. Die Mannschaft hat eine enorme Entwicklung hingelegt und ist reifer geworden. Auch bei den Engländern sehe ich aber gewisse Schwächen in der Defensive, wenn sie gefordert werden. Das wurden sie gegen den Iran noch nicht. Man sollte nicht gleich in Extreme verfallen. Ja, die Engländer haben überzeugt, aber da kommen noch schwierige Spiele. Abwarten.

Und der Titelverteidiger Frankreich?

Die Franzosen haben zahlreiche Ausfälle zu verkraften – darunter Weltklassespieler wie Karim Benzema und Paul Pogba. Auf der anderen Seite hat der Kader immer noch enorme Qualität und auch viele junge Spieler von Weltklasseformat. Als Titelverteidiger reisen sie zudem mit einem gewissen Selbstvertrauen an. Ich lege mich fest: Frankreich und England werden beide in die K.o.-Runde einziehen.

Kann Argentinien nach der Niederlage gegen Saudi-Arabien schon von der Favoritenliste gestrichen werden?

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Argentinien ist es ähnlich wie Deutschland ergangen. Sie sind durch einen Elfmeter in Führung gegangen, danach haben sie es verpasst, ihre Führung auszubauen. Zur Halbzeit hätte es auch 3:0 stehen können. Dann kam auf einmal nicht mehr viel, und Saudi-Arabien hat seine Möglichkeiten perfekt ausgespielt. Für Argentinien ist es aber noch nicht vorbei. Polen und Mexiko haben nur unentschieden gespielt. Das war das Beste, was den Argentiniern passieren konnte.

Was geht jetzt in Messi vor? Es ist seine letzte große Chance, die Weltmeisterschaft zu gewinnen, und das Turnier startet mit einer Niederlage.

Der Mann steht enorm unter Druck. Er konnte zwar schon die Copa América gewinnen, und das ist auch ein großer Titel. Jemand wie Messi wird aber an der Weltmeisterschaft gemessen, und das ist ihm, Stand heute, noch nicht gelungen. Diese Herausforderung kann aber auch Motivation für ihn sein, um das Turnier noch herumzureißen.

Wie nehmen Sie die Stimmung bei diesem Turnier im Allgemeinen wahr? Die Stadien sind meist nicht voll, im Eröffnungsspiel haben sich die Ränge schon zur Halbzeit rasend schnell geleert. Kommt da bei Ihnen Weltmeisterschaftsfeeling auf?

Nein, nicht wirklich. Das hat man bei dem Spiel der deutschen Mannschaft auch gesehen. Da gab es Phasen, wo es so still war, dass man einzelne Pfiffe hören konnte. So etwas hat es bei Weltmeisterschaften in Brasilien oder Deutschland nicht gegeben. Da war die Stimmung bis zur letzten Minute bombastisch. In Katar ist alles ein bisschen künstlich, aber wir wussten vorher, dass wir nicht die Stimmung erleben werden, die wir bei einer Weltmeisterschaft gerne hätten.

Wie ist es denn aus Ihrer Sicht um die spielerische Qualität bestellt?

Ich glaube, es gab noch nie zuvor eine WM, wo die Mannschaften vom spielerischen Niveau her so eng beieinander waren wie bei diesem Turnier. Das liegt daran, dass es die "kleinen" Mannschaften nicht mehr gibt. Länder, die früher keine Rolle gespielt haben und nach der Vorrunde die Heimreise antreten mussten, spielen jetzt auf einem ganz anderen Level. Die letzten Spiele haben das gezeigt. Diese Mannschaften spielen mit einer großen Leidenschaft. Das steigert die Qualität enorm.

Kann denn eins der ehemals "kleinen" Teams den ganz großen Wurf schaffen?

Nein. Es wird so ähnlich laufen wie in der Champions League. Da schlägt Villarreal auch mal den FC Bayern. Von Runde zu Runde wird die Qualität aber immer besser, die Luft dünner, und dann reicht es irgendwann nicht mehr. Dass ein Außenseiter bei dieser WM für ein Wunder sorgen kann, glaube ich nicht.

Überschattet wird die WM von zahlreichen Diskussionen um die politischen Zustände im Gastgeberland Katar. Zuletzt hat das Verbot der "One Love"-Binde die Gemüter erhitzt. Wie haben Sie den DFB in dieser Diskussion wahrgenommen?

Grundsätzlich habe ich mich erst mal darüber gefreut, dass der DFB mit der Idee der Binde klar Stellung bezogen hat und auch bereit war, Geldstrafen, in welcher Höhe auch immer, zu akzeptieren. Das finde ich sehr beeindruckend.

Als die Fifa mit sportlichen Konsequenzen drohte, wurde jedoch beschlossen, die Binde doch nicht zu tragen. Viele haben das als "Einknicken" betrachtet.

Ich glaube, dass es auch ohne die Binde im Turnierverlauf genügend Gelegenheiten geben wird, für unsere Werte einzustehen. Die Deutschen haben das im Spiel gegen Japan gut gemacht, als sie sich auf dem Mannschaftsfoto den Mund zugehalten haben. Ich glaube, auch das ist ein Zeichen, das in der Welt ankommt.

Aber sollten die Spieler nicht auch sportliche Konsequenzen in Kauf nehmen, wenn sie ernsthaft für ihre Werte einstehen wollen?

Nein, die Spieler haben damit doch eigentlich gar nichts zu tun. Die Jungs haben ihr ganzes Leben hart trainiert und viel geopfert, um in ihrem Sport erfolgreich zu werden. Jetzt wurden sie für die Nationalmannschaft nominiert und haben die einzigartige Gelegenheit, bei einer Weltmeisterschaft zu spielen. Dann sollten sie sich auch darauf konzentrieren dürfen, die Spiele erfolgreich zu bewerkstelligen. Die Spieler können doch nichts dafür, dass das Turnier 2010 – also vor zwölf Jahren – nach Katar vergeben wurde.

Damals waren die meisten von ihnen selbst noch Kinder.

Genau! Und trotzdem haben sie sich dazu entschlossen, mit der Geste beim Mannschaftsfoto ein Zeichen zu setzen. Das ist doch gut. Es sollte jedoch hauptsächlich in der Verantwortung der DFB-Verantwortlichen wie Bernd Neuendorf und Oliver Bierhoff liegen, sich um die Politik zu kümmern und Worten jetzt auch Taten folgen zu lassen.

Zum Beispiel die Fifa vor Gericht zu bringen, wie es der DFB jetzt plant?

Ja, auch das ist doch ein ganz deutliches Zeichen. Jetzt muss der DFB das jedoch konsequent weiterverfolgen und die Öffentlichkeit über jeden weiteren Schritt unterrichten. Sollte die Klage scheitern, darf der DFB trotzdem nicht aufgeben und muss weitere Wege finden.

Wie würden Sie Ihre eigene Haltung gegenüber der Fifa denn beschreiben?

Seit zwölf Jahren erleben wir bei der Fifa Debakel über Debakel. Die Vergabe der WM nach Katar hätte es nie geben dürfen, so wie es auch die WM in Russland nicht hätte geben dürfen. Die Fifa zeigt, dass Geld für sie die entscheidende Rolle spielt. Wenn ich dann sehe, wie sich Gianni Infantino auf der Pressekonferenz vor Turnierstart präsentiert hat, schüttele ich nur noch den Kopf. In der Zukunft müssen einfach Veränderungen her.

Schon jetzt steht aber fest, dass Infantino bei der nächsten Fifa-Präsidentenwahl im März wiedergewählt werden wird. Er hat genug Unterstützung und es gibt keinen Gegenkandidaten. Was muss passieren, damit sich etwas ändert?

Die Fifa ist eine Welt für sich. Die Spitzen verstehen es unglaublich gut, sich selbst zu schützen. Von dem, was da intern abläuft, dringt vermutlich nur ganz wenig nach draußen. Deshalb müssten die Verbände endlich mal gemeinsame Sache machen und geschlossen ein Zeichen gegen die Fifa setzen. Bislang wurde aber nur viel gedroht und angedeutet. Am Ende haben dann aber doch wieder alle den Schwanz eingezogen.

Auch der DFB. Der hat zwar angekündigt, Infantino nicht zu unterstützen, ein Gegenkandidat wurde aber auch nicht aufgestellt.

Genau das meine ich. Alle Verbände müssten eigentlich zusammenstehen und einen Gegenkandidaten aufstellen, aber Einigkeit wird es nie geben. Es ist wie immer in der Politik: Es gibt unterschiedliche Lager, die ihre eigenen Interessen verfolgen und diese auch durchsetzen wollen. Ob es wirklich möglich ist, einen Gegenkandidaten aufzustellen und durchzusetzen, wage ich leider Gottes zu bezweifeln – so bitter das auch ist.

Besondere sportliche Momente, wie der emotionale Sieg Saudi-Arabiens gegen Argentinien, machen eigentlich eine Weltmeisterschaft aus. Aktuell hat man jedoch das Gefühl, sie verkommen zur Nebensache. Verderben Ihnen diese ganzen Kontroversen die Freude am Fußballgucken?

Nein. Sobald die Nationalhymnen gespielt werden und der Ball rollt, bin ich auch voll beim Spiel und nehme historische Momente wie den Sieg Saudi-Arabiens gegen Argentinien auch als das wahr, was sie sind. Das verkommt nicht zur Nebensache.

Ein Boykott kam für Sie nicht infrage?

Ich sehe die Probleme und ich habe meine Meinung dazu. Die Vergabe der WM an Katar war schlichtweg falsch, aber mein Leben ist Fußball. Ich trenne die Spiele und die Politik voneinander, und für die Politik sind die Verbände zuständig. Wenn jemand dazu nicht bereit ist und die WM boykottieren will, respektiere ich das vollkommen. Jeder muss da seine eigene Entscheidung treffen. Ich schaue mir die Spiele aber alle an. Das ist übrigens auch Teil meines Jobs.

Herr Effenberg, vielen Dank für das Gespräch.

Transparenzhinweis
  • Stefan Effenberg ist Botschafter des FC Bayern München und sagt dazu: „Ich repräsentiere den FC Bayern, insbesondere im Ausland. Mein Engagement hat keinen Einfluss auf meine Kolumnen bei t-online. Hier setze ich mich weiterhin kritisch und unabhängig mit dem Fußball auseinander — auch und insbesondere mit dem FC Bayern.“
Verwendete Quellen
  • Interview mit Stefan Effenberg am 23.11.2022
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